| # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Reaktionäre unter sich | |
| > Der Erfolg der Rechten in Europa beruht auf ihren Antworten zu Migration | |
| > und Sparpolitik. Es braucht eine solidarische Internationale. | |
| Bild: Leider gar nicht süß, die Schweinchen: Pegida in den Niederlanden | |
| Sparpolitik und Migration sind in Europa seit einiger Zeit die | |
| beherrschenden Themen. Aber erst 2015 haben sich die beiden Fragen | |
| miteinander verschränkt und dabei zwei ganz unterschiedliche Antworten | |
| produziert: Die politische Reaktion auf die Sparpolitik war ein – | |
| mittlerweile gescheiterter – Aufstieg der radikalen Linken; die | |
| Migrationswelle dagegen führte zu einem – bislang ungebremsten – Aufstieg | |
| der radikalen Rechten. | |
| Die Rechtsradikalen verdanken ihre Erfolge großteils der Tatsache, dass sie | |
| auf beide Fragen umfassende und in sich logische Antworten bieten. Für die | |
| Linke bedeutet dies, dass ihre Zukunft wahrscheinlich davon abhängt, ob sie | |
| der radikalen Rechten ihre eigenen umfassenden und stimmigen Antworten | |
| entgegenzusetzen vermag. Das wäre umso wichtiger, als die traditionelle | |
| politische Mitte an Boden verliert und selbst zunehmend extremistische | |
| Positionen bezieht. | |
| Am 17. November 2015, wenige Tage nach den Anschlägen in Paris durch die | |
| Terrormiliz Islamischer Staat, bei denen 130 Menschen getötet wurden, fand | |
| in Prag eine Kundgebung statt, bei der Tschechiens Präsident als | |
| Hauptredner auftrat. Der ehemalige Sozialdemokrat Miloš Zeman – von 1998 | |
| bis 2002 Ministerpräsident – forderte seine Mitbürger auf, sich der | |
| Gehirnwäsche durch die Massenmedien zu widersetzen, die ihnen Toleranz | |
| gegenüber Muslimen einreden wollten. Stattdessen forderte er Toleranz | |
| gegenüber Leuten, „die eine andere Meinung vertreten“ – um das Mikrofon | |
| sogleich an solche „Andersdenkenden“ weiterzureichen. Zu denen gehörte | |
| Martin Konvička vom „Block gegen den Islam“, der die „Meinung“ vertrit… | |
| man solle Muslime in Konzentrationslager stecken, die Bürgerrechte von | |
| „Moslem-Sympathisanten“ einschränken und ideologische Gegner verbrennen. | |
| Die Rede Konvičkas wurde nicht nur von Leuten bejubelt, die an die | |
| Überlegenheit der weißen Rasse und alle möglichen Verschwörungstheorien | |
| glauben, sondern auch von Hunderten ansonsten redlicher Bürger. Offizieller | |
| Anlass der Kundgebung war der nationale „Feiertag für Freiheit und | |
| Demokratie“, der an zwei Ereignisse erinnert: an den 17. November 1939 und | |
| die blutige Niederschlagung von Studentenprotesten durch die Nazibesatzer | |
| und an die Demonstrationen für Demokratie vom 17. November 1989. Offenbar | |
| lässt sich im heutigen Europa fast jeder Anlass für Hetzreden gegen die | |
| Diktatur des Multikulturalismus und insbesondere gegen die Muslime | |
| ausbeuten. | |
| ## Schwache Sozialdemokraten | |
| Politische Gruppen, die gegen die Einwanderung protestieren, sind in Europa | |
| schon seit Jahrzehnten aktiv. Größeren Einfluss erlangten sie jedoch nur in | |
| Ländern, in denen es tatsächlich viele Migranten gibt, und auch hier war | |
| die weltanschaulich begründete Xenophobie auf die extreme Rechte | |
| beschränkt. Heute zeigen Politiker wie Zeman, dass auch angebliche | |
