| # taz.de -- Rechter Terror in Deutschland: Der Testfall nach dem NSU | |
| > In Freital steht eine rechte Gruppe unter Terrorverdacht, Karlsruhe | |
| > ermittelt. Hat die Polizei die Szene im Griff? | |
| Bild: Festival für Fremdenfeinde: Am 26. Juni demonstrieren Gegner der Flücht… | |
| Am Abend des 23. Juni 2015 steigt der Sohn des sächsischen | |
| Wirtschaftsministers in Freital in das Auto von Freunden. Er hat in den | |
| vergangenen Stunden für die Solidarität mit Flüchtlingen demonstriert. Sie | |
| waren wenige gewesen. Die anderen waren mehr. Und lauter. | |
| Die Kleinstadt in der Nähe von Dresden wird damals gerade in ganz | |
| Deutschland bekannt. Eine enthemmte Menge protestiert gegen die Aufnahme | |
| von 280 weiteren Flüchtlingen. Raus, rufen die Menschen vor einem | |
| ehemaligen Hotel. Raus, raus, raus! Es fliegen Böller. Freital im Juni, das | |
| ist eine Art Festival des Fremdenhasses. | |
| Der Wagen, in dem der Politikersohn Johann Dulig sitzt, wird verfolgt. Zwei | |
| Autos versuchen, ihn von der Straße zu drängen. So wird Johann Dulig es | |
| immer wieder in Interviews erzählen. Sein Freund fährt Schlangenlinien, ein | |
| anderer ruft die Polizei an. Halten Sie an einer Tankstelle, wir kommen, | |
| sagen die Beamten. Als das Auto von Dulig hält, springt ein Mann aus einem | |
| der Wagen und zertrümmert mit einem Baseballschläger ihre Frontscheibe. Der