# taz.de -- Gewalt in Tunesien: Die Rache der frustrierten Männer | |
> In dem Land gibt es viele Freiheiten und Verheißungen – und noch mehr | |
> enttäuschte Männer, die nicht mithalten können. Sie werden zu | |
> Dschihadisten. | |
Bild: Ein Tunesier bei der Kohlernte südlich von Tunis. | |
BERLIN taz | Bekannt wurde er für seine Videos mit freizügigen Mädchen: | |
Maurouane Douiri, der sich unter dem Pseudonym „Emino“ als Rapper in seiner | |
Heimat Tunesien einen Namen machte. Kurz vor dem blutigen Terroranschlag | |
auf das tunesische Nationalmuseum hat er sich jetzt der Terrormiliz | |
Islamischer Staat (IS) angeschlossen. Mit im Internet veröffentlichten | |
Bildern habe der 25-Jährige dem IS die Treue geschworen, meldete die | |
Dschihadisten-Beobachterplattform Site am Mittwoch – an dem Tag, an dem | |
mindestens 23 Menschen in der Hauptstadt Tunis ermordet wurden. Die | |
Karriere des Rappers ist eine Geschichte unter vielen, ob in Paris, Berlin, | |
Düsseldorf oder Tunis. | |
Im heutigen, demokratisch verfassten Tunesien gibt es alle Freiheiten und | |
viele Verheißungen. Die Realität ist jedoch ernüchternd: Nur ein Teil der | |
Jugendlichen kann sich die Freiheit leisten. Ein anderer, männlicher Teil | |
ohne festes Einkommen vegetiert in Kaffeehäusern, abhängig von der Familie | |
und damit entmündigt. Waren vor der Revolution noch 13 Prozent der Tunesier | |
arbeitslos, sind es heute 19 Prozent. Unter den Fach- und | |
Hochschulabsolventen hat jeder zweite keine feste Stelle. | |
Tunesiens junge Männer sind frustriert, weil sie nach den Sternen griffen | |
und erst einmal im Restpatriarchat landeten. Die alten Männer beherrschen | |
weiter die Politik. Tabus, Normen, Unterdrückungen, Ungleichheiten in der | |
Familie und der Gesellschaft bestehen weiter. Es gab keine Aufarbeitung der | |
Gewalt, Willkür und Unterdrückung unter dem Diktator Ben Ali, es gab keine | |
Umgestaltung der Institutionen. | |
Das Ende des bösen Patriarchen brachte Hoffnung und damit Enttäuschung, | |
aber auch Verunsicherung und neue Anforderungen an jeden. Während die | |
Frauen oftmals mehr Frustrationen aushalten, haben junge Männer, denen | |
diese Frauen nun auf die Füße treten, für ihre Perspektivlosigkeit kein | |
klares Hassobjekt mehr. Aber gleichzeitig sehnen sie sich nach alter | |
Männerherrlichkeit. „Wir sind eine schizophrene Gesellschaft“, sagt die | |
Sozialwissenschaftlerin Faouzia Charfi. | |
## Angriff als Verteidigung | |
„Wir werden an vielen Schulen modern erzogen und sollen uns zu Hause wieder | |
völlig unterordnen. Wir sind offen, demokratisch, frei, müssen uns aber mit | |
vielen, auch religiösen Tabus herumschlagen.“ Angriff ist so die beste | |
Verteidigung: Mit dem Dschihad und islamistischen Ideologien rächt sich die | |
ruinierte Seele auf die männliche Art. | |
Bis zu 3.000 Kämpfer in Syrien und im Irak sollen nach Schätzungen aus | |
Tunesien sein, es ist die größte Gruppe unter den ausländischen Kämpfern. | |
Mindestens 500 von ihnen sollen inzwischen zurückgekehrt sein. Klar ist: An | |
den Grenzen Tunesiens zu Libyen und Algerien kursieren unter anderem | |
deutsche Waffen aus den Arsenalen Gaddafis, und konkurrierende | |
islamistische Gruppen morden im Wettkampf um die größte Aufmerksamkeit, den | |
coolsten Anschlag. | |
Die islamistische Ennadah, die das Land nach der Revolution 2011 zwei Jahre | |
regierte, stand im Verdacht, sehr tolerant gegenüber dem islamistischen | |