| Vertreter der Linken und der Mitte auf fremdenfeindliche Parolen setzen. | |
| Und zwar auch in Ländern, die Masseneinwanderung nur vom Hörensagen kennen. | |
| Im heutigen Europa sieht sich die liberal-konservative bis | |
| sozialdemokratische Mitte, deren politische Hegemonie bis vor Kurzem mehr | |
| oder weniger unbestritten war, sowohl von außen unter Druck gesetzt als | |
| auch von innerer Auflösung bedroht. Zugleich schwenken die linken Parteien, | |
| die einst als linksradikal galten, auf den politischen Mainstream ein, | |
| während die alten Mainstream-Parteien rechtsradikale Positionen übernehmen | |
| oder zumindest mit ihnen liebäugeln. | |
| Extremistische und populistische Rechtsparteien sind auch in West- und | |
| Nordeuropa auf dem Vormarsch, etwa in den Niederlanden (Geert Wilders’ | |
| Partei für die Freiheit), in Österreich (FPÖ) und seit den Landtagswahlen | |
| vom 20. März in Deutschland (AfD). In Frankreich könnte der Front National | |
| (FN) die nächsten Präsidentschaftswahlen gewinnen; in Finnland gehört die | |
| rechtspopulistische Partei „Die Finnen“ seit Mai 2015 der Regierung an;1 in | |
| Dänemark verschärft die neue, von der Dänischen Volkspartei (DF) tolerierte | |
| Regierung ihren Kurs gegen die Migranten; im Nachbarland erstarken die | |
| (antidemokratischen) Schwedendemokraten (SD). Und die britische | |
| Tory-Regierung orientiert sich mit ihren Maßnahmen gegen EU-Immigranten an | |
| der Politik und Rhetorik der EU-feindlichen Ukip. | |
| ## Die Rückkehr des Faschismus | |
| In Mittelosteuropa ist die extreme Rechte bereits an der Macht. Ungarns | |
| Ministerpräsident Viktor Orbán inszeniert sich seit 2015 als Verteidiger | |
| Europas gegen die „Migrantenhorden“. In Polen kam im Oktober 2015 eine | |
| Partei an die Macht, die das Orbán-Regime bewundert und offensichtlich | |
| nachahmen will. In Tschechien und der Slowakei haben (nominelle) | |
| Mitte-links-Regierungen die Rhetorik der xenophoben Rechten übernommen. Es | |
| ist schon seltsam, dass die nationalistischen Politiker der ehemaligen | |
| jugoslawischen Republiken, die zum Teil aus den Genozidparteien der 1990er | |
| Jahre hervorgegangen sind, heute als vergleichsweise moderate und | |
| vernünftige Politiker erscheinen. | |
| Zum ersten Mal seit 1945 beschäftigt die Rückkehr des Faschismus nicht nur | |
| eine rebellische Jugend oder alarmierte Linke oder Kriegsreporter aus den | |
| ost- und südosteuropäischen Krisenregionen. Bezüge zu den 1930er und 1940er | |
| Jahren sind auch in den Mainstream-Medien an der Tagesordnung, und die | |
| Angst vor einer Wiederkehr der Vergangenheit spielt auch in privaten | |
| Gesprächen eine immer größere Rolle. | |
| Die Parallelen sind tatsächlich unübersehbar: Wieder wird eine nach | |
| Religion und Rasse etikettierte Gruppe zum Objekt von Hass und | |
| Denunziation. Hunderttausende, die vor Unterdrückung und Krieg fliehen, | |
| werden in Lager gepfercht und an den Grenzen von der Polizei angehalten und | |
| schikaniert. Und selbst wenn sie eine anständige Unterkunft finden, leben | |
| sie in Angst vor Übergriffen fremdenfeindlicher Wutbürger. | |
| Die Regierung von Dänemark, wo die Juden unter der Nazibesatzung auf | |
| bewundernswerte Weise geschützt wurden, lässt den Besitz von Flüchtlingen | |
