| # taz.de -- Aus „Le Monde diplomatique“: Kalte Regeln | |
| > Die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union verhindert Solidarität. | |
| > Dabei gibt es genug Lösungsansätze wie Botschaftsasyl und legale | |
| > Migration. | |
| Bild: Um Asyl in der EU zu bekommen, muss man zuerst illegal und gefährlich ei… | |
| Mit einer einzigen Entscheidung hätte der Europäische Gerichtshof (EuGH) im | |
| März 2017 die Flüchtlingspolitik der gesamten Europäischen Union | |
| schlagartig ändern können. Eine syrische Flüchtlingsfamilie hatte in der | |
| belgischen Botschaft in Beirut ein Einreisevisum in die EU beantragt und | |
| gegen die anschließende Ablehnung ihres Antrags geklagt. Der Fall war | |
| brisant: Wären die Familienmitglieder bei der Antragstellung bereits auf | |
| belgischem Boden gewesen, wären sie wahrscheinlich als Flüchtlinge | |
| anerkannt worden. So aber wurde ihnen, wie in solchen Fällen üblich, die | |
| Möglichkeit auf ein humanitäres Visum verwehrt. Es stand viel auf dem Spiel | |
| für Schutzsuchende aus der ganzen Welt. War die Ablehnung durch die | |
| belgischen Behörden rechtswidrig? | |
| Die EU-Richter zogen sich aus der Affäre. Obwohl sogar EU-Generalanwalt | |
| Paolo Mengozzi sich in seinem Schlussantrag dafür aussprach, bestimmten | |
| Flüchtlingen aus humanitären Gründen ein Visum auszustellen, erklärte sich | |
| der EuGH für nicht zuständig. Um humanitäre Visa müssten sich, wenn es sie | |
| denn geben sollte, die einzelnen Mitgliedstaaten selbst kümmern. Dabei war | |
| der Gerichtshof bei anderen Asylfragen nicht so schüchtern, auch | |
| weitreichende Urteile zu sprechen. | |
| Mit dem Votum des obersten EU-Gerichts bleibt die Flüchtlingspolitik der EU | |
| ein paradoxes Konstrukt: Um eine Chance auf Asyl zu haben, muss man sich | |
| auf europäischem Territorium oder an der Grenze befinden. Ein Recht auf | |
| Einreise gibt es aber nicht. Asyl können deswegen nur Menschen beantragen, | |
| die mit dem illegalen Grenzübertritt automatisch zu Rechtsbrechern werden. | |
| „Asyldarwinismus“ nennt das die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl: Nur | |
| wer den Nato-Draht an den EU-Außengrenzen überwindet oder den Weg über das | |
| Mittelmeer überlebt, darf Schutz erhalten. Alle anderen nicht. Dabei gibt | |
| es Alternativen zur jetzigen Flüchtlingspolitik, die nicht nur | |
| Schutzsuchenden, sondern auch anderen Migranten legale Zufluchtswege | |
| garantieren können. | |
| „Das Urteil des Gerichtshofs hat den Mitgliedstaaten zwar nicht den Weg | |
| versperrt, einzelnen Flüchtlingen humanitäre Visa nach nationalem Recht zu | |
| erteilen, damit sie in die EU einreisen können“, sagt die Völkerrechtlerin | |
| Pauline Endres de Oliveira, die an der Universität Gießen zum europäischen | |
| Asylrecht forscht. „Vermutlich werden sich die Mitgliedstaaten aber eher | |
| auf dem Urteil ausruhen.“ | |
| Würden sie sich stattdessen an dem Konzept orientieren, das das dänische | |
| Menschenrechtszentrum bereits 2002 vorgeschlagen hat und das ins | |
| Wahlprogramm der spanischen Linkspartei Podemos aufgenommen wurde, könnten | |
| Menschen auf der ganzen Welt in ihrem Heimat- oder Nachbarland Asylanträge | |
| stellen – und zwar in den Botschaften von EU-Mitgliedstaaten. Nach | |
| verkürzter Prüfung könnten sie dann ein Einreisevisum erhalten, um | |
| anschließend Asylstatus oder zumindest ein Bleiberecht zu erlangen. Wenn | |
| etwa die deutsche Botschaft in Nigeria Asylanträge nach Deutschland | |
| weiterleiten würde, müssten sich potenzielle Flüchtlinge aus | |
