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# taz.de -- Die Medina von Tunis: „Ein guter Ort zum Leben“
> Die Altstadt von Tunis gehört zum Weltkulturerbe. Die tunesische
> Mittelschicht mag diesen Ort für Kultur und Handwerk.
Bild: Ein Teeverkäufer auf der Touristenmeile der Altstadt von Tunis.
Enge, verwinkelte Gassen lassen das stechende Sonnenlicht nicht durch. Die
Medina von Tunis mit ihren aneinandergeschmiegten weißen, kubischen Häusern
ist ein schattiges Labyrinth. Ein autofreies Netz von Straßen mit einer
Ausdehnung von 300 Hektar, ein Gewirr aus verwinkelten Gassen, das sich
schnell erschließt, wenn man sich darauf einlässt. Rasch erwacht ein Gefühl
für die scheinbar chaotische Anordnung.
Hinter den dicken Hauspforten aus Palmholz, die zunächst abweisend wirken,
tun sich prächtige Paläste, gekachelte Innenhöfe, heruntergekommene
Wohnhäuser und einfache Werkstätten auf. Dort wird gehämmert, geschweißt,
genäht. Von den verschachtelten, flachen Dachlandschaften blickt man auf
das verkehrsüberflutete Tunis und ist froh, der hupenden Hektik dort
entronnen zu sein. Einige der Altstadtdächer werden inzwischen als
Caféterrassen benutzt, sonst gehören sie den dürren Katzen, es ist ihr
Revier.
Die Medina von Tunis mit ihren mehr als 1.200 Jahren Geschichte ist eine
der schönsten und besterhaltenen Altstädte in der arabischen Welt, schon
bevor von Syrien über Irak bis Libyen geschichtsträchtige Architektur durch
wilde Männerhorden willkürlich eingestampft wurde. Seit 1979 ist die Medina
von Tunis mit ihren über 700 Baudenkmälern Weltkulturerbe. Sie ist aber
auch Lebensort für etwa 100.000 Menschen.
Auf dem Platz der rue du Tribunal im restaurierten Teil der alten Stadt
steht eine vertrocknete Palme. Jugendliche benutzen sie als Torpfosten. Am
Kiosk gegenüber kaufen kichernde Schülerinnen Cola und belegte Brote. In
den Souks, den Einkaufsstraßen der Medina, finden die Bewohner alles, was
zum täglichen Leben nötig ist: Haushaltsgegenstände, Kleidung, Stoffe,
Schuhe,Teppiche, Schmuck, Lebensmittel, Obst, aber auch frischen Fisch und
Fleisch auf den Märkten.
## Jagd nach einem echten Gucci-Schnäppchen
Und vor allem die traditionellen Dinge gibt es nirgends zahlreicher als
hier: Henna, Weihrauch, Gewürze, Brautschmuck oder das Augen-Make-up Khol.
Die Straßen sind nach Wirtschaftszweigen geordnet: die Parfümhändler im
Souk el Attarin, die Schuhhändlern im Souk el Blaghija, die Stoffhändlern
im Souk des Étoffes.
Am Rande der Medina türmen sich Jeans, Blusen, Schuhe, Taschen zu
gewaltigen Stapeln. Diese Kleidermärkte sind die größte Warenkette
Tunesiens, hier verkaufen Secondhandhändler Kleiderspenden aus Europa und
den USA. Ein Großteil der Bevölkerung kleidet sich dort ein, auch die
modebewusste Mittelschichtstunesierin jagt hier nach einem echten
Gucci-Schnäppchen.
