# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Mein Nachbar wählt Front National | |
> Ein linker Aktivist zieht in die französische Provinz. Arbeitslosigkeit, | |
> Frustration und Abwanderung bestimmen den dortigen Alltag. | |
Bild: Auf dem Lande wird auch Front National gewählt | |
Mit Begeisterung war ich dabei, wenn es darum ging, Veranstaltungen des | |
Front National aufzumischen, seine Affären an die Öffentlichkeit zu zerren | |
und mit „Experten“ sein Parteiprogramm auseinanderzunehmen. Aber | |
tugendhafte Empörung verhindert keine Stimmen für Le Pen. Heute erlaube ich | |
mir sogar die Frage, ob vermeintliche moralische Überlegenheit [1][nicht | |
eher ihren eigenen „Klassismus“ offenbart]. Man kennt keinen Le-Pen-Wähler, | |
kein FN-Mitglied persönlich, hält sie aber für Wesen, die von niedrigen und | |
beängstigenden Instinkten gesteuert sind. | |
Dazu zwei Beispiele: Die Liga für Menschenrechte schrieb im November 2013 | |
in einer Presseerklärung: „Verbannen wir Dummheit und Zynismus, lehnen wir | |
Hass und Rassismus ab!“, und wetterte gegen „Dummheit und Unwissenheit, die | |
alle Ebenen des gesellschaftlichen Lebens verseuchen“. Und im Februar 2012 | |
rief die Zeitschrift La Règle du jeu dazu auf, jeden Tag den Front National | |
zu beschimpfen, der „das ganze verfaulte und ranzige Frankreich“ in sich | |
vereinige. „Wir müssen uns gehen lassen, nicht mehr versuchen, zu | |
überzeugen!“ | |
Am Abend der Präsidentschaftswahl vom 21. April 2002 versammelten wir | |
Wahlkämpfer uns erschöpft und besorgt in der Pariser Mutualité. Momente des | |
Wartens, zwei Stunden Ungewissheit und Angst. Um 20 Uhr das Endergebnis: Le | |
Pen vor Jospin! Betroffen, fassungslos gingen wir zur Parteizentrale, vor | |
Enttäuschung den Tränen nah. Angesichts der Niederlage, des triumphierenden | |
Feindes waren wir einander plötzlich sehr nah. Aus voller Kehle brüllten | |
wir die „Internationale“, mehrmals hintereinander, mit erhobenen Fäusten. | |
An den Rest der Nacht erinnere ich mich wie an ein Märchen. Keiner weiß | |
mehr, wer die Losung ausgegeben hat. Alle ins Auto! Eng zusammengepresst, | |
fuhren wir Richtung Odéon. Erst vierzig, dann fünfzig, hundert, | |
zweihundert, bald kamen andere dazu, Ras l’front, Anarchisten, Studenten, | |
Grüne, Kommunisten. Um was zu tun? Wir wussten es nicht. Da sein, gegen Le | |
Pen. Aber wie? Keine Ahnung. | |
## Einfach nur da sein | |
Da sein, einfach nur da sein. Vereint in der gleichen Verzweiflung, | |
erschüttert über das „Votum der Franzosen“, das alle unbestrittenen Werte, | |
alle unbestreitbaren Glaubenssätze, die unser Leben ausmachen, infrage | |
stellte. „Was für ein Glück, es fängt an, keine Ahnung, wo es aufhört“, | |
sagte Sophie, Lehrerin, Gewerkschafterin, seit zwanzig Jahren in der | |
Kommunistischen Liga. In der Mutualité war sie von Gruppe zu Gruppe | |
gegangen und hatte wiederholt: „Wenn er an die Macht kommt, landen wir im | |
Lager.“ Eine Art Standing Ovation für uns selbst, mit der wir das Recht | |
einforderten, „genau so zu sein, wie wir sind“, sagte Françoise, | |
Krankenschwester, Mitglied der Commission LGBT. | |