| konfiszieren. Frankreichs Präsident François Hollande wollte Terroristen | |
| die Staatsbürgerschaft entziehen. Und das Gerede vom ewigen Konflikt | |
| unvereinbarer Kulturen, von fremden Elementen, die eine Gefahr für die | |
| nationale Reinheit darstellen, ist erneut in Mode gekommen. Im Namen der | |
| Sicherheit werden Bürgerrechte beschnitten und an vielen Grenzen | |
| Stacheldrahtzäune hochgezogen. | |
| ## Die Idylle des einfachen Lebens | |
| Dass sich die Geschichte nicht einfach wiederholt, ist ein schwacher Trost. | |
| Die neue radikale Rechte will zwar nicht in die 1930er Jahre zurück. Doch | |
| einige der aufsteigenden Rechtsparteien verbreiten romantische Visionen | |
| einer nationalen Erneuerung, die eine glorreiche Vergangenheit, das | |
| vergossene Blut und den fruchtbaren Boden beschwören. Das gilt etwa für die | |
| ungarische Jobbik, die griechische Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte) und die | |
| „Volkspartei Unsere Slowakei“, die seit den jüngsten Wahlen im Parlament | |
| von Bratislava vertreten ist. | |
| Zumeist formulieren diese Bewegungen jedoch bescheidenere Ziele und | |
| maßvollere Forderungen. Man bestreitet jegliche Sympathien für den | |
| Faschismus und bekennt sich zur Idylle des einfachen Lebens, das durch die | |
| Ankunft der Einwanderer und den Einfluss des Islams zerstört werde. Die | |
| erfolgreichsten dieser fremdenfeindlichen Kräfte propagieren eher ein | |
| unverhüllt materialistisches Programm: Sie wollen, dass der Reichtum und | |
| der Wohlstand Europas den Europäern vorbehalten bleiben. | |
| So gesehen ist die „neue Rechte“ – im Gegensatz zu den Faschisten und | |
| Nationalsozialisten der 1930er Jahre – eine durch und durch bürgerliche | |
| Bewegung, verankert vor allem in den Mittelschichten. Ihr Thema ist nicht | |
| die Wiederherstellung nationaler „Größe“, sondern die Wahrung bestehender | |
| Privilegien auch unter Bedingungen einer zunehmend vernetzten Welt. Deshalb | |
| kommt in ihren Verlautbarungen das „Volk“ viel seltener vor als das Wort | |
| „Freiheit“. | |
| Diese neue Rechte hütet sich auch, ihre Anhänger dazu aufzufordern, ihre | |
| Gegner auf der Straße zu verprügeln – das tun nur die Sympathisanten an den | |
| radikalen Rändern. Ihre Forderung lautet, dass der Gegner gar nicht erst | |
| auf der Straße auftauchen darf. Deshalb ist der Hinweis auf die drohende | |
| Masseneinwanderung „fremder Elemente“ für die neue Rechte das ideale | |
| Vehikel: Sie muss die gutbürgerlichen Massen gar nicht zu Pogromen | |
| aufhetzen; die Leute laufen ihr fast von selbst zu, weil sie sagen: „Die | |
| Not der anderen geht mich nichts an. Schickt sie weg.“ | |
| ## Preisgabe des Sozialvertrags | |
| Diese neue Rechte hat sich in einem längeren Prozess herausgebildet. Wenn | |
| Menschen sich auf ökonomischer Ebene den Marktgesetzen hilflos ausgeliefert | |
| fühlen, setzen sie auf die kulturelle Ebene. Das heißt, sie identifizieren | |
| sich mit kleineren Einheiten (Nationen oder Kulturen), von denen sie sich | |
| Schutz gegen eine Globalisierung versprechen, die sie als Bedrohung von | |
| außen wahrnehmen. | |
| Diese Politisierung ethnisch-kultureller Unterschiede wird durch eine | |
| andere Entwicklung begünstigt: durch die Preisgabe des europäischen | |