Der Anwalt Mohamed Jmour wurde vor fast 60 Jahren im Hafsia-Viertel der
Medina geboren. Jahrhundertelang lebten hier muslimische und jüdische
TunesierInnen zusammen. Heute stehen Synagoge, die jüdische Schule und eine
Krankeneinrichtung verwaist da. „Was Armut heißt, habe ich in meiner
Grundschule in der rue de Glacière erfahren“, erzählt Jmour. „Meine
Lehrerin schickte mich nach Hause, als ich nach den Ferien ohne Bücher in
die Klasse kam. Wir waren sieben Kinder. Mein Vater erhielt seinen Lohn am
Ende einer Woche. Erst dann wurde alles Nötige gekauft. Am Schulanfang
konnte es passieren, dass nicht genügend Geld da war, um für alle Kinder
Bücher und Hefte zu kaufen.“
Auf der Straße traf das Kind einen jungen Kommunisten und erzählte, was
passiert war. Der nahm den Jungen an die Hand, brachte ihn zurück in die
Schule, empörte sich beim Direktor über das Verhalten der Lehrerin. Die
wurde abgemahnt, der Junge zurück in die Klasse gebracht. „Vielleicht
reichen die Wurzeln meines politischen Engagements bis zu diesem Erlebnis
zurück“, schmunzelt Jmour, der Rechtsanwalt und Pressesprecher der linken
Partei Watad ist.
Jmours alte Grundschule liegt nicht weit von dem heruntergekommen
Prostituiertenviertel, einem Teil der Medina, wo nichts renoviert wurde.
Das Viertel wirkt finster. Die Häuser zerfallen. Die Islamisten wollten die
Häuser der Prostituierten während ihrer Regierungszeit von 2011 bis 2014
schließen.
Prostitution, aber auch Homosexualität sind im nachrevolutionären Tunesien
immer noch stark tabuisiert. Dabei wird Tunesien von den reaktionären
Traditionshütern der Arabischen Halbinsel als freizügiger Hort sämtlicher
körperlichen Genüsse geschätzt.
Der Kulturkampf im Ursprungsland der arabischen Revolutionen hat erst
angefangen: Die kürzlich zugelassene Vereinigung „Shems“, die sich für die
Rechte der Homosexuellen einsetzt, wird nicht nur vom Mufti der Republik
angegriffen. Doch in der Zivilgesellschaft und den sozialen Medien
organisiert sich Unterstützung.
## Eine kompetente Führung durch die Altstadt
Jamila Binous ist eine resolute, selbstsichere Frau, sie führt Besucher
fachkundig durch die Altstadt. Sie liebt diesen Ort, möchte dessen
besondere Lebensart, „son art de vivre“, mit anderen teilen. Die
Historikerin und Urbanistin Jamila Binous ist in der Medina geboren. Sie
hat das Mädchengymnasium in der rue du Pacha besucht. Dort sitzen seit
Generationen die Fahnenschneider.
“Es ist wichtig, dass die Bewohner der Medina bei den Entscheidungen der
öffentlichen Hand, vor allem mit Blick auf die Restaurierung der Medina,
mitwirken. Wir wollen, dass die Bedürfnisse der hier wohnenden Menschen
berücksichtigt werden. Wir wollen kein Schmuckkästchen für BesucherInnen,
die einmal im Jahr während des Ramadan zu einem Konzert in die Medina
kommen“, sagt Binous. Sie hat jahrelang in der Association de la sauvegarde
de la Medina (ASM), der Gesellschaft zur Erhaltung der Medina,
mitgearbeitet.
Durch die rue du Pacha führt Binous in den renovierten Teil der Medina, wo
kulturelle Einrichtungen in herrschaftlichen Häusern und Koranschulen,
Medersen, nah beieinanderliegen: Im Palais Kheireddine ist das Musée de la
ville de Tunis mit seinen wechselnden Kunstausstellungen untergebracht; im
Dar Ben Achour die Bibliotheque de la ville de Tunis; das ,Dar El Jaziri`
wurde zum Maison de la poésie. Das Kulturzentrum Medersa Bir Lahjar macht
mit Musik von sich reden und ist Sitz des alljährlichen Festivals der
Medina im Ramadan.