| Subsahara-Afrika – darunter auch Frauen und Kinder – nicht mehr in die | |
| Hände von Schmugglern begeben, den Weg übers Mittelmeer wagen und auch | |
| nicht die Tenéré-Wüste in Niger durchqueren, wo jedes Jahr noch mehr | |
| Flüchtlinge sterben als im Mittelmeer. | |
| ## Botschaftsasyle wären eine Lösung | |
| Botschaftsasyle waren früher durchaus üblich und bis vor kurzem zum | |
| Beispiel in Schweizer Auslandsvertretungen möglich. 2013 schaffte das Land | |
| diese Möglichkeit aber ab. Frankreich stellt in Ausnahmefällen zumindest in | |
| Auslandsvertretungen humanitäre Visa aus. Brasilien wies 2013 seine | |
| Konsulate im Nahen Osten an, Einreisevisa für Asylsuchende aus Syrien | |
| auszustellen. | |
| Im Visakodex der EU könnten humanitäre Asylverfahren festgelegt werden. Das | |
| wäre zwar aufwendig und teuer für auswärtige Dienste, könnte aber auch | |
| unter Sicherheitsaspekten von Vorteil sein: Werden Asylanträge schon im | |
| Herkunftsland bearbeitet, erspart man sich die Sicherheitsüberprüfung im | |
| Zielland. Botschaftsasyle können schon jetzt von jedem EU-Staat individuell | |
| eingeführt werden. Für eine EU-weite Lösung müsste sich die Union | |
| allerdings auf ein gemeinsames Asylverfahren für den gesamten Raum einigen | |
| statt wie bisher nur auf Mindeststandards. Der existiert allerdings trotz | |
| vieler Konzepte bis heute nicht. | |
| Damit müsste die Europäische Union nämlich akzeptieren, dass eine nicht | |
| definierte Anzahl von Schutzsuchenden nach Europa kommt. Die EU-Politik | |
| legt den Fokus stattdessen auf die Etablierung sogenannter Hotspots, die | |
| die kontrollierte Einreise in die EU suggerieren. Nicht in den | |
| Herkunftsländern von Flüchtlingen, sondern an den EU-Außengrenzen sollen | |
| Aufnahmezentren oder „Auffanglager“ entstehen, in denen Flüchtlinge | |
| Asylanträge stellen können. | |
| Für ein solches Konzept hat sich seinerzeit schon SPD-Innenminister Otto | |
| Schily starkgemacht, und heute treibt es Frankreichs Präsident Emmanuel | |
| Macron auf Flüchtlingsgipfeln voran. Dabei ist zu befürchten, dass diese | |
| Lager – besonders wenn sie in instabilen Staaten wie Libyen entstehen – | |
| letztlich zu riesigen Flüchtlingslagern würden. Ob die Rechtsstaatlichkeit | |
| der Asylverfahren abseits der europäischen Öffentlichkeit gesichert wäre | |
| und dann tatsächlich alle Menschen nach Europa einreisen dürften, die einen | |
| Anspruch auf Asyl haben, ist zu bezweifeln. | |
| Es ist aber ohnehin sehr unwahrscheinlich, dass offizielle Auffanglager | |
| außerhalb der EU tatsächlich entstehen. „Bei all diesen Plänen müsste neb… | |
| der Beachtung menschenrechtlicher Verpflichtungen und Standards unter | |
| anderem geklärt werden, nach welchem Verteilungsmechanismus die Flüchtlinge | |
| in welche Länder weiterreisen dürften“, sagt Endres de Oliveira. | |
| Für ein solidarisches Asylmodell müssten sich die EU-Staaten zunächst auf | |
| eine Verantwortungsteilung einigen. Dass die Verteilung von Flüchtlingen | |
| innerhalb der EU bisher nur äußerst stockend funktioniert, zeigt sich an | |
| den laufenden Notprogrammen: Von September 2015 bis Juli 2017 bekamen | |
| weniger als 25.000 Flüchtlinge, die in Italien und Griechenland registriert | |
| wurden, Bleiberecht in einem anderen EU-Staat. Österreich, Polen und Ungarn | |
| nahmen gar keine Flüchtlinge auf, Tschechien und die Slowakei gerade einmal | |
| je ein Dutzend. Gegen feste Verteilungsquoten, die sich an Größe und | |
| Wirtschaftskraft der Mitgliedstaaten orientieren, sperren sie sich. | |
