| # taz.de -- Kunst in Tunis: Träumen, trotz alledem | |
| > Dreamcity heißt ein Festival in der Medina von Tunis. Einheimische und | |
| > internationale Künstler setzen sich mit aktuellen Themen auseinander. | |
| Bild: Warten auf Einlass in der Medina von Tunis | |
| Der große Saal in der Bibliothek im Souk el Attarine in der Medina von | |
| Tunis ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Männer und Frauen, Alte und | |
| Junge diskutieren mit Jamila Binous. Die Historikerin hat die Restauration | |
| der Medina seit den 70er Jahren begleitet. Für den belgischen | |
| Urbanistikprofessor Eric Corijin, der die Diskussion leitet, ist die Medina | |
| das Modell einer vielfältigen Stadt, ein Gegenpol zur Gleichförmigkeit | |
| moderner Städte: ein Ort der Begegnungen, der Arbeit und des Austauschs | |
| unterschiedlichster Milieus. | |
| Die Medina mit ihren aneinandergeschmiegten weißen, kubischen Häusern ist | |
| ein autofreies Netz von Straßen mit einer Ausdehnung von 300 Hektar, ein | |
| Gewirr aus verwinkelten Gassen. Hinter den dicken Hauspforten aus Palmholz | |
| tun sich prächtige Paläste, gekachelte Innenhöfe, heruntergekommene | |
| Wohnhäuser und einfache Werkstätten auf. Dort wird gehämmert, geschweißt, | |
| genäht. Von den verschachtelten, flachen Dachlandschaften blickt man auf | |
| das verkehrsüberflutete Tunis. Einige der Altstadtdächer werden inzwischen | |
| als hippe Caféterrassen benutzt. | |
| Die alte Stadt von Tunis mit ihren mehr als 1.200 Jahren Geschichte ist | |
| eine der schönsten und besterhaltenen Altstädte in der arabischen Welt. | |
| Seit 1979 ist die Medina von Tunis mit ihren über 700 Baudenkmälern | |
| Weltkulturerbe. Sie ist aber auch Lebensort für etwa 100.000 Menschen. | |
| Auf die Vielfalt der Medina, ihre Ateliers, ihre Paläste, auf ihre | |
| Menschen, ihre Poesie setzt das Festival Dreamcity. Es findet alle zwei | |
| Jahre statt, dieses Jahr vom 4. bis 8. Oktober. Fünf Tage lang wird die | |
| Medina zum Ort der Reflexion, der Begegnung und des künstlerischen | |
| Austauschs. Auch ein Ort für Träume. Im Programm von Dreamcity stehen | |
| Theater, Tanz, Installationen und Film von einheimischen und | |
| internationalen Künstlern. Bis Mitternacht können im „Umsonst und in der | |
| Nacht“-Programm“ Filme geschaut werden. Unter den Gästen ist das Rimini | |
| Protokoll (Berlin), Nacera Belaza (Médéa/Paris) und Anne Teresa De | |
| Keersmaeker (Bruxelles). | |
| ## Im Dialog mit der Stadt | |
| „Zehn Monate vor Eröffnung beginnen die Vorarbeiten“, sagt Selma Quissi. | |
| Die Tänzerin hat mit ihrem Bruder Sofiane Quissi das Festival mit | |
| gegründet. „Tunesische und ausländische Künstler werden dann eingeladen, | |
| die Medina für ihre Kunst zu erkunden, zu nutzen, sich inspirieren zu | |
| lassen und die Bewohner miteinzubeziehen.“ | |
| Aus den Recherchen und dem Eintauchen in diesen Mikrokosmos der Stadt | |
| entwickeln sie ihre Themen: die Situation der Jugend, deren Ängste, | |
| Zweifel, aber auch ihre Hoffnungen, auch in Bezug auf ihre Stadt. Dreamcity | |
| ist unter anderem eine Auseinandersetzung mit Perspektivlosigkeit, | |
| Homosexualität, Armut oder der Situation in den Gefängnissen. Kunst als | |
| Dialog, selbst wenn der nicht immer klappt. Vor der Caserne el Attarine | |