Junge AusstellungsmacherInnen haben ihrerseits die Altstadt mit ihren
Außenbezirken - unter dem Motto ,Dream City‘ - bereits mehrfach (zuletzt
2012) zum Ort von Kunstaktionen gemacht. Sie wollen zeigen, dass die
Altstadt kein vergangenheitslastiger Ort ist: „Wir haben immer von einer
Stadt geträumt, in der die alte und die moderne Welt in Harmonie
nebeneinander existieren können. Wir haben geträumt, dass Kunst an allen
Straßenecken passiert und dass sich Zeit und Ort des künstlerischen
Geschehens im Alltag einfinden können“, so die Choreografen des Festivals,
Selma und Sofiane Ouissi.
Im Palast Dar Lasram ist die Gesellschaft zur Erhaltung der Medina
untergebracht. Das einstige Wirtschaftsgebäude des Palasts war schon in den
1960er Jahren ein öffentlicher Raum für Frauen: der Club Tahar Haddad. Die
Räume mit Steinfußböden und Rundbogendecken, von massiven Steinpfeilern
getragen, waren die Geburtsstätte der neuen tunesischen Frauenbewegung.
## Die Altstadt von Tunis ist wieder gefragt
Die „Erhaltung und Sanierung sowie die Verbesserung der Lebensbedingungen
der BewohnerInnen und die Förderung und kreative Weiterentwicklung des
Kunsthandwerks“ sind Aufgaben der 1967 gegründeten Gesellschaft zur
Erhaltung der Medina. Ihr Chef, Zoubeir Mouhli, wohnt selbst hier. Er kennt
die Veränderungen nicht nur aus Studien, er erfährt sie hautnah und ist
überzeugt: „Es ist ein guter Ort zum Leben. Es gibt keinen besseren.“
Mouhli erzählt vom Wegzug der früheren BewohnerInnen in den 60er und 70er
Jahren in neue, moderne Vorstadthäuser. Arme Landbevölkerung, die in die
Hauptstadt zugewandert war, zog in die leer stehenden Häuser ein. Die
Medina galt nun als heruntergekommen, als Ort der Armen. Die Medina wurde
zur No-go-Area für die aufstiegswillige Mittelschicht.
Heute kehren die Mittelschichten in die Medina zurück. „Die alte Stadt ist
wieder gefragt,“ weiß Zoubeir. „Auch Ausländer kaufen sich hier ein.
Allerdings wollen wir eins vermeiden: den Ausverkauf der Medina an reiche
Ausländer wie in Marrakesch. Bislang hat unsere Altstadt eine gute Mischung
verschiedener sozialer Gruppen.“
## Das Chambre bleu - geschmackvolle Unterkunft
Eine Zugezogene ist auch die Tänzerin und Schauspielerin Sondos Belhassen.
Die schmale, agile Frau mit der Kurzhaarfrisur und den ausgefransten Jeans
ist in einem der nördlichen Villenvororte von Tunis groß geworden. Vor
Jahren hat sie sich bewusst dafür entschieden, mit Partner und zwei Kindern
in die Medina zu ziehen. Ein Teil eines größeren Gebäudekomplexes wurde
erworben und restauriert. Hier betreibt Belhassen ein Gästehaus mit zwei
Gästezimmern, „La chambre bleue“.
Sondos Belhassen beschreibt die Vorteile der Medina: „Hier brauche ich kein
Auto. Brot, Obst und die meisten Lebensmittel finde ich gleich um die Ecke,
die Kinder können zu Fuß zur Schule gehen, auf der Straße spielen, wir
haben ein gutes Verhältnis zur Nachbarschaft.“ Belhassen führt ein modernes
Leben hier: „Die Medina ist ein Viertel wie jedes andere in Tunis. Ich lebe
hier nicht im 19. Jahrhundert.“
Die Künstlerin ist aktiv in der BürgerInnenvereinigung Action citoyenne en
Medina. Sie engagiert sich für die Interessen der Altstadtbewohner. „Wir
waren in der Schule Hakim Kassar. Die Kinder wussten nicht, dass sie im
einstmals jüdischen Viertel der Medina lebten, nichts über die Geschichte
der öffentlichen Gebäude, nichts vom Namensgeber ihrer Schule“, erzählt
Belhassen.