Wir hielten uns warm, wir „hielten durch“. Unter den Neuankömmlingen viele | |
Bekannte, man umarmte sich, hielt sich lange umschlungen, wollte sich kaum | |
loslassen. Die Blicke für einander waren voll schmerzlicher Zuneigung und | |
Dankbarkeit. | |
Bald waren wir Tausende, ein Wirbelsturm. Manche kamen mit dem Fahrrad, mit | |
geröteten Wangen, manche hüllten sich in Fahnen oder schwenkten sie, | |
breiteten sie auf Bänken aus, ließen sie dort zurück, Paare hielten sich | |
bei den Händen, auch Kinder waren da. Wohin gehen wir? In der Spontaneität, | |
dem Gedränge wussten wir es nicht. Wir hatten kein Ziel, zogen hierhin, | |
dorthin, strömten in die Seitenstraßen, eine verlorene Polonaise, der man | |
in der milden Nacht von den Balkons applaudierte. | |
So ließ es sich leben, gereizt, verletzt, wütend, aber beruhigt von der | |
Wärme der Gemeinsamkeit. Arnaud, um die vierzig, Biologe und Verteidiger | |
des Deep Web, sagte zu mir: „Die Menschen sind zu schön für Le Pen.“ | |
Die Nacht wurde heller, rötete sich. Der lange, bitter-fröhliche Marsch | |
erstreckte sich über das 10. und 11. und die Ausläufer des 12. und 20. | |
Arrondissements, vereinte Demonstranten, für die es keinen Zwang gab, früh | |
aufzustehen. In den Arbeitervierteln oder jenseits des Autobahnrings bekam | |
niemand etwas davon mit. Nirgends sonst gab es etwas Ähnliches. In ihrem | |
Wahl-, Wohn-, Lebenskreis demonstrierten die, die sich durch das Votum für | |
Le Pen plötzlich fremd fühlten in der Gesellschaft, die sie hatten erobern | |
wollen. Die FN-Wähler haben uns nicht gesehen. Sie wohnen nicht in unseren | |
Vierteln. | |
## Schon drei Mal entlassen | |
Seit drei Jahren lebe ich mit meiner Lebensgefährtin im Departement Aisne, | |
zwischen Chauny, Soissons, Noyon und Vic-sur-Aisne, inmitten von | |
Rübenfeldern und Fasanen. Eine Ortschaft mit zwanzig Häusern. Abgesehen von | |
zwei Paaren, die sich gegenseitig einladen, besucht niemand niemanden. | |
Viele Alte verschanzen sich in ihren Häusern. Unsere Fastnachbarn, zehn | |
Autominuten entfernt, sind Éric und Anissa. „Zitronenbäume, das ist mein | |
Traum“, sagt Éric. „In deinem Treibhaus vergisst du alles, da gibt es keine | |
Idioten, die dir auf die Nerven gehen. Anissas Vater züchtet Zitronenbäume, | |
er ist rund um die Uhr in seinem Treibhaus, das erinnert ihn an seine | |
Heimat. Ich mag ihn sehr.“ | |
Éric, 48, ist Facharbeiter in der Verpackungsindustrie, arbeitet mit | |
Polyester und beschichtetem PVC. Vorher hat er sechzehn Jahre in Soissons | |
beim Baustoffkonzern Saint-Gobain gearbeitet: „Alles, was mit Glas zu tun | |
hat, geht den Bach runter.“ Anissa, deren Eltern in den 1970er Jahren aus | |
Marokko gekommen sind, ist Verkäuferin. Sie ist 43. Dreimal wurde sie schon | |
entlassen, weil der Laden schloss. Ihr Exmann, den sie wegen Éric von einem | |
Tag auf den anderen verlassen hat, überlässt ihr ihre beiden Mädchen zu | |
selten, und sie „könnte ständig heulen“, weil sie ihre Lieblinge vermisst. | |
Anissa und Éric sind verheiratet, sie sparen und investieren ihr Geld in | |
den Mietkauf ihres Hauses, „ein richtiges Haus, eins aus Stein“, wie Anissa | |
sagt. Auf der Arbeit hat Éric Praktikanten, „die hören dir kaum zu, | |
