# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Der gläserne Flüchtling | |
> Im jordanischen Zaatari bezahlen die Geflüchteten mit ihrem Auge. Ihr | |
> Kontostand wird an der Iris abgelesen. Das verhindere Betrug, lobt das | |
> UNHCR. | |
Bild: Der Irisscanner ist nur eines von vielen Kontrollinstrumenten | |
An der Supermarktkasse im jordanischen Flüchtlingscamp Zaatari bezahlt man | |
neuerdings per Augenaufschlag: „Treten Sie bitte näher und schauen Sie hier | |
rein . . . danke für Ihre Mitarbeit“, ertönt eine metallisch klingende | |
Stimme aus einem Leuchtkasten, der an einem Gelenkarm befestigt ist. | |
Für jeden Erwachsenen hat das UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) bei der | |
Jordan Ahli Bank ein digitales Konto eingerichtet, auf das jeden Monat 50 | |
Dollar überwiesen werden. Die „Augenkassen“, die seit Februar 2016 in | |
Zaatari stehen, können den Kontostand der Supermarktkunden an der Iris | |
ablesen. Das Bezahlen dauere nur „einen Wimpernschlag“ und verhindere | |
Betrug, lobt das UNHCR. Im letzten Sommer wurde das System auch in Azrak | |
eingeführt, dem anderen großen Lager für syrische Flüchtlinge im Norden | |
Jordaniens. | |
Das Zaatari-Camp, sechs Kilometer von der syrischen Grenze entfernt, wurde | |
am 28. Juli 2012 für die Bürgerkriegsflüchtlinge aufgebaut. Heute leben | |
hier 79.822 Menschen (Stand 1. Mai 2017), die größere Sorgen haben als die | |
biometrische Erfassung ihrer Iris. „Eigentlich ist es sogar ganz praktisch, | |
man kann die Karte nicht verlieren“, meint eine Frau im Supermarkt | |
lakonisch. Sie bedauert nur, dass sie nicht mehr ihre Kinder zum Einkaufen | |
schicken kann. Der Journalist Hani Maoued weiß allerdings, dass der | |
Irisscanner für viele schon ein großes Thema ist: „Im Lager ist ohnehin | |
ihre ganze Umgebung auf Kontrolle ausgelegt, hier wird ihnen alles | |
vorgeschrieben. Dieses System ist für sie nur noch ein zusätzlicher Zwang.“ | |
Das Unternehmen IrisGuard, das dem UNHCR die biometrischen Kassen | |
„gespendet“ hat, bekommt ein Prozent von jedem Einkauf im | |
Zaatari-Supermarkt. „Das kostet das UNHCR 20 Prozent weniger als das | |
Verteilungssystem mit Lebensmittelpaketen“, behauptet Imad Malhas, Gründer | |
und einer der drei Chefs von IrisGuard. „Mich fasziniert diese Technologie. | |
Jeder Mensch hat eine andere Iris, außerdem ist sie das Einzige am Körper, | |
was das Leben lang unverändert bleibt. Viel zuverlässiger als | |
Fingerabdrücke.“ | |
Seit 2003 ist die Firma auf den Kaiman-Inseln ansässig, einem der | |
undurchsichtigsten Steuerparadiese der Welt. Mit dem UNHCR hat IrisGuard | |
einen neuen Kunden gewonnen. Bislang hat das Unternehmen vor allem | |
US-Gefängnisse, die Grenzposten der arabischen Emirate oder die | |
Antidrogeneinheiten der jordanischen Polizei mit Irisscannern ausgestattet. | |
Im Aufsichtsrat sitzen unter anderem Richard Dearlove, bis 2004 Direktor | |
des britischen Auslandsgeheimdienstes SIS, und Frances Townsend, von 2004 | |
bis 2008 Beraterin für innere Sicherheit und Terrorbekämpfung von | |
US-Präsident Bush. „Das zeugt von unserer Qualität“, meint Imad Malhas, d… | |
seit dem Deal mit dem UNHCR darauf hofft, neue Märkte zu erobern. IrisGuard | |
möchte sein System zum Beispiel auch gern an die Türkei verkaufen, die | |
zurzeit die meisten Flüchtlinge aus Syrien aufnimmt. Im Januar 2017 lebten | |
laut UNHCR 2,7 Millionen Geflüchtete aus Syrien in der Türkei. Da die | |