| steht eine lange Schlange Festivalbesucher. Die dortigen Händler sind | |
| genervt. Die Besucher verstellen ihre Warenberge. Vor allem die | |
| traditionellen Dinge gibt es nirgends zahlreicher als hier: Henna, | |
| Weihrauch, Gewürze, Brautschmuck oder das Augen-Make-up Khôl. Die Straßen | |
| sind nach Wirtschaftszweigen geordnet: die Parfümhändler im Souk el | |
| Attarine, die Schuhhändlern im Souk el Blaghija, die Stoffhändlern im Souk | |
| des Étoffes. | |
| Ein Dialog mit der Stadt Tunis findet im Berliner Beitrag Rimini Protokoll | |
| statt, auch wenn er von einer künstlichen Stimmen, von Algorithmen | |
| angeleitet wird. Etwa 50 Personen starten am muslimischen Friedhof von | |
| Tunis mit Kopfhörern. Eine Stimme leitet sie auf Englisch oder Französisch | |
| an, von der Stadt der Toten zur Stadt der Lebenden: durch ein | |
| Militärhospital, in die Metro, zum Bahnhof, durch ein Einkaufszentrum, in | |
| den französischen Dom und hinein in die Medina. Die Inszenierung schafft | |
| eine eigenartige, tiefe Erfahrung der Stadt. | |
| ## Der männliche Prostituierte | |
| Oder das Tanztheater des Tunesiers Rochdi Belgasmi in einem alten Hamam der | |
| Medina. Es ist die Geschichte eines schwulen Prostituierten im 18. | |
| Jahrhundert. Virile Männlichkeit, sexualisierte Körper, Anziehung und | |
| Abwehr, Aggression – der männliche Prostituierte als abgespaltener Teil der | |
| arabischen Kultur. | |
| Auch heute noch, wo die Schwulen- und Lesbenorganisation Shams für die | |
| Abschaffung des Homosexuellenparagrafen 230 in Tunesien kämpft. Es tobt ein | |
| Kulturkampf in Tunis zwischen Säkularen und Religiösen, zwischen Moderne | |
| und Tradition. | |
| „Der Versuch, Shams zu verbieten, ist gescheitert, wir helfen Menschen, die | |
| von ihrer Familie verstoßen werden, Arbeit und Wohnungen zu finden. Und wir | |
| kämpfen gegen die hohe Selbstmordrate unter Schwulen: sie liegt fünf Mal | |
| höher“, sagt der Anwalt Mounir Batouur, Vorstand von Shams in seiner | |
| Kanzlei. „Dabei haben wir eine lange Tradition der Homosexualität. Erst | |
| unter dem französischen Protektorat wurde sie kriminalisiert. Vorher gab es | |
| Bordelle für Schwule.“ Als die Homosexuellen nach der Revolution 2011 ihre | |
| Recht forderten, hätten die Religiösen scharf reagiert: „Für sie muss der | |
| Schwule mit dem Tod bestraft werden.“ | |
| ## Enttäuschte Hoffnungen | |
| Dreamcity, trotz alledem träumen, das ist schwer im heutigen Tunesien. Lina | |
| Ben Mhenni, deren Blog während der Revolution in Tunesien 2010/2011 | |
| weltweite Bekanntheit erreichte und die als „Stimme des tunesischen | |
| Aufstands“ bezeichnet wurde und vom Weltwirtschaftsforum als global leader | |
| geführt wird, nippt blass und skeptisch an ihrem Kaffee. Seit drei Jahren | |
| ist sie arbeitslos und wird ständig bewacht. Sie sieht eine große | |
| Regression auf allen Ebenen. | |
| „Die Jungen sind während der Revolution auf die Straße gegangen und haben | |
| den Ben-Ali-Clan verjagt, aber andere haben von ihren Erfolgen profitiert. | |
| Die tunesische Jugend sei verzweifelt. „Ich hätte mir nie vorstellen | |
| können, dass ich einmal mein Land verlassen will, aber der Wunsch wird | |
| immer stärker.“ Das alte System sei weg, aber es sei überall. „Wir haben | |