| Sozialvertrags, dem sich Christdemokraten wie Liberale und Sozialdemokraten | |
| traditionell verpflichtet gefühlt hatten. Mit der Folge, dass | |
| selbstverständliche und allgemein akzeptierte staatliche Sozialleistungen | |
| zu einem knappen Gut wurden – und damit zum Objekt politischer Konkurrenz. | |
| Als die politische Klasse der EU das Problem der Staatsverschuldung an der | |
| europäischen Peripherie anpackte, wurden ganze Staaten zu Gläubigern ihrer | |
| Nachbarn. Dadurch wurde die Konkurrenz um den Wohlstand des Kontinents | |
| weiter verschärft und „europäisiert“. Wenn aber Nationalstaaten das | |
| Wohlergehen ihrer Bürger nicht mehr garantieren können, wenn die | |
| innerstaatlichen demokratischen Verfahren durch eine übernationale | |
| EU-Bürokratie ausgehöhlt werden, beginnt das Vertrauen ins parlamentarische | |
| System zu schwinden. Im Süden bestrafen die Wähler die alten Parteien für | |
| den „Ausverkauf“ an die Gläubiger; umgekehrt werden in Mittel- und | |
| Nordwesteuropa die alten Parteien abgestraft, weil sie dem | |
| „verschwenderischen“ Süden zu sehr entgegengekommen sind. | |
| Das Europa, das viele Migranten im Sommer 2015 als Fluchtziel ansteuerten, | |
| war also ein durch innere Konkurrenz zerrissener Kontinent. Viele nahmen | |
| die Migranten nur als eine weitere Gruppe wahr, mit der man teilen sollte. | |
| Und die Nationalstaaten projizierten ihre Angst vor einem weiteren Verlust | |
| nationaler Souveränität auf eine Gruppe völlig machtloser Menschen. | |
| ## Die Kultur sicherer Straßen | |
| Diejenigen, die durch die Globalisierung bereits verunsichert waren, sahen | |
| die „Migrantenflut“ als Resultat von Marktmechanismen, die zumindest | |
| teilweise schuld an den Hungersnöten und Kriegen waren, vor denen diese | |
| Menschen flüchteten. Verstärkt wird diese Angst durch die Wahrnehmung einer | |
| muslimischen Gefahr, die durch Ereignisse wie die Kölner Silvesternacht und | |
| Attentate wie die in Paris und Brüssel immer wieder wachgerufen wird. | |
| Die Anti-Islam-Rhetorik und der „Kampf der Kulturen“ prägen inzwischen die | |
| Programme der neuen Rechten. Dabei spielt die Kraft der eigenen | |
| Nationalkultur, die für viele ältere Nationalismen so wichtig war, kaum | |
| noch eine Rolle. Für die neue Rechte ist die eigene Kultur nicht die der | |
| Masaryks und Goethes, der Wiener Staatsoper oder der Budapester Cafés, | |
| sondern die Kultur ausgeglichener Staatshaushalte und sicherer Straßen – | |
| also von Recht und Ordnung, abgerundet durch die Freiheiten der hart | |
| arbeitenden Mittelklasse. | |
| Obwohl die neue Rechte den Hass auf die EU pflegt, gibt sie sich als ein | |
| idealisiertes Europa von Menschen, deren materielle Errungenschaften durch | |
| die Eindringlinge bedroht seien. Und selbst lang verfeindete EU-Länder eint | |
| heute die Angst vor Muslimen und Flüchtlingen. In Ostmitteleuropa zum | |
| Beispiel war der Zusammenhalt zwischen den Nationalisten vielleicht noch | |
| nie so stark wie heute, da die Regierenden in Ungarn, Polen, der Slowakei | |
| und Tschechien sich gegenseitig zu ihrer harten Politik gratulieren. | |
| Auch in den anderen Ländern der Region spielt die neue Rechte die | |
| Mittelklasse gegen die unteren und marginalisierten Schichten aus. Sie | |