| ## Wer hilft, muss zahlen | |
| Auch Deutschland, das sich beim Thema Flüchtlinge gern als humanitäres | |
| Gegenmodell präsentiert, tut wenig für eine solidarische Lösung: Gegen ein | |
| verpflichtendes Verteilungsprogramm wehrte sich bei Verhandlungen zur | |
| Dublin-III-Verordnung vor allem Berlin. Auch die Entwürfe zur | |
| [1][Dublin-IV-Verordnung [1]] sehen keinen Verteilungsmechanismus, sondern | |
| nur weitere Verschärfungen des Asylrechts vor. Flüchtlingsorganisationen | |
| fordern deswegen bereits die Abschaffung der Dublin-Verordnung. | |
| Einstweilen gilt auf den Fluchtrouten wie im Mittelmeer weiterhin das | |
| Verursacherprinzip: Wer Flüchtlinge rettet, muss auch ihr Asylverfahren | |
| garantieren. In anderen Bereichen wären derart unsolidarische Vorschriften | |
| unvorstellbar. Müssten Nothelfer zum Beispiel bei Verkehrsunfällen | |
| automatisch auch für die Krankenhausbehandlung aufkommen, würden | |
| Unfallstellen vermutlich weiträumig umfahren werden. | |
| Während über Auffanglager an EU-Außengrenzen noch diskutiert wird, | |
| existieren auf der ganzen Welt längst tausende Mini-Hotspots, die kein | |
| Mensch infrage stellt. An allen internationalen Flughäfen ist die | |
| Grenzkontrolle nämlich vorgelagert – und teilweise privatisiert. | |
| Fluggesellschaften prüfen ohne nennenswerte öffentliche Kontrolle und wenig | |
| transparent, ob Fluggäste berechtigt sind, in die EU einzureisen. Dabei | |
| macht es in der Regel keinen Unterschied, ob Menschen Asyl suchen oder | |
| nicht – nur wer Einreisedokumente hat, darf einreisen, alle anderen nicht. | |
| Das hält viele politisch Verfolgte von einer Einreise per Flugzeug ab, da | |
| sie sich oft keine Reisedokumente beschaffen können. | |
| Zu diesen Kontrollen sind Fluggesellschaften nach einer EU-Richtlinie | |
| angehalten. Befördern sie Menschen in die EU, die nicht die erforderlichen | |
| Dokumente besitzen, müssen sie für deren Rücktransport sorgen und riskieren | |
| hohe Geldstrafen, sogenannte Carrier Sanctions. Die führen dazu, dass | |
| Fluggesellschaften im Zweifel eher mehr Menschen von einem Flug abhalten. | |
| Dabei erwähnt die Richtlinie auch, dass die Genfer Flüchtlingskonvention | |
| nicht beeinträchtigt werden darf. Heißt: Flüchtlinge dürfen theoretisch | |
| nicht vom Flug abgehalten werden. | |
| Darauf machte 2015 die schwedische Initiative Refugee Air aufmerksam: Sie | |
| kündigte an, ein eigenes Flugzeug zu chartern und damit Flüchtlinge in die | |
| EU zu bringen. Statt Schmugglern tausende Euro zu geben, sollten sie sicher | |
| nach Schweden einreisen können, um dort Asyl zu beantragen. Ein Jahr später | |
| wollten auch die Künstler vom Zentrum für Politische Schönheit im Rahmen | |
| der Aktion „Flüchtlinge fressen“ eine Chartermaschine mit Flüchtlingen an | |
| Bord nach Deutschland bringen. Doch das Bundesinnenministerium machte Druck | |
| auf den Betreiber Air Berlin, sodass der Flug abgesagt wurde. Refugee Air | |
| war hingegen teilweise erfolgreich: Zwar wurde auch bei ihnen aus den | |
| Charterflügen nichts, aber die schwedische Regierung kündigte zumindest an, | |
| in einem Umsiedlungsverfahren 5000 Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen. | |
| Sowohl einzelne Mitgliedstaaten als auch die EU insgesamt haben in den | |
| vergangenen Jahren immer wieder befristete Umsiedlungsverfahren ins Leben | |
| gerufen, die von der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR koordiniert werden. | |
| Sie sollen bestimmten Flüchtlingen aus Syrien und anderen Krisenstaaten die | |
