# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Für ein Dach über dem Kopf | |
> Die Verflechtung von Kommerz und humanitärer Hilfe wird immer enger. An | |
> Geflüchteten verdienen die Logistik- und Möbelindustrien glänzend. | |
Bild: Designerzelte sind nicht die Lösung des Problems | |
Wie bei internationalen Messen üblich sind die Stände mit | |
Hochglanzplakaten, verlockenden Farbfotos und strahlenden Hostessen | |
ausgestattet. Männer in Schlips und Kragen tauschen Visitenkarten. Auf den | |
Tischen stehen große Modelle von harmonisch angeordneten Containern und | |
Miniaturstädten, in denen Ordnung und Sauberkeit herrschen. | |
„Ich lasse Ihnen gern alle Informationen über unsere Camps zukommen. Für | |
Bergleute, Erdölarbeiter, Soldaten oder Flüchtlinge, ganz wie Sie | |
wünschen“, verspricht Clara Labarta von der spanischen Firma Arpa einem | |
Messebesucher, der sich als „Vertreter einer afrikanischen Regierung“ | |
vorgestellt hat. Am Arpa-Stand hängt ein großes Foto von einem Basislager, | |
in dem verschiedene Zelttypen aufgebaut sind und ein paar Hubschrauber | |
herumstehen. „Unser wichtigster Kunde ist das spanische | |
Verteidigungsministerium, aber heute sind wir hier, um zu erfahren, wie der | |
Markt für humanitäre Hilfe funktioniert, übrigens ein sehr komplexer | |
Markt“, wie sie hinzufügt. | |
Auf der Messe, die parallel zum ersten UN-Gipfel für humanitäre Hilfe im | |
Mai 2016 in Istanbul stattfand, haben mehr als 600 Firmen aus der ganzen | |
Welt ihre Produkte ausgestellt. Das große Interesse zeugte von der immer | |
engeren Verflechtung von Kommerz und humanitärer Hilfe. Mehrmals im Jahr | |
treffen sich Vertreter von UN-Organisationen und NGOs auf riesigen Messen | |
in Dubai oder Brüssel mit Geschäftsleuten aus unterschiedlichen Branchen – | |
vom lokalen Jungunternehmer bis zum Vorsitzenden eines globalen Konzerns. | |
Auch in Istanbul standen die Verkäufer von Drohnen, Photovoltaiklampen und | |
Lebensmittelpaketen neben einem Finanzdienstleister wie MasterCard | |
Worldwide oder großen Wirtschaftsprüfern wie Accenture oder Deloitte | |
Consulting. An einer Gesprächsrunde über Fluchtrouten nahm auch ein | |
Mitarbeiter des Reiseportals Tripadvisor teil. | |
„Das ist ein riesiges Geschäftsfeld. Manche nennen es Hilfe-Industrie. Da | |
geht es jährlich um mindestens 25 Milliarden Euro. Natürlich verdienen die | |
Unternehmen daran, und sie können ihre Effizienz unter Beweis stellen“, | |
erklärt Ben Parker, der bis 2013 das Unocha (United Nations Office for the | |
Coordination of Human Affairs) in Syrien und Ostafrika geleitet hat. | |
## Die schicken neuen Zelte von Ikea | |
Am Stand des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) ist der | |
Andrang besonders groß: Hier steht ein Zelt, in dem das lebensgroße Foto | |
einer überaus sympathisch wirkenden syrischen Familie hängt; vor der | |
Fototapete steht ein unechtes Teeservice. Finanziert wurde das Zelt von | |
Ikea. | |
Per Heggenes, Präsident der gemeinnützigen Ikea-Stiftung, ist begeistert: | |
„Es ist nicht durchsichtig wie andere Zelte und schützt so die Würde der | |
Geflüchteten. Man kann die Türen zumachen, es hat Fenster und eine richtige | |
Isolierung. Dieses Zelt bietet Menschen, die schon lange auf der Flucht | |
sind, eine neue Lebensqualität. Außerdem ist es sehr stabil. Langfristig | |
ist es für das UNHCR also viel günstiger, in unsere Zelte zu investieren.“ | |