| beruft sich dabei auf eine sehr spezielle Vorstellung von Egalitarismus, | |
| die Ausländer ebenso ausschließt wie angeblich unproduktive Menschen im | |
| eigenen Land – beispielsweise Roma, Arbeitslose und verweichlichte | |
| Intellektuelle. Und wenn sie von „Freiheit“ spricht, meint sie vor allem | |
| die Freiheit der Erfolgreichen, ihren redlich verdienten Reichtum zu | |
| genießen. | |
| ## Verlustängste der Wohlhabenden | |
| Viele vernünftige Europäer sind entsetzt über diese neue, grassierende | |
| Fremdenfeindlichkeit, die dem etablierten liberal-demokratischen Konsens | |
| zutiefst widerspricht. Im Westen und im Norden Europas lässt sich die neue | |
| Rechte den faschistischen Restbeständen zurechnen, die nie ganz von der | |
| politischen Szene verschwunden waren. Im Osten kann man darauf verweisen, | |
| dass die Menschen nur begrenzte Erfahrungen mit Demokratie und Multikulti | |
| haben und das liberale Wertsystem noch nicht internalisiert haben. | |
| Allerdings besteht kein erkennbarer Zusammenhang zwischen zunehmender | |
| Fremdenfeindlichkeit und einem Defizit an liberalen Werten. Westliche | |
| Medien berichten zwar ausführlich über die Angstmache der politischen | |
| Führer in Ostmitteleuropa, aber in den alten Demokratien des Westens und | |
| Nordens scheint die Xenophobie auch nicht viel schwächer ausgeprägt zu sein | |
| als in den weniger demokratieerprobten postkommunistischen Ländern. Und | |
| auch das könnte sich bald ändern. | |
| Auffällig ist weiterhin die äußerst schwache Korrelation zwischen | |
| Fremdenfeindlichkeit und der tatsächlichen Anzahl von Migranten – die in | |
| den meisten postkommunistischen EU-Staaten sehr niedrig ist. Und auch als | |
| Reaktion auf ökonomische Not und die Konkurrenz um Arbeitsplätze wird man | |
| die Xenophobie kaum sehen können. Sie erscheint eher als die Ideologie von | |
| Menschen, die weder sehr reich noch sehr arm sind, sondern zu den relativ | |
| Wohlhabenden gehören und große Angst vor dem Verlust ihres Wohlstands | |
| haben. Das sieht man etwa an der italienischen Lega Nord, die Ressentiments | |
| gegenüber dem ärmeren Süden bedient, oder in Frankreich, wo der Front | |
| National Ängste vor einem Niedergang des Landes schürt. Entsprechend findet | |
| die neue Rechte in Ländern, die lange einen großzügigen Sozialstaat und | |
| gesicherte Arbeitnehmerrechte hatten, mehr Zuspruch unter einheimischen | |
| Arbeitern, die Angst um ihre Zukunft haben. | |
| In den postkommunistischen Ländern Ostmitteleuropas kommt der Aufstieg der | |
| neuen Rechten kurz nach einer Phase der langen Depression, die beschönigend | |
| als „Übergang zur Marktwirtschaft“ bezeichnet wurde. Hier biedert sich die | |
| neue Rechte einer Mittelklasse an, die nicht verlieren will, was sie sich | |
| so hart erkämpft hat – und die nach 1989 der Idee verfallen ist, dass sie | |
| ihren Wohlstand mit niemanden teilen müsse. | |
| ## Rigorose Sparpolitik | |
| Eine wesentliche Rolle für die Entstehung dieser Vorstellungen haben die | |
| liberalen Werte gespielt. Am deutlichsten wird der Zusammenhang zwischen | |
| Liberalismus und Fremdenhass bei Parteien wie der niederländischen | |
| „Freiheitspartei“ unter Führung des Rechtspopulisten Geert Wilders und der | |