interessieren sich nur für ihr Videozeug und nehmen Drogen. Neulich hat | |
mich einer gefragt, ob ich ihm einen Film mailen kann, damit er sieht, wie | |
die Maschine funktioniert . . . Ich hab ihn gefragt, ob er keine Ohren hat | |
oder mich für bescheuert hält.“ Schafft es deine Firma? „Da ist alles im | |
Ami-Stil, sogar der Empfang, du kapierst kein Wort, und sie entlassen | |
ständig, da wird keiner verschont.“ | |
Éric und Anissa geben uns Salat, Kürbisse und Radieschen. Von uns bekommen | |
sie Nüsse und Himbeeren. Wir treffen uns zum Apéro. Irgendwann hat mir Éric | |
erzählt, er sei lange „ein bisschen rassistisch“ gewesen, aber das sei | |
vorbei, seit sie im Senegal waren (im Club Med, ihre einzige Reise). Dort | |
spielten sie die ganze Nacht lang Domino mit dem Hotelpersonal, das waren | |
„coole Jungs“. Was ihn „ein bisschen rassistisch“ gemacht hatte, war, d… | |
Anissa „beinahe geflogen wäre, weil sie den Scheck eines Schwarzen | |
angenommen hat, ein ganz junger Kerl, eine richtig hohe Summe, aber er war | |
gefälscht . . . dabei hat sie sich sogar den Ausweis zeigen lassen!“ | |
## Verrammelte Geschäfte und kein Internet | |
An einem Nachmittag in seinem Treibhaus, wir hatten schon einiges getrunken | |
in der stickigen Luft über dem fruchtbaren, fetten Boden, verriet mir Éric: | |
„Erzähl Anissa nichts davon, sie will nicht, dass wir es dir sagen, weil du | |
Pariser bist, aber ich habe Marine gewählt, zweimal sogar. Wenn ich die | |
Frau höre, kriege ich Gänsehaut. Ich weiß nicht, es ist, wie sie über die | |
Franzosen spricht, das macht dich stolz. Ich kenne einige hier in der | |
Gegend, denen Marines Partei echt geholfen hat. Ich war kurz davor, | |
einzutreten und alles, aber dann habe ich es mir überlegt, hab auch | |
aufgehört, sie zu wählen . . . Ein Jahr lang waren wir mit Thierry und | |
Marie-Paule deswegen verkracht . . . Sie ist so eine Rote, arbeitet im | |
Collège, in der Kantine. Sie wollten uns nicht mehr sehen. Aber das ist | |
doch Schwachsinn! Wärst du deswegen sauer? Findest du das schlimm?“ | |
Ich habe nicht geantwortet, ich war betrunken und erstickte fast am | |
schweren Geruch des Treibhausgemüses. Ich fand es auch nicht schlimm. | |
Vielleicht, weil sich mein Dasein auf dieses kleine Nest verengt hatte. | |
Vielleicht, weil ich seit drei Jahren kaum noch Aktivisten sah. Vom | |
Hundertprozentigen war ich zum Aktivisten im Ruhestand geworden. Vielleicht | |
auch, weil ich nicht mehr beweisen muss, dass ich ein mustergültiger | |
Aktivist bin, weil mich das beschränkte Milieu, in dem mein politisches | |
Engagement Bestätigung findet, weiterhin anerkennt. Vielleicht aber auch, | |
weil Éric zu den Menschen gehört, die man in besserer Stimmung wieder | |
verlässt. | |
Auf jedem Weg zum Supermarkt treffe ich einsame Menschen ohne einen Cent. | |
Ich fahre über Straßen voller Schlaglöcher, einige sind ganz gesperrt. In | |
den Dörfern, durch die ich komme, gibt es keine Post, keinen Arzt, keine | |
Hebamme, keine Apotheke mehr, kaum eine Kneipe, keinen Internetzugang, nur | |
verrammelte Geschäfte und an manchen Fenstern blau-weiß-rote Fahnen. | |