| Einreise in die EU ermöglichen und ihnen eine langfristige Perspektive in | |
| der EU bieten. Insbesondere bei der deutschen Regierung sind solche | |
| Resettlement-Programme beliebt, weil sie damit Tatkraft in humanitären | |
| Notsituationen demonstrieren kann, ohne den im Grundgesetz verankerten | |
| individuellen Asylanspruch prüfen zu müssen. Das hat für die Regierungen | |
| den Vorteil, dass sie selbst entscheiden, in welcher Anzahl und nach | |
| welchen Kriterien Menschen einreisen dürfen. Einen Anspruch auf Teilnahme | |
| an den Programmen gibt es nicht – unabhängig davon, ob jemand als | |
| Flüchtling anerkannt würde oder nicht. | |
| Eine neue Resettlement-Verordnung könnte über die temporären Programme | |
| hinaus jährliche Aufnahmequoten für die EU-Mitgliedstaaten festlegen. | |
| Außerdem könnten Programme gefördert werden, innerhalb derer Privatpersonen | |
| Bürgschaften für Flüchtlinge übernehmen. Die Resettlement-Programme zeigen, | |
| dass kein EU-Mitglied auf andere warten muss, um zu handeln. Bislang liegt | |
| die Entscheidung darüber, wer daran teilnehmen darf, beim UNHCR. In Zukunft | |
| soll Resettlement jedoch zu einem Mittel der EU-Außenpolitik werden. | |
| Theoretisch könnten über die Resettlement-Quoten auch Menschen einreisen, | |
| die ohnehin Anspruch auf Asyl in der EU hätten, etwa im Rahmen der | |
| Familienzusammenführung. Bisher können allerdings nur Ehepartner, | |
| minderjährige Kinder oder die Eltern eines minderjährigen Flüchtlings – | |
| nicht aber erwachsene Geschwister, Töchter und Söhne oder Großeltern – ein | |
| Visum zum Familiennachzug beantragen. Da viele Asylsuchende auch aus Syrien | |
| derzeit nur subsidiären Schutz erhalten, dürfen nach einer Sonderregelung | |
| der Bundesregierung eigentlich keine Verwandten nachziehen. | |
| Damit werden Familien auseinandergerissen, aber auch anerkannte | |
| Migrationstheorien ignoriert. Netzwerktheorien gehen davon aus, dass | |
| Familien eine zentrale Rolle beim Entschluss spielen, ein Land zu | |
| verlassen, um woanders Schutz oder Arbeit zu finden. Auch die Entscheidung | |
| für ein bestimmtes Zielland geht nicht allein auf die viel diskutierten | |
| [2][„Push“- und „Pull“-Faktoren [2]] zurück. | |
| Die Schweiz zeigte 2013, wie ein progressives Familiennachzugsmodell | |
| aussehen kann: Sie ermöglichte es in der Schweiz lebenden Syrern zumindest | |
| für einige Monate, auch Verwandte außerhalb der Kernfamilie (Großeltern, | |
| Enkel oder Geschwister) aus dem Krisengebiet herauszuholen. Außerdem wurde | |
| die Bürokratieschwelle gesenkt: Wenn jemand aus Kriegsgründen keine | |
| Urkunden nachweisen konnte, reichte eine „glaubhafte Versicherung“ der | |
| Verwandtschaft. 3749 Visa wurden auf diesem Weg ausgestellt. Das Programm | |
| wurde allerdings schnell wieder eingestellt – aus Angst vor zu vielen neuen | |
| Asylbewerbern. Auch in anderen Ländern stehen Notprogramme vor dem Aus. | |
| Solange legale Fluchtwege fehlen, bleibt der Fokus auf der Notrettung, | |
| zumal auf dem Mittelmeer. Anstatt dort zu helfen, geht die EU aber auf | |
| Konfrontationskurs zur Zivilgesellschaft. Seit August 2017 bedroht die | |
| EU-finanzierte libysche Küstenwache Helfer im Mittelmeer. Das Schiff von | |
| Jugend Rettet wurde sogar von italienischen Strafbehörden festgesetzt. Die | |
| zivilen Seenotretter ankern dicht gedrängt an den Kais der maltesischen | |
| Hauptstadt Valetta: das Rettungsschiff der Migrant Offshore Aid Station, | |
| ein paar hundert Meter weiter die „Seefuchs“ der Organisation Sea-Eye, kurz | |