| slowakischen „Freiheit und Solidarität“ (SaS), die heute die zweitstärkste | |
| Partei im Parlament ist. Beide treten für Unternehmerfreiheit wie für | |
| Homosexuellen- und Transgender-Rechte ein, die sie zu Merkmalen | |
| europäischer Überlegenheit erklären. Erinnern wir uns auch, dass sowohl die | |
| Freiheitliche Partei Österreichs als auch der Ungarische Bürgerbund | |
| (Fidesz) als liberale Parteien begonnen haben. | |
| Die liberalen Eliten jammern über die neuen illiberalen Tendenzen, lassen | |
| aber wenig Einsicht erkennen, dass sie selbst zu dieser Entwicklung | |
| beigetragen haben. Jahrzehntelang haben diese Eliten das Evangelium der | |
| Eigenverantwortung verkündet, besonders inbrünstig in Ostmitteleuropa. Aber | |
| jetzt fallen sie aus allen Wolken, dass niemand mehr für die Not der | |
| anderen zuständig sein will. Diese Eliten haben ständig gepredigt, dass man | |
| um des künftigen Wohlstands willen Opfer bringen und den Gürtel enger | |
| schnallen müsse. Aber nun, da ihre Volkswirtschaften endlich wachsen, | |
| wundern sie sich, dass die Leute ihr Geld zusammenhalten wollen. | |
| In den etablierten Demokratien Europas hat der Liberalismus, während er | |
| gegen den Rechtsextremismus kämpft, selbst extreme Formen angenommen: | |
| konservative, sozialdemokratische und liberale Parteien haben sich dem | |
| Marktfundamentalismus und rigoroser Sparpolitik verschrieben und von ihren | |
| sozialen Verpflichtungen verabschiedet. Und ein wachsender Teil der | |
| Bevölkerung findet sich mit den neoliberalen Rechtfertigungen für | |
| Ausgrenzung und Ungleichheit ab, kann jedoch das liberale Credo kultureller | |
| Gleichheit und Integration überhaupt nicht akzeptieren. | |
| ## Zwangsarbeit für Arbeitslose | |
| Im entscheidenden Moment der Verhandlungen über das griechische | |
| Rettungsprogramm im Juli 2015 bezog der slowakische Ministerpräsident | |
| Robert Fico eine harte Haltung gegenüber Athen, die er mit den eigenen, | |
| schmerzhaften Erfahrungen der Transformationsperiode rechtfertigte: „Die | |
| Griechen können sich gar nicht ausmalen, was die Slowakei damals | |
| durchgemacht hat.“ Statt die absurden ökonomischen Begründungen des | |
| deutschen Finanzministers zu übernehmen, ließ er die Griechen knallhart | |
| wissen: Wir haben gelitten und werden dafür sorgen, dass ihr auch leidet. | |
| Was wir heute besitzen, haben wir uns verdient – und euch geben wir davon | |
| nichts ab. | |
| Einige Monate später stand Fico an der Spitze der Opposition gegen die | |
| Aufnahme von Flüchtlingen – und konnte sich dabei praktisch derselben | |
| Rhetorik bedienen. Dabei muss man wissen, dass Ficos Partei Smer-SD | |
| (Richtung – Sozialdemokratie) die Wahlen von 2012 mit einem | |
| Antiausteritätsprogramm gewonnen und dieses Programm dann bis zu einem | |
| gewissen Grad auch erfüllt hat – nämlich für die anständigen, hart | |
| arbeitenden Bürger der Slowakei. | |
| Derselbe Robert Fico, der lautstark härteste Bedingungen für die Griechen | |
| und die totale Abschottung seines Landes gegen muslimische Flüchtlinge | |
| fordert, hat im eigenen Land für Arbeitslose eine Art Zwangsarbeit | |
| eingeführt, die speziell auf die slowakischen Roma zielt. Ficos Regierung | |
| will auch die Mittel für Forschungsprojekte in den Sozial- und | |