Grundschulen und Kirchen werden geschlossen. Sportvereine machen dicht. | |
Jagdvereine und Majorettegruppen finden keinen Nachwuchs. Die Zahl der | |
unbezahlten Stromrechnungen explodiert. | |
Die jungen Leute hauen ab, sobald sie können. Es gibt keine Arbeitsplätze. | |
In jedem Dorf stehen alte, verfallene Häuser zum Verkauf. In Noyon, Chauny, | |
Compiègne und Soissons werden jeden Winter Züge gestrichen. Auch die Busse | |
fahren immer seltener. An den Ortseingängen stehen knallgelbe Schilder, | |
darauf ein Auge (mit himmelblauer Iris) und die Warnung „Wachsame | |
Nachbarn“. Trotzdem gibt es immer mehr Einbrüche. Seit zwanzig Jahren wird | |
hier alles immer nur schlimmer. | |
## Wo bleibt der Stolz? | |
Orte der Begegnung verfallen, weil sich niemand darum kümmert und weil die | |
dafür nötigen Straßen, Gelder, Verkehrsnetze schwinden. Die Gemeinden hier | |
sind, abgesehen von ein paar Reichenghettos, so gut wie pleite. Die Alten | |
sind zu arm, um ihre Kinder zu unterstützen, die Kinder zu arm, um ihren | |
Eltern zu helfen. In dieser Gegend erreicht der FN Spitzenergebnisse. | |
Érics älterer Bruder hat den 120 Hektar großen Bauernhof der Eltern geerbt. | |
Éric hilft ihm. Sie haben lange gekämpft, jetzt müssen sie verkaufen. Nur | |
die Monokultur aus riesigen Rübenfeldern lohnt sich noch. Die Kleinbauern | |
versuchen, ihr Land abzustoßen, es wird für wenig Geld von | |
Großgrundbesitzern übernommen, deren Familien oft die Bürgermeister | |
stellen. Éric und sein Bruder haben drei Pferde. Sie wissen nicht, was sie | |
damit machen sollen: Die Haltung ist zu teuer. Der Mietkauf des Hauses ist | |
eine große Investition. Die Renovierungsarbeiten mussten Anissa und Éric | |
unterbrechen. Beiden droht die Arbeitslosigkeit. | |
Ihre Nachbarn in der Umgebung sind meist alt und arm, in fast jeder Familie | |
ist mindestens einer arbeitslos. Und dann wohnen da noch die „Pariser“, die | |
offenbar „eine ruhige Kugel schieben“: höhere Angestellte oder | |
Freiberufler, die in Compiègne, Soissons und Amiens arbeiten. Sie kaufen | |
die Bauernhäuser wegen ihres „Charakters“ (und ihres Preises) und bauen sie | |
dann völlig um. Éric klagt, dass er auf der Arbeit von den „Jungen“ nicht | |
respektiert wird. Dabei hat er sich lange um eine Nachwuchsmannschaft | |
gekümmert, bis sein Fußballklub mit einem anderen zusammengelegt wurde. | |
Wenn er hier lebt, in dieser sterbenden Region, wenn er ohnmächtig dem | |
Zusammenbruch einer Welt zusehen muss, die „nicht mehr funktioniert“ – wie | |
könnte Éric sich da stolz fühlen? | |
Érics Wahlentscheidung fand ich nicht schlimm. Am 21. April 2002 hätte ich | |
ihn sicher verabscheut, beschimpft, superschlimm gefunden. Aber heute fällt | |
es mir schwer, in ihm den Feind zu sehen. In ihm, der, wie er sagt, „fast | |
platzt vor Liebe zu Anissa und ihren Mädchen“, der hilft, wenn Mateo auf | |
Baustellen im Verzug ist, und an Wintersamstagen Kleidung und Spielzeug | |
sammelt, um es der Kirche zu bringen. | |
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz | |
25 Jan 2017 | |
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Willy Pelletier | |
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