Die in den Niederlanden ansässige Ikea-Stiftung finanziert seit 2010 zu 100 | |
Prozent das schwedische Sozialunternehmen Better Shelter (Bessere | |
Unterkunft), das mit dem UNHCR einen Kaufvertrag über 30.000 Zelte im Wert | |
von fast 35 Millionen Euro abgeschlossen hat. Better-Shelter-Zelte stehen | |
in UNHCR-Camps in Äthiopien, im Irak, im Südsudan und in Kenia. „Für mich | |
heißt es nicht: entweder Profit machen oder helfen, sondern: Profit machen | |
und gleichzeitig Entwicklung fördern“, erklärt Heggenes leutselig: „Die | |
Profite, die Better Shelter generiert, werden sowieso wieder in das | |
Sozialunternehmen oder in unsere Stiftung reinvestiert.“ | |
Während der schwedische Möbelriese in seinen Katalogen von der | |
erfolgreichen Zusammenarbeit mit dem UNHCR schwärmt, ist der | |
Entwicklungshelfer Parker skeptisch. Er findet, Ikea bekommt zu viel | |
Aufmerksamkeit. Als er 2011 in Kenia gearbeitet hat, herrschte in der | |
Gegend, wo für die Geflüchteten aus Somalia das riesige Camp Dadaab | |
aufgebaut wurde, große Trockenheit. Damals hieß es, Ikea werde 60 Millionen | |
Dollar allein für Dadaab spenden, und zwar in Form dieser Zelte, die den | |
Geflüchteten angeblich ein tolles Wohngefühl vermitteln. „Aber brauchte man | |
in Dadaab damals wirklich neue Designerunterkünfte? Das glaube ich, ehrlich | |
gesagt, nicht“, seufzt Parker. „Heute versucht die Privatwirtschaft über | |
den karitativen Sektor neue Märkte zu erschließen. Und genau das macht Ikea | |
gerade. Für die Aktionäre ist das gut, ob es aber auch für die Geflüchteten | |
gut ist, bezweifle ich.“ Im vergangenen Jahr lieferte Ikea nicht nur Zelte, | |
sondern war mit 32 Millionen Euro 2016 auch der größte private Spender des | |
UNHCR. | |
## Die Finanziers diktieren die Prioritäten | |
Im beeindruckenden Glaspalast des UN-Flüchtlingshilfswerks in Genf | |
unterstützen um die 1.000 Mitarbeiter überforderte Aufnahmeländer bei der | |
Logistik und Verwaltung der Camps. Das UNHCR ist zwar offiziell eine | |
UN-Organisation, wird aber in Wahrheit nur von einigen großen Ländern | |
finanziert, die sich auch inhaltlich einmischen und die Prioritäten | |
diktieren. | |
Die USA übernahmen 2016 knapp 40 Prozent des Budgets, das knapp 7 | |
Milliarden Euro beträgt, für den Rest des Jahresbudgets kommen traditionell | |
Deutschland, Großbritannien, Japan und Schweden auf. „Um die Effizienz zu | |
erhöhen, organisieren wir jetzt Partnerschaften mit der Privatwirtschaft“, | |
erklärt UNHCR-Sprecherin Melissa Fleming in Genf. „Damit | |
professionalisieren wir in gewisser Weise unsere Arbeit. Der humanitäre | |
Sektor ist einfach enorm gewachsen. Humanitäres Engagement ist heute ein | |
richtiger Beruf.“ | |
Und zwar einer, in dem die Ressourcen notorisch knapp sind. Aus Spargründen | |
hat die Behörde 2012 das „Innovationslabor“ geschaffen, um neue | |
Partnerschaften einzufädeln: mit Ikea für die Unterkünfte, mit UPS für die | |
Logistik und demnächst mit Google für den Schulunterricht. Auf die Frage, | |
ob die Unternehmen auch an den Entscheidungsprozessen beteiligt werden, | |
versichert das UNHCR, deren Beitrag sei im Vergleich zu dem der einzelnen | |
Staaten marginal. Dennoch nehmen die zunächst als Spenden geplanten | |
Partnerschaften neue Formen an. | |
Entwicklungshelfer Parker befürchtet, das UNHCR habe die Finger in eine | |
Mühle gesteckt, aus der es nur schwer wieder herauskommen wird: „Die | |
Ikea-Stiftung hat dem UNHCR zig Millionen Dollar zugesagt. Und jetzt hat | |
