# taz.de -- Flüchtlinge im Mittelmeerraum: Das neue Tor nach Europa ist Tunesi… | |
> Seit den Kämpfen entlang der libyschen Küste steigt die Zahl von | |
> Migranten, die die gefährliche Reise über das Mittelmeer von Tunesien aus | |
> antreten. | |
Bild: Für viele endet die Reise im Tod | |
TUNIS taz | Während der Flüchtlingsansturm aus Libyen seit Juli deutlich | |
nachgelassen hat, steigt in Italien die Zahl der Ankünfte von Tunesiern. | |
1.800 meist junge Männer sind in den vergangenen drei Tagen auf Lampedusa | |
und in Sizilien angekommen und wurden in den überfüllten Aufnahmelagern | |
untergebracht. | |
Obwohl Tunesier kaum Chancen auf einen legalen Aufenthaltsstatus in Italien | |
haben, sind in den sozialen Medien immer mehr virtuelle Reisebüros | |
entstanden, die die Organisation der gesamten Reise von tunesischen | |
Provinzstädten bis zu Kontaktleuten in Italien anbieten. In Häfen wie | |
Teboulba südlich von Monastir, Zarzis nahe der Grenze zu Libyen oder der | |
Inselgruppe Kerkena gibt es lange Wartlisten von Reisewilligen. Das | |
berichten Fischer, die auf ihren Booten regelmäßig Migranten | |
transportieren. | |
Seitdem ein Patrouillenboot der tunesischen Marine vor zwei Wochen vor | |
Zarzis mit einem Flüchtlingsboot kollidierte und mehrere Menschen | |
ertranken, wird nun auch in tunesischen Medien über die größte | |
Flüchtlingswelle seit Jahren diskutiert. Regierungsvertreter bestreiten | |
jedoch, dass es sich um ein landesweites Phänomen handelt, obwohl es | |
aufgrund der rauen Wetterlage auf dem Mittelmeer fast täglich zu | |
Zwischenfällen kommt. Zuletzt kam die Marine einem Fischerboot mit zwölf | |
Migranten zur Hilfe, das bei der Fahrt in Richtung Italien unweit der | |
Kerkena-Inseln ohne Treibstoff in Seenot geraten war. | |
Die meisten Boote starten aus Südtunesien, weil die Häfen und Strände | |
weniger bewacht sind oder die Grenzbeamten leichter zu bestechen sind, | |
erklärt Wessem Laoud, ein politischer Aktivist aus Tunis. | |
## 52 Tote in der vergangenen Woche | |
52 Tote wurden vergangene Woche in das Habib-Bourghiba-Krankenhaus in Sfax | |
eingeliefert. Die meisten Angehörigen wussten nicht einmal, dass sich ihr | |
Sohn auf den Weg gemacht hatte, berichtet der 43-jährige Sgahier, der in | |
der Antikorruptionsgruppe Manich Msema aktiv ist, nach einer Rundreise | |
durch Tunesiens Süden. | |
„Ich bin von der Entwicklung nicht überrascht, in den armen Vororten von | |
Tunis ist die Kriminalität durch die Wirtschaftskrise seit dem Sommer | |
sprunghaft gestiegen, nach Umfragen wollen 40 Prozent der jungen Frauen und | |
60 Prozent der Männer Tunesien verlassen“, fügt Sgahier hinzu. | |
Mit regelmäßigen Kundgebungen protestieren Gruppen wie Manich Sema gegen | |
die von dem 88-jährigen Presidenten vorgeschlagene Amnestie für | |
Geschäftsleute aus den Zeiten der Diktatur unter Präsident Ben Ali. | |
„Während Korruption unbestraft bleibt und weiter ansteigt, verliert der | |
Kurs des Dibnar rapide an Wert“, ergänzt Sgahier. „Und damit verlieren die | |
Leute den Glauben an eine Perspektive.“ | |
Der italienische Innenminister Marco Minniti sagte vor dem Parlament in Rom | |
vergangene Woche, die Zahl der von Tunesien abfahrenden Boote mit Migranten | |
habe sich verdreifacht, und jene aus Algerien verdoppelt. Auch aus der | |
Türkei sei es zu einem Anstieg der Flüchtlingszahlen um 63 Prozent | |
gekommen, die meisten darunter Minderjährige. | |
## Die meisten tauchen erst mal unter | |
Die meisten tauchen nach ihrer Ankunft mithilfe von Bekannten und | |
Angehörigen unter und bleiben als illegale Einwanderer in Italien. Italien | |
hat zwar mit Tunesien ein Rückführungsabkommen abgeschlossen, dies sieht | |
aber eine Höchstgrenze der Abschiebung von 30 Personen pro Woche vor. | |
Seitdem von den libyschen Küstenstädten Sabratha wegen der dortigen Kämpfe | |
zwischen Milizen nur noch wenige Boote ablegen, bieten die dort tätigen | |
Fischer und Schmuggler ihre Routen aus ihren Heimathäfen an. In Teboulba, | |
wo immer noch klassische Holzboote gebaut werden, sehen viele Fischer die | |
Kooperation mit den berüchtigten libyschen Schmugglermilizen kritisch. „Von | |
hier legen seit Jahrzehnten höchsten ein paar Dutzend Boote nach Italien | |
ab, sicher und mit Saisonarbeitern“, sagt ein Fischer. Wenn nun die | |
internationale Schmugglermafia in Tunesien aktiv ist, wird es viele Tote | |
geben.“ | |
In Melassine, einem Armenviertel in Tunis, bieten Schmuggler in Cafés | |
schon Reisetermine für die nächsten Monate an, für weniger als 400 Euro | |
inklusive Bootfahrt. Hier sind über 50 Prozent der unter 30-Jährigen | |
arbeitslos – „nur ein Kilometer von den Ministerien für Arbeit entfernt“, | |
sagt Sgahier, der dort als Sozialarbeiter tätig ist. Er erinnert an | |
Proteste vor dem Parlament im Juli, die Abgeordneten über ein Gesetzespaket | |
zum Schutz von Frauen abstimmten. „Keine Zukunft mit Korruption und der | |
alten Justiz“, stand auf den Schildern. | |
24 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Mirco Keilberth | |
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