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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Die Filterblasen müssen platzen
> Nach der Euphorie über das Internet folgt die Depression. Statt Befreiung
> schafft es Leere. Der Widerstand dagegen könnte uns der Revolution näher
> bringen.
Bild: Wir müssen die Filterblasen zerplatzen lassen, um wieder miteinander dis…
„Der Spätkapitalismus ist wie dein Liebesleben: Durch einen
Instagram-Filter sieht alles viel weniger trostlos aus.“ Laurie Penny
Die Ernüchterung über das Internet ist eine Tatsache: Aufklärung bringt uns
nicht Befreiung, sondern Depression. Die einst märchenhafte Aura, die
unsere geliebten Apps, Blogs und sozialen Medien umgab, hat sich
aufgelöst. Swipen, Teilen und Liken fühlt sich an wie seelenlose Routine.
Wir haben zwar schon angefangen, uns zu entfreunden und zu entfolgen
(unfollow), aber wir können uns nicht leisten, unseren Facebook-Account zu
löschen, das wäre sozialer Selbstmord. Wenn Wahrheit das ist, was die
meisten Klicks produziert, wie Evgeny Morozow behauptet, scheint ein
genereller Klick-Streik die einzig mögliche Option zu sein. Da der nicht
stattfindet, fühlen wir uns gefangen.
Die Frage ist, wie sich diese Unzufriedenheit in der gesamten Architektur
des Internets niederschlagen wird. Werden wir eine Renaissance lokaler und
regionaler Netzwerke erleben, da die Globalisierung als
Organisationsprinzip unter Beschuss steht? Was ist Techno-Reue?
Alles beschleunigt sich, das muss das katastrophische 21. Jahrhundert sein,
auf das uns so viele Filme vorbereitet haben. Aber es ist nicht das Leben,
das kinematografisch geworden ist; es sind Filmszenarien und -effekte, die
die großen Entwürfe unserer technologischen Gesellschaften formen. Wir
befinden uns heute in der Science Fiction früherer Jahre. Minority Report
ist jetzt ein techno-bürokratisches Software-Feature, angeheizt durch die
fortschreitende Integration einst getrennter Datenströme. Die
Reality-TV-Shows, in denen Trump früher auftrat, haben sich als Probelauf
erwiesen. Durch die Oculus-Rift-Brille fühlt sich die virtuelle Realität
heute an wie The Matrix.
## Keine Chronologie, nur das ewige Jetzt
In den Post-Brexit und Trump-Ereignissen gibt es keine Chronologie, keine
Entwicklung, keinen Anfang oder eine Mitte, geschweige denn ein Ende. Nur
die Intensität des sich ewig wiederholenden Jetzt. Was passiert, wenn die
Aufregung der Informationssättigung in ein tiefes Gefühl der Leere
umschlägt? Wenn wir über diesen Punkt hinaus sind, wird das Digitale weder
verschwinden noch wird es sich materialisieren. Die niemals endenden Ströme
kulminieren nicht mehr in einem altrömischen Spektakel. Stattdessen
erfahren wir das Simulakrum als vorrangige Realität.
Die tausend Plateaus (nach Deleuze und Guattari) der Tweets, Blogs,
Instagram- und Facebook-Postings schaffen eine Kultur der tiefen
Verwirrung. Fragmentierung und Vielfalt hätten uns bereichern sollen. So
wie es ist, war es nicht geplant. Ist das die „Differenz“, die wir einmal
angestrebt haben?
Unsere Social-Media-Wut ist nicht nur ein pathologischer Zustand von
wenigen; sie gehört zur conditio humana. Es herrscht geistige Erschöpfung
(#sleepnomore). Mit leeren Händen diskutieren wir über eine machtlose
Database-Kritik nach der anderen. Um es in räumliche Begriffe zu bringen,
der Cyberspace hat sich als ein Raum entpuppt, der ein Haus enthält, das
eine Stadt enthält, und ist in eine flache Landschaft kollabiert, in der
sich die geschaffene Transparenz in Paranoia verwandelt. Wir sind nicht in
einem Labyrinth verloren, sondern ins Offene geworfen, beobachtet und
manipuliert, ohne irgendeine Kommandozentrale in Sicht.
Eine entscheidende Rolle im Zerfallsprozess spielen die Mainstream-Medien.
Während ihre Deutungshoheit schwindet, wird ihr Einfluss immer noch als
signifikant betrachtet. Ihre Rolle als Clearingstelle für Tatsachen und
Meinungen wurde von wachsenden Zentripetalkräften in der Gesellschaft
untergraben, die Gefühlslagen (und Interessen) der Babyboomer nicht mehr
als legitimierten Konsens hinnehmen.
Die Unfähigkeit der „Mainstream-Medien“, mit den Veränderungen in der
Gesellschaft umzugehen, hat eine Kultur der Gleichgültigkeit
hervorgebracht. Die blinden Flecken in den Theorien der postmodernen
Generationen sind zu zahlreich, um sie aufzulisten. Der große Elefant im
Raum ist Jürgen Habermas. Viele von uns hängen immer noch seiner
Vorstellung von der bürgerlichen öffentlichen Sphäre an, als einer Arena,
in der verschiedene Meinungen im rationalen Dialog miteinander
konkurrieren. Doch im Internetzeitalter ist es nicht mehr möglich, eine
sichere, geschützte Habermas’sche Sphäre herzustellen, die auf einem
nationalen Konsens beruht. Was in diesem neuen Kontext ist denn
„Gegenöffentlichkeit“? Der nutzergenerierte Content von 4chan, Reddit und
YouTube?