| dahinter die „Sea Watch 2“. | |
| Die Nichtregierungsorganisationen haben in den vergangenen Jahren nicht nur | |
| tausende Menschen vor dem Ertrinken bewahrt, sondern auch die | |
| Öffentlichkeit wachgerüttelt und auf das Versagen der EU aufmerksam | |
| gemacht. „Wir wollten zeigen, dass man auch mit wenigen Ressourcen das | |
| Sterben stoppen kann“, sagt Pauline Schmidt von Jugend Rettet. „Wir haben | |
| bewiesen, dass auch ein paar unerfahrene Jugendliche eine solche Mission | |
| auf die Beine stellen können.“ | |
| Statt ihnen für ihren Einsatz zu danken, erklärte die EU-Grenzschutzagentur | |
| Frontex – unterstützt vom deutschen Innenminister – die NGOs zum | |
| Sicherheitsrisiko, das Migranten anlocke. Inzwischen macht die EU in | |
| Kooperation mit libyschen Milizen den Fluchtkorridor im Mittelmeer dicht. | |
| Während die EU die zivilen Retter im Stich lässt, investiert sie in die | |
| Aufrüstung der Grenze. So vergab Frontex zwischen 2012 und 2015 Aufträge | |
| für die Grenzsicherung in Höhe von 29,2 Millionen Euro an private | |
| Unternehmen. Und auch Staatsunternehmen wie die Bundesdruckerei verdienen | |
| an den Flüchtlingen. Der Konzern mit Sitz in Bonn hat jüngst von Marokko | |
| einen Auftrag zur Entwicklung und Umsetzung eines „nationalen | |
| Grenzkontrollsystems“ erhalten. Im Gegenzug erklärt sich Marokko damit | |
| einverstanden, dass die biometrischen Daten von den neuen Hightechgrenzen | |
| mit Informationen über abgeschobene Flüchtlinge abgeglichen werden. | |
| ## Den größten Nutzen hat die Sicherheitsindustrie | |
| Das steht in Einklang mit der Politik der EU-Kommission. Deren | |
| Generaldirektion für Migration und Inneres, die auch für Asyl zuständig | |
| ist, verfolgt das ausdrückliche Ziel, die Sicherheitsindustrie zu fördern. | |
| Auf ihrer Website erklärt das Haus von EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos, | |
| man wolle unter anderem durch Forschungsaufträge Maßnahmen ergreifen, „um | |
| die marktführende Position der EU-Unternehmen in den kommenden Jahren zu | |
| sichern“. Damit verliert die Asylpolitik ihre Autonomie, sie wird – wie | |
| seit Bestehen der gemeinsamen europäischen Außengrenze erkennbar – fast | |
| automatisch mit sicherheits- und wirtschaftspolitischen Aspekten vermengt. | |
| Waren in den 1960er Jahren noch Arbeits- und Kultusminister für Migration | |
| zuständig, übernahmen bis in die 1980er Jahre die Innenminister das | |
| Themenfeld. Sie sorgten zusammen mit Bundeskanzler Helmut Kohl dafür, dass | |
| der Vertrag von Maastricht 1993 eine effektive Zusammenarbeit der | |
| EU-Staaten zur Migrationskontrolle vorsah. Mit den Dubliner Verordnungen | |
| wurde in den darauffolgenden Jahren die Bearbeitung von Asylanträgen in | |
| Europa fast ausschließlich auf die Grenzstaaten in Südeuropa abgewälzt. | |
| Fortan wurden Migration, Terrorabwehr, Grenzschutz und Kampf gegen | |
| organisierte Kriminalität in einem Atemzug genannt – und das politische | |
| Asyl fiel dem Sicherheitsdenken zum Opfer. 1998 zog die österreichische | |
| Ratspräsidentschaft eine Verbindung zwischen illegaler Immigration und | |
| Asyl, um für das Fingerabdruckidentifizierungssystem Eurodac zu werben. So | |
| hieß es in einem geleakten Regierungspapier: „In den vergangenen Jahren hat | |
| der starke Anstieg der Zahlen illegaler Immigranten (und damit potenzieller | |
| Asylbewerber) gezeigt, dass ihre Fingerabdrücke im System gespeichert | |
| werden müssen.“ | |
| Solange es kein Einwanderungsgesetz gibt, werden potenzielle | |