| Geisteswissenschaften drastisch kürzen, weil es sich dabei nicht um | |
| produktive Aktivitäten handle – wodurch implizit den Akademikern nachgesagt | |
| wird, sie seien ebenso faul wie Roma, Einwanderer und Griechen. | |
| ## Das Versagen der Mitte-links-Parteien | |
| Im März 2016 konnte Ficos Smer sich an der Macht behaupten, nachdem sie im | |
| Wahlkampf nur noch auf befestigte Grenzen und nationale Sicherheit gesetzt | |
| hatte. Doch diese Strategie hatte nicht das erhoffte Ergebnis. Die Wähler | |
| bedankten sich für die Angstkampagne, indem sie massenweise von der Smer zu | |
| noch radikaleren Parteien überliefen. Zum Beispiel zur libertären „Freiheit | |
| und Solidarität“ und der radikal-nationalistischen Slowakischen | |
| Nationalpartei (SNS); oder zur antiislamischen Partei „Wir sind eine | |
| Familie“, die der Unternehmer Boris Kollár nur drei Monate vor der Wahl | |
| gegründet hatte, oder gleich zur neofaschistischen „Volkspartei Unsere | |
| Slowakei“. Dadurch fiel die Smer auf 28 Prozent, nachdem sie 2012 noch 44 | |
| Prozent der Stimmen erhalten hatte. An der Macht halten konnte sie sich | |
| nur, indem sie eine Koalition mit SNS und zwei weiteren rechten Parteien | |
| einging. | |
| Zwischen dem liberalen Establishment und der neuen Rechten, zu der auch die | |
| Smer gehört, obwohl sie sich offiziell der Sozialdemokratie zurechnet, | |
| besteht jedoch ein entscheidender Unterschied: Die Liberalen verkünden | |
| „Austerität für alle“, die neue Rechte dagegen verspricht „Austerität … | |
| die anderen“ und „Wohlstand für uns“. Der Unterschied zwischen der neuen | |
| Rechten und der Linken wiederum besteht darin, dass die Linke „Wohlstand | |
| für alle“ fordert – wobei inzwischen bedauerlicherweise auch offiziell | |
| linke Parteien zunehmend Positionen der neuen Rechten übernehmen. | |
| Das Jahr 2015 hatte mit der Hoffnung begonnen, dass Europa einen humaneren | |
| Ausweg aus der politischen und ökonomischen Krise finden könnte. Doch die | |
| Wahlerfolge der Linken – die in Griechenland mit der politischen Demütigung | |
| der Syriza-Regierung endete – werden inzwischen längst von den Erfolgen der | |
| fremdenfeindlichen Rechten überschattet. Der Widerstand gegen die | |
| Sparpolitik ist erlahmt – oder äußert sich vor allem als Widerstand gegen | |
| die Zuwanderer. | |
| Schuld an dieser Entwicklung sind auch die europäischen | |
| Mitte-links-Parteien, weil sie das wirtschaftsliberale Credo teilen, aus | |
| dem sich die migrantenfeindliche Rhetorik nährt. Durch ihr Mitwirken am | |
| Abbau des Sozialstaats haben sie sich – mal stillschweigend, mal | |
| ausdrücklich – der neoliberalen Logik unterworfen, derzufolge Wohlstand für | |
| alle nur über eine zeitweise Verarmung von Teilen der Gesellschaft zu | |
| erreichen sei. | |
| ## Die Armen und Ausgeschlossenen | |
| Jede linke Politik beruht jedoch darauf, dass es prinzipiell nicht zu | |
| rechtfertigen ist, wenn das Wohlergehen und die Macht von ein paar wenigen | |
| nur auf Kosten aller anderen zustande kommen. Wohlstand darf kein Privileg | |
| sein. Für genau dieses Privileg tritt jedoch die Rechte, egal welcher | |
| Spielart, seit jeher ein. Sie verfolgt die Strategie, die gesellschaftliche | |
| Mitte gegen die unteren Schichten und deren Untergruppen auszuspielen, | |