## Meme statt einer Debatte
Der rationale, zurückhaltende Ansatz scheitert an den ironischen Strategien
dieser Kultur der Meme. Meme, ikonische Bilder und Slogans, die durch das
Internet reisen, fassen Argumente zusammen und ermöglichen einfache
Beurteilungen komplexer Probleme, mit dem allgemeinen Ziel, zu
beschleunigen und die öffentliche Debatte überflüssig zu machen.
Meme verkörpern die Krise der „partizipativen Kultur“. Während für die
Prä-Internet-Babyboomer-Generation Bildung synonym war mit der Fähigkeit,
Quellen zu hinterfragen, Meinungen zu dekonstruieren und aus quasineutralen
Botschaften Ideologien abzulesen, geht es nun um die Fähigkeit, eigene
Inhalte in Form von Antworten, Beiträgen, Blog-Postings,
Social-Media-Updates und Bildern zu produzieren.
Der Übergang vom kritischen Konsumenten zum kritischen Produzenten hat
einen Preis: Informationsinflation. (Die gut gemeinte „Prosumer“-Synthese
kam nie zustande.) Jeder kann Meme erzeugen, aber was bedeutet es, wenn
deren Botschaft das Ende einer rationalen und ausgewogenen
Diskussionskultur ist? Sollten wir die Meme ignorieren und wünschen, dass
sie verschwinden – oder lieber Kulturtechniken kopieren, in der Hoffnung,
dass wir das Unbehagen in eine andere Richtung steuern können?
Die aktuelle Situation erfordert ein Umdenken im Hinblick auf die üblichen
Forderungen nach „Medienkompetenz“. Wie kann die Öffentlichkeit besser
informiert werden? Wie können wir Filterblasen durchlöchern? Wie könnten
wir die Wirkung des Facebook-Newsfeeds auf seine Nutzerbasis analysieren?
Wenn wir den Algorithmen die Schuld geben, wie können wir ihre verborgene
Komplexität für ein großes Publikum übersetzen?
## Winzige Nachrichten mit ungeheurem Fallout
Techniken wie Leaks, Fake News, Social Bots, Kompromat und Agitprop machen
die Situation noch verwirrender. Es ist gar nicht mehr nötig,
Wahlergebnisse direkt zu manipulieren. In dieser „postfaktischen Ära“ sind
wir den Ad-hoc-Überzeugungen von Promikommentatoren ausgeliefert. Schauen
Sie sich die Tweets von Donald Trump an, eine ultimative Form der
Medienkompetenz und perverse Manifestation der Selbstentfaltung. Private
Tweets sind von Politik, staatlicher Propaganda und Infokrieg nicht mehr zu
unterscheiden.
Die Macht arbeitet nicht mehr durch die Verführung mittels pornografischer
Überexposition von hochauflösenden Bildern. Das ist nicht Big Data, sondern
eher Singular Data – winzige Nachrichten mit einem ungeheuren Fallout. Auf
dieser Ebene verlassen wir den Herrschaftsbereich sowohl des
Hollywood-Glamours als auch des Reality-TVs und betreten das Echtzeitreich
der „Kommunikation mit Konsequenzen“, einem Hybrid der nächsten Stufe, in
dem souveräne Exekutivmacht und Marketing untrennbar werden.
Wir sind immer noch von Medienereignissen überwältigt, die sich in
Echtzeit entfalten, aber was passiert, wenn sie uns nicht mehr
beeindrucken? Ist das Spektakel vielleicht die Vernebelung drastischerer,
langfristigerer Maßnahmen?
## Die Entstehung eines Paralleluniversums
Wir müssen die Überfülle der Produktion hinter uns lassen und das Problem
der fehlenden Filter, Plattformen und Verbindungslinien angehen. Lasst uns
einen Plan formulieren, um die Meme-Kultur abzulenken. Die politisch
korrekten Strategien der „Zivilgesellschaft“ sind allesamt gut gemeint und
mit wichtigen Themen verknüpft, scheinen sich aber in Richtung eines
Paralleluniversums zu bewegen, ohne auf das zynische Muster der Meme, das
in die Schlüsselpositionen der Macht vordringt, reagieren zu können.
Gibt es Möglichkeiten, nicht nur mit Zensur und moralischen Urteilen
zurückzuschlagen, sondern einen Schritt voraus zu sein? Wie können wir von
Daten zu Dada kommen und zur Avantgarde des 21. Jahrhunderts werden, die
den technologischen Imperativ wirklich versteht und zeigt, dass wir das
Soziale in den sozialen Medien sind?
Sobald wir den Widerstand als organisierte Einmischung verstehen, können
wir mit dem Gegen-Mapping beginnen, dem Schweigen zuhören und den
hysterischen Realismus ans Licht bringen, der so lange versteckt war. Wir
verlangen, stabile Löcher in die selbstverständliche Infrastruktur des
Alltags zu sprengen. Wie wir von den Silicon-Valley-Business-Gurus lernen
können, reicht Störung aus, um anfällige und voneinander abhängige
Infrastrukturen über ihre sinnlosen Routinen zu Fall zu bringen. Es ist
viel einfacher, als wir denken. Das bringt auch die Möglichkeit einer
Revolution näher – ein Ereignis, das, 100 Jahre nach 1917, selbst die
dogmatischsten Kritiker des neoliberalen Regimes bis vor Kurzem für
ausgeschlossen hielten.
Aus dem Englischen von Andreas Kallfelz
8 Apr 2017
## AUTOREN
Geert Lovink
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