| Arbeitsmigranten weiterhin versuchen, über ein Asylverfahren in die | |
| EU-Länder zu gelangen. Bisher können nur Höchstqualifizierte ein | |
| Arbeitsvisum für die EU erhalten. Doch die Agrarpolitik der EU, die | |
| unterschiedlichen Probleme in den Herkunftsländern und die globale | |
| Erderwärmung werden weiter dafür sorgen, dass vor allem auch weniger | |
| qualifizierte Menschen in die EU einreisen wollen. | |
| Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) hat den | |
| EU-Staatschefs umfassende Vorschläge für temporäre Arbeitserlaubnisse | |
| unterbreitet. Ein Modell könnten die Verträge für Saisonarbeiter aus | |
| Lateinamerika sein, die regelmäßig zur Ernte nach Spanien einreisen, oder | |
| die befristete Aufenthaltserlaubnis für Reisen zur medizinischen | |
| Behandlung. Zahlreiche Hochschulen setzen sich dafür ein, dass mehr Visa | |
| für Studierende und Wissenschaftler vergeben werden. | |
| Nach den offiziellen Positionen der EU zu urteilen, müsste es möglich sein, | |
| derartige Regelungen zu treffen. Schließlich will sie nach eigener Aussage | |
| langfristig neue Regeln für legale Migration etablieren und eine auf | |
| Solidarität ausgerichtete Asylpolitik aller Mitgliedstaaten schaffen. Doch | |
| das sind wohl alles nur Lippenbekenntnisse, wie die Debatten über die | |
| Dublin-Verordnung zeigen. Bei deren Weiterentwicklung geht es zuerst und | |
| vor allem darum, möglichst wenige Menschen nach Europa einreisen zu lassen. | |
| Einige europäische Linke setzen sich hingegen bereits für einen anderen | |
| Ansatz ein. Im Februar 2017 mobilisierte Ada Colau, die Bürgermeisterin von | |
| Barcelona, 160 000 Menschen, die unter dem Motto „Wir wollen sie willkommen | |
| heißen“ für eine humanitäre Flüchtlingspolitik auf die Straße gingen. Die | |
| Kundgebung endete am Strand von Barcelona vor der „Anzeige der Schande“, | |
| einem Denkmal für die Menschen, die in den vergangenen Jahren im Mittelmeer | |
| ertrunken sind. Eine Anzeigetafel zeigt die aktuelle Zahl der Flüchtlinge, | |
| die seit Jahresbeginn beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, gestorben | |
| sind, darunter steht: „Es ist nicht nur eine Zahl“. | |
| Während in anderen Ländern fremdenfeindliche Parteien und Bewegungen | |
| Stimmung gegen Zuwanderer machen, will Barcelona die Asyldebatte von | |
| Sicherheitsfragen loslösen und einen Diskurs über Menschenrechte und | |
| Solidarität anstoßen. Konzepte und Gesetzesinitiativen für Botschaftsasyle | |
| und humanitäre Visa, geteilte Verantwortung, Resettlement-Programme, | |
| erleichterte Arbeitsmigration und Bekämpfung von Fluchtursachen liegen seit | |
| Jahren oder sogar Jahrzehnten vor. Sie müssten nur beschlossen und | |
| umgesetzt werden. | |
| ## Fußnoten | |
| [1] | |
| Die Dublin-Verordnungen regeln die Zuständigkeit der EU-Mitgliedstaaten für | |
| die Durchführung von Asylverfahren. Die Vorschläge der EU-Kommission zu | |
| Dublin IV vom Mai 2016 halten am Prinzip fest, dass die Ersteinreisestaaten | |
| zuständig sind, und sehen erstmalig sogar eine verstärkte Auslagerung in | |
| Länder außerhalb der EU vor. | |
| [2] | |
| „Push“-Faktoren sind beispielsweise Hunger und Krieg im Herkunftsland, | |
| „Pull“-Faktoren Aussicht auf Arbeit und Chancen auf Anerkennung von Asyl im | |
| Zielland. Tatsächlich sind etablierte Migrationskorridore etwa zu früheren | |
| Kolonien genauso mitentscheidend für eine Migration wie die wahrgenommenen | |
| Migrationskulturen. | |
| 12 Oct 2017 | |
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