| während die Oberschicht ihre Privilegien ungestört genießen kann. | |
| Die Linke ist die politische Kraft, die in ihrem Kampf für Fortschritt und | |
| Emanzipation die Privilegien der wenigen in Errungenschaften für alle | |
| verwandeln will. Aber diese Linke muss immer wieder zusehen, wie ihre | |
| Teilsiege zu Niederlagen werden: Sie setzt sich für die Armen und | |
| Ausgeschlossenen ein und schafft es, dass bestimmte Gruppen nicht mehr ganz | |
| so arm und ausgeschlossen sind. Aber die Linke bleibt nur links, wenn sie | |
| auch für jene kämpft, deren Siege noch nicht gekommen sind. | |
| Was könnte für einen so verstandenen „Klassenkampf“ wichtiger sein als der | |
| Begriff der Exklusion? Was definiert „Klasse“, wenn nicht die Beschränkung | |
| von materiellen Gütern und Privilegien auf die eine Gruppe und den | |
| Ausschluss der anderen? Im globalisierten Kapitalismus gilt dies auch für | |
| die Exklusion ganzer Regionen und für die Ausgrenzung nach ethnischen oder | |
| religiösen Kriterien, die darüber entscheiden, wer zu welchen Bedingungen | |
| Arbeit findet und ob diese Arbeit angemessen bezahlt wird. Klassen- und | |
| Migrationspolitik gehören zusammen. Die Arbeitskräfte werden immer mobiler, | |
| und doch werden ihre Wanderungsbewegungen in einer globalisierten | |
| Weltwirtschaft, die auf ebendiese Mobilität angewiesen ist, durch | |
| arbeitsrechtliche Bestimmungen eingeschränkt. | |
| Hier liegt der Grundwiderspruch in der liberalen Konzeption von | |
| Bürgerrechten und Zivilgesellschaft: Sie beruhen auf dem Prinzip der | |
| Staatsbürgerschaft. Aber von den Gütern, die in einem Land konsumiert | |
| werden, sind nur wenige von den Bürgern dieses Landes erzeugt. Die Linke | |
| müsste sich gerade um diejenigen kümmern, die von den Privilegien der | |
| Staatsbürgerschaft ausgeschlossen sind. | |
| ## Fixierung auf Wahlen | |
| Doch auf diese Aufgabe ist die Linke heute in keiner Weise vorbereitet. Wo | |
| sie auf Teilnahme an Wahlen setzt, ist sie von den Wahlberechtigten | |
| abhängig – in einer Welt, in der Staatsbürgerschaft ein | |
| Exklusionsmechanismus ist. Wobei die am meisten ausgebeuteten Arbeiter in | |
| Ländern, die von ihrer Arbeitskraft leben, keinerlei Anspruch auf | |
| Staatsbürgerschaft haben. | |
| Ein Haupthindernis für die praktische internationale Solidarität ist | |
| heutzutage die Fixierung auf Wahlen. Und zwar nicht, weil das Streben nach | |
| politischer Macht jedes zivilgesellschaftliches Engagement korrumpieren | |
| würde, sondern weil noch die ehrenwerteste Konzeption von | |
| Bürgergesellschaft darauf beruht, Bürger gegen Nichtbürger auszuspielen. | |
| Aber selbst die Linken, die Solidarität mit Migranten und dem globalen | |
| Süden üben, sind angesichts der anstehenden Aufgaben zu schwach. Es müsste | |
| ihnen gelingen, den Anstoß für eine breite, weltweite Bewegung zu geben, so | |
| dass eine neue „Internationale“ entsteht, die sich – anders als die alte | |
| „proletarische Internationale“ – nicht an nationale Grenzen hält, sondern | |
| endlich auch die Arbeiter einbezieht, die auf der ganzen Welt herumwandern. | |
| 12 Apr 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Joseph Grim Feinberg | |
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