sie jemanden in die Schweiz geschickt, der checken soll, was mit dem Geld | |
passiert. Wahrscheinlich dachte man beim UNHCR, Personal und Spenden seien | |
gratis. Allmählich begreift man, dass die Privatwirtschaft so nicht | |
funktioniert. Unternehmen geben nichts ohne Gegenleistung. Was passiert, | |
wenn Ikea zum Beispiel beschließt, in den Flüchtlingslagern Material zu | |
testen?“ | |
Und was sagt das UNHCR dazu, dass Ikea in den riesigen Steuerfluchtskandal | |
verwickelt ist, den EU-Parlamentarier im Februar 2016 aufgedeckt haben, und | |
dass ausgerechnet den Staaten, die das UNHCR-Budget finanzieren, dadurch | |
Steuereinnahmen in Millionenhöhe entgehen? In Genf will man davon gar | |
nichts mitbekommen haben. | |
## Humanitäre Hilfe als Geschäft | |
Unabhängig vom mehr oder weniger großen Nutzen der Ikea-Zelte stellt sich | |
die Frage nach dem Wirtschaftsmodell und den politischen Kräften, denen | |
sich die UN-Organisation unterwirft, die sich heute weltweit um Millionen | |
Vertriebene kümmern muss. Früher bewegten sich die Helfer in geschlossenen, | |
geradezu verschworenen Kreisen. Doch Idealisten wie die französischen | |
Ärzte, die in den 1970er Jahren Krankenstationen in Afrika aufgebaut haben, | |
wurden inzwischen längst von Wirtschaftsfachleuten oder international | |
ausgebildeten Juristen ersetzt. | |
„Sie können sich nicht vorstellen, wie viele Bewerbungen hier täglich | |
eintrudeln“, erzählt Melissa Fleming. „Unzählige Leute wollen diese Arbeit | |
machen; vor allem die Jungen auf der Suche nach dem Sinn des Lebens | |
schreiben mir: ‚Ich will einfach nicht mehr an der Wall Street arbeiten!‘ | |
“, erzählt die UNHCR-Sprecherin. Für diese neuen Kader der humanitären | |
Hilfe, die mit neoliberalen Wirtschaftstheorien um sich werfen, ist die | |
Verdrängung der alten NGOs durch Privatunternehmen, die als kompetenter | |
gelten, eine Selbstverständlichkeit. | |
Das Vordringen der Marktlogik in eine Behörde mit stetig wachsender | |
Verantwortung lässt sich jedoch nicht allein mit dem Generationswechsel | |
erklären. Der größte Geldgeber USA drängt die Behörde dazu, das | |
Managementmodell von maximaler Effizienz und Rentabilität zu übernehmen. | |
Benjamin White, der an der Universität Glasgow über Flüchtlingslager | |
forscht, beobachtet diese Entwicklung seit einigen Jahren: „Durch die | |
Finanzierung über Ausschreibungen und die permanente Analyse und | |
Quantifizierung des Bedarfs zwingen die Geberländer, allen voran die USA, | |
das Flüchtlingshilfswerk dazu, wie ein normales Wirtschaftsunternehmen zu | |
arbeiten, mit Marketingabteilung, Rechenschaftspflicht, Evaluierung und | |
einem festen Budget. Große NGOs wie Care oder der Norwegian Refugee Council | |
arbeiten nach demselben Modell. Hier kann man schon von humanitären | |
Unternehmen sprechen.“ | |
Das UNHCR will den direkten Einfluss der US-Regierung zwar nicht offiziell | |
bestätigen, aber die Sprecherin gibt zu, dass ihr größter öffentlicher | |
Geldgeber tatsächlich manchmal darüber entscheidet, in welchem Krisengebiet | |
sich das UNHCR mehr engagieren soll: „Im Südsudan oder in Zentralafrika | |
ist die humanitäre Lage zum Beispiel ebenso dramatisch wie in Syrien, aber | |
die Finanzierung wird nur für Syrien gewährt.“ | |
## Vom Flüchtling zum glücklichen Konsumenten | |
Im fahlen Morgenlicht wirbelt der Wind die staubige Erde zu riesigen Wolken | |
auf und fährt in die Wäschebündel an den verwitterten Containern. Mitten in | |