türkische Regierung jede Einmischung von außen jedoch ablehnt, stehen die | |
Lager nicht unter der Aufsicht des UNHCR. | |
Schon 2002, drei Jahre bevor in der EU biometrische Pässe eingeführt | |
wurden, lancierte das UNHCR in Afghanistan die „weltweit erste praktische | |
Anwendung der Iriserkennung“, ein Testprogramm, um die Identität | |
afghanischer Rückkehrer aus Flüchtlingscamps im benachbarten Pakistan zu | |
überprüfen. Fünfzehn Jahre später hat die Regierung die biometrischen | |
Merkmale der gesamten afghanischen Bevölkerung registrieren lassen. Auf | |
diesem Gebiet ist das arme Afghanistan eines der fortschrittlichsten Länder | |
der Welt. | |
„Die Menschen in den Flüchtlingscamps sind Versuchskaninchen für neue | |
biometrische Anwendungen“, warnt Paul Currion. Er ist unabhängiger Berater | |
für humanitäre Fragen und hat im Irak und in Afghanistan für verschiedene | |
NGOs gearbeitet. Für Unternehmen, die diese Technologien entwickeln, seien | |
die Flüchtlingslager ein Geschenk des Himmels. Sie können Kontakte zu | |
westlichen Regierungen knüpfen, sich mit dem Image der humanitären Hilfe | |
schmücken, und gleichzeitig ihre Geräte in großem Umfang testen, denn die | |
Geflüchteten trauen sich nicht, ihre biometrische Erfassung infrage zu | |
stellen, geschweige denn sich dagegen zu wehren. | |
Nach Afghanistan hat das UNHCR die biometrische Registrierung in etlichen | |
weiteren Ländern, von Malaysia bis Kenia, eingeführt. Sechs Jahre später | |
wurde Simon Davies, Gründer des Vereins Privacy International und | |
Spezialist für den Schutz personengebundener Daten, mit der Evaluation | |
beauftragt. „Was wir dort gefunden haben, war sehr besorgniserregend“, | |
erzählt Davies. „Die Menschen sind verzweifelt, deshalb akzeptieren sie | |
alles. Aber in Äthiopien haben sie sich zum Beispiel große Sorgen wegen der | |
Fingerabdrücke gemacht. Sie hatten Angst, dass man ihnen ihre Identität | |
raubt.“ | |
Auf den Computern fanden Davies und sein Team unverschlüsselte persönliche | |
Daten und Vereinbarungen über Datentransfers mit den Behörden der | |
Aufnahmeländer, vor allem in Malaysia. Doch die Verträge mit den | |
Unternehmen konnten sie nicht einsehen: „In Europa wäre die Erhebung und | |
Speicherung solcher Daten absolut illegal.“ Das UNHCR hat weder den Bericht | |
von Davies veröffentlicht noch die Frage beantwortet, ob die Flüchtlinge | |
ihrer biometrischen Erfassung überhaupt zugestimmt haben. | |
Das ist jetzt neun Jahre her, und das UNHCR hat an seiner Praxis der | |
Datenerhebung immer noch nichts geändert. Katja Lindskov Jacobsen vom | |
Kopenhagener Zentrum für Militärforschung ist empört über das Vorgehen der | |
Organisation. Die Einführung der Biometrie in großem Maßstab habe die | |
Flüchtlinge in den letzten zehn Jahren paradoxerweise noch verletzlicher | |
gemacht. „Der Schutz der Daten ist kaum geregelt. Sie können mit Staaten | |
ausgetauscht werden, wie es in Kenia passiert ist, wo die Daten der | |
Geflüchteten mit denen der Bürger abgeglichen wurden. Bei Ausschreibungen | |
für Unternehmen ist sogar ausdrücklich festgelegt, dass die Informationen | |
‚nach Ermessen des UNHCR‘ freigegeben werden können.“ Von der kommerziel… | |
und politischen Nutzung dieser wertvollen Informationen ist noch einiges zu | |
erwarten. | |
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz | |
12 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Nicolas Autheman | |
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