Terror zu sein, auch wenn sie sich nach außen moderat gab. Ganz im Sinne | |
der Demokratie entstanden nach der Revolution 2011 unzählige Associations | |
(Vereinigungen), viele davon mit religiöser Einfärbung, vor allem in den | |
vernachlässigten Regionen im Inneren des Landes und in den ärmeren | |
Stadtvierteln von Tunis. Sie wurden mit Geldern aus dem Nahen Osten | |
„unterstützt“. So konnte sich über das ganze Land ein Netz islamistischer | |
Zellen spannen, deren Knotenpunkt die Moscheen sind. Vor allem dort werden | |
heute die jungen Dschihadisten mit Geld und anderen Verlockungen geködert. | |
Die Moscheen sind ein Auffangbecken für perspektivlose junge Männer, die im | |
Namen der Religion eine Art Geschlechter- und Klassenkampf führen: gegen | |
die bürgerlichen Eliten, die unverschleierten Frauen, die ungläubigen | |
Intellektuellen, die aufgeklärte Mittelschicht – fast gegen das ganze Land. | |
19 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
Edith Kresta | |
## TAGS | |
Zehn Jahre Arabischer Frühling | |
Arbeitslosigkeit | |
Dschihad | |
Patriarchat | |
Tunesien | |
Schwerpunkt Syrien | |
Tunesien | |
Tunesien | |
Attentat | |
Schwerpunkt Syrien | |
„Islamischer Staat“ (IS) | |
Schwerpunkt Syrien | |
Tourismus | |
al-Qaida | |
Islamismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
IS-Terrorist verurteilt: Zahnschmerzen verhalfen zur Flucht | |
Ein 22-Jähriger ist von einem Düsseldorfer Gericht zu zweieinhalb Jahren | |
Haft verurteilt worden, weil er nach Syrien zum IS ging. Dort war es ihm | |
dann zu gefährlich. | |
Die Medina von Tunis: „Ein guter Ort zum Leben“ | |
Die Altstadt von Tunis gehört zum Weltkulturerbe. Die tunesische | |
Mittelschicht mag diesen Ort für Kultur und Handwerk. | |
Anti-Terror-Einsatz in Tunesien: Mutmaßlicher Drahtzieher getötet | |
Sicherheitskräfte töten neun Islamisten, darunter der mutmaßliche | |
Drahtzieher des Anschlags. Tausende Menschen demonstrieren gegen | |
Extremismus. | |
Weltsozialforum in Tunesien: Sicherheit wird zum Thema | |
Zum zweiten Mal in Folge tagen Globalisierungskritiker aus aller Welt in | |
Tunis. Das Treffen steht unter dem Eindruck des Anschlags auf das | |
Bardo-Museum. | |
Wissenschaftler über Dschihadisten: „Ein Glaube, der unmoralisch ist“ | |
Sind Dschihadisten Unmenschen? Sie stehen fern zivilisierten Verhaltens, | |
doch glauben selbst, moralisch zu handeln, sagt George Joffe. | |
Terrorismus in Tunesien: Per Dschihad-Route nach Hause | |
Der Frust der Jugend Tunesiens ist heute ähnlich groß wie vor dem | |
Arabischen Frühling. Statt in Syrien kämpft der Dschihadist jetzt im | |
eigenen Land. | |
Bilder des Islamischen Staates: Schadet die Verteufelung des IS? | |
Wenn über den IS geschrieben wird, ist von Monstern und Barbaren die Rede. | |
Hilft uns das die Erfolge der Dschihadisten zu verstehen? | |
Kommentar Terroranschlag in Tunis: Es liegt in der Hand der Ennahda | |
Die gewählten Islamisten müssen ihre taktische Allianz mit den bewaffneten | |
Gruppen aufgeben. Nur dann kann sich Tunesien weiter demokratisieren. | |
Gewalt in Tunesien: Islamisten morden wieder | |
Vier Polizisten sind an der Grenze zu Algerien getötet worden. Das Gebiet | |
gilt als Islamisten- Hochburg. Die Regierung sieht die Tat als | |
„Terrorangriff“. | |
Neues Kabinett in Tunesien vorgestellt: Regierung mit Islamisten | |
Tunesiens designierter Regierungschef Essid will gemeinsam mit den | |
Islamisten der Ennahda regieren. Diese sollen einen Minister und drei | |
Staatssekretäre stellen. |