## Die Touristenmeile und die Händler
Halb neun morgens am Stadttor Bab El Bhar (Tor des Meeres). Aus der
schmalen rue Jamaa-Ez-Zitouna strömen Menschen zur Avenue Bourguiba. Junge
und Ältere, von denen viele in der Medina wohnen. Sie sind auf dem Weg zur
Arbeit, zur Schule, zur Universität. Andere eilen die Altstadtgasse hinauf,
durch die man zu Fuß rasch bis zur Kasbah mit ihren Regierungsgebäuden
gelangt.
Touristen bevölkern die rue Jamaa-Ez-Zitouna erst später, wenn sie in
diesen unruhigen Zeiten des Terrors überhaupt nach Tunis kommen. Sie
dringen nicht tiefer ein ins Labyrinth der Gassen. Sie gehen vom Stadttor
Bab El Bhar hoch zur Zitouna-Moschee im Zentrum der Medina. Es ist die
Touristenmeile, auf der viele Händler mit chinesischen Billigprodukten dem
eingesessenen Handwerk Konkurrenz machen.
Ohnehin müssen sich die Kunsthandwerker der Medina neu erfinden. Wer kauft
heute noch Tee- oder Kaffeeservice, Pfannen, Tabletts aus Kupfer für den
täglichen Gebrauch? Die Gebrauchsgegenstände der Schmiede, Töpfer und
Schneider von einst sind größtenteils zu Souvenirs degradiert.
Nichtsdestotrotz borden die Souks an der Touristenmeile mit dem
immergleichen Angebot an Taschen, geschnitzten Schachspielen, Pantoffeln,
Schmuck und Kupferschalen über.
## Die Medina ist auch identitätsstiftend
Durchquert man die Medina auf dieser Touristenmeile, vorbei am Souk El
Attarine, El Trouk, El Chouachia, El Berka bis hinauf zur Kasbah, dem
Regierungssitz schon zu Zeiten der Beys, gelangt man zum Place du
Gouvernement. Hier befinden sich die meisten Regierungsgebäude. Im Frühjahr
2011, nach dem Sturz des Diktators, kamen zwei „Karawanen der Freiheit“ aus
dem Landesinneren in die Hauptstadt. Sie besetzten den großen Platz,
erzwangen den Ausschluss von Ben-Ali-Getreuen aus zwei
Übergangsregierungen. Jetzt verriegelt Stacheldraht den Zugang.
Die Medina ist heute wieder ein Ort des Geschehens, aber auch ein Ort für
Kunst, Kultur und Handwerk. Ein Ort, der für viele wieder attraktiv ist.
Gerade in Zeiten des Umbruchs, der Orientierungslosigkeit, des Terrors ist
die geschichts- und kulturgetränkte Medina auch identitätsstiftend.
Und manchmal, wenn abends die Sonne nur noch verwöhnt, wenn junge Paare auf
der Dachterasse des Kulturcafés El Ali in der Rue Jamaa-Ez-Zitouna
schmusen, Touristinnen in knappen Shorts gegenüber mit den Lederhändlern
feilschen, die Antiquitätenhändler Ali und Youssef Chammakhi ihre viel zu
teuren Schmuckstücke verkaufen, die Tänzer auf dem Platz vor der
Zitouna-Moschee soziale Ungleichheit anprangern und der Muezzin all dem
seinen Segen gibt, könnte man tatsächlich glauben, dass hier traditionelle
und moderne Welt in Harmonie nebeneinander existieren könnten.
5 Jul 2015
## AUTOREN
Edith Kresta
Renate Fisseler-Skandrani
## TAGS
Tunesien
Restaurierung
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Entwicklung
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