der Wüste spielen Kinder auf einer Schaukel aus alten Autoreifen. Das | |
Zaatari-Camp wurde am 28. Juli 2012, als in Syrien schon über ein Jahr | |
Bürgerkrieg herrschte, vom UN-Flüchtlingshilfswerk in Jordanien eröffnet. | |
Bis zur syrischen Grenze sind es keine 15 Kilometer. Im Juli 2013 lebten | |
hier schätzungsweise 144.000 Geflüchtete, heute (Stand: 1. Mai 2017) zählt | |
das UNHCR 79.822 Menschen in dem Camp. | |
Seit 2015 verteilt das Welternährungsprogramm (WFP) in Zaatari keine | |
Lebensmittelpakete mehr; stattdessen eröffnete es zum ersten Mal in einem | |
Flüchtlingslager zwei Supermärkte: Safeway, der nur dem Namen nach mit dem | |
US-Konzern verwandt ist, und eine Filiale von Tazweed – die kuwaitische | |
Lebensmittelkette beliefert vor allem Flüchtlingslager. „Die Wahl zwischen | |
zwei Supermärkten, in denen man für einen Dollar pro Tag selbst entscheiden | |
kann, was man einkauft, hat die Menschen zu glücklichen Konsumenten | |
gemacht“, behauptet der ehemalige Leiter des UNHCR-Lagers Kilian | |
Kleinschmidt. Davon abgesehen sei das Supermarktmodell wesentlich | |
kostengünstiger als die Verteilung von Lebensmittelpaketen. | |
Der informelle und quasi selbstverwaltete Handel mit Lebensmitteln – nach | |
und nach war im Laufe der Jahre in Zaatari ein richtiger Basar (Suk) | |
entstanden – bekam durch die beiden Supermärkte harte Konkurrenz. Die | |
virtuelle Geldkarte, die vom UNHCR und WFP jeden Monat mit 50 Dollar | |
aufgeladen wird, funktioniert nämlich nur in den beiden Supermärkten. | |
Neuerdings zahlt man bargeldlos per Augenscan. | |
„Wir sind auf Lager spezialisiert und haben bereits im Irak und im Jemen | |
für das UNHCR gearbeitet“, erzählt der Entwicklungsdirektor des | |
Tazweed-Konzerns Laith al-Jazi zwischen Regalen voller Produkte, die aus | |
Kuwait importiert sind. „Ich halte die Konkurrenz für sehr gesund. Sie | |
garantiert, dass der Service gut ist. Und die Flüchtlinge, oder besser | |
gesagt die Leistungsempfänger, profitieren von den günstigen Preisen.“ | |
Laut WFP sind die Profite der beiden Supermärkte auf diesem | |
monopolistischen Markt auf 5 Prozent ihres Umsatzes beschränkt. | |
Kleinschmidt, der nach seinem Job als Lagerleiter (er war von 2013 bis 2016 | |
in Zaatari) heute als offenbar einflussreicher, unabhängiger Berater | |
arbeitet, würde das private Outsourcing gern weiter ausbauen und die | |
humanitäre Wohlfahrt ganz abschaffen. So schlägt er beispielsweise vor, | |
dass man den Geflüchteten, die in den Lagern kleine Läden aufmachen, die | |
Hilfsleistungen, die sie erhalten, direkt in Rechnung stellt. „Für mich ist | |
das allgemeine Hilfesystem sehr ungesund. Was soll das? Am Ende kommst du | |
in deine Heimat zurück und fragst die Regierung: Was kriege ich hier | |
gratis? Alles hat einen Preis. Unser Wirtschaftsmodell beruht nun mal | |
darauf, dass du für jede Dienstleistung, die du in Anspruch nimmst, | |
bezahlen musst.“ | |
Anfang der 1980er Jahre erklärte der Philosoph Michel Foucault in einer | |
Rede über die damals aus Vietnam geflohenen Boatpeople: „Diese Flüchtlinge | |
sind die ersten unter freiem Himmel Eingesperrten.“ Hätte er sich | |
vorstellen können, dass sie dafür eines Tages auch noch bezahlen müssen? | |
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz | |
6 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Nicolas Autheman | |
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