| kein Vertrauen in unsere Politiker“, sagt Lina. „Das Bildungssystem ist | |
| schrecklich, im Landesinneren gibt es nichts, gar nichts für Jugendliche. | |
| Es gibt keine Strategie. Nur Parolen und die Islamisten sind überall.“ | |
| „Wir vergeben nicht“ ist der Slogan, mit dem auf der Straße weiter | |
| demonstriert wird gegen die von dem 88-jährigen Präsidenten vorgeschlagene | |
| Amnestie für Geschäftsleute aus den Zeiten der Diktatur unter Präsident Ben | |
| Ali. „Während Korruption unbestraft bleibt, kommen Leute wegen | |
| Kleinigkeiten ins Gefängnis“, sagt Lina. Die kulturelle Repression wachse: | |
| „Ein Kuss auf der Straße, und du wanderst ins Gefängnis. Ich hasse den | |
| doppelzüngigen Diskurs der Islamisten, die überall im westlichen Ausland | |
| als ach so moderat gelobt werden.“ | |
| Und auch die Kunst ist nicht Sache der Islamisten. Galerien findet man in | |
| den gutsituierten Stadtviertel im nördlichen Tunis, in Sidi Bou Saïd oder | |
| La Marsa. Die Künstlerin Sadika Keskes lebt dort in Gammarth. Neben ihrer | |
| eigenen Kunst kuratiert die Künstlerin in ihrem Ausstellungsort Espace | |
| Sadika Werke tunesischer Künstler. Sie gründete den Verein Femmes Montrez | |
| Vos Muscle (Frauen, zeigt eure Muskeln), der das Kunsthandwerk von Frauen | |
| im Hinterland unterstützt und fördert. Sie hat so die Neubelebung der | |
| Teppichproduktion mit angeregt, die fast in Vergessenheit geraten und von | |
| industrieller Billigproduktion abgelöst worden war. | |
| ## Für die Würde der Migranten | |
| „Es gibt bei uns keine Kultur und Tradition, die ein Verständnis für Kunst | |
| weckt“, sagt Sadika. „Und jeder Künstler hier arbeitet mehr oder weniger | |
| für sich.“ Am Strand von Gammarth, unweit ihres Ateliers, hat sie ihr neues | |
| Projekt, die „tombeaux de la dignité (Grabmäler der Würde), installiert: | |
| Grabmäler aus dem blauen Glas ihres Ateliers, die das Drama der Flüchtlinge | |
| im Mittelmeer thematisieren. | |
| Während der Flüchtlingsansturm aus Libyen seit Juli nachgelassen hat, | |
| steigt in Italien die Zahl der Ankünfte von Tunesiern. Obwohl Tunesier kaum | |
| Chancen auf einen legalen Aufenthaltsstatus in Italien haben, sollen in den | |
| sozialen Medien immer mehr virtuelle Reisebüros entstanden sein, die die | |
| Organisation der gesamten Reise von tunesischen Provinzstädten bis zu | |
| Kontaktleuten in Italien anbieten | |
| Über der Altstadt von Tunis steht inzwischen der volle Mond. Ungefähr 100 | |
| Leute warten am Bab el Bhar, dem großen Tor am Eingang zur Medina, das | |
| anlässlich des Festivals mit Stacheldraht umspannt ist. „La Procession“, | |
| die Prozession, heißt die Tanzperformance von Nacera Belaza. Der | |
| Prozessionszug geht durch die nun leere Altstadtgasse ins Prefektorium | |
| einer ehemaligen, neu restaurierten Kirche. Stille, der große, leere Raum | |
| auf verschiedenen, weiß getünchten Stockwerken. Und immer wieder die sich | |
| windenden Körper der Künstlerinnen, begleitet von der Lautmalerei eines | |
| afrikanischen Chors. Vieles lässt sich nicht erklären, erfassen, bereden. | |
| Es bleibt verloren, diffus, ungewiss, eine Stimmung, doch lebendig. | |
| 28 Oct 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Edith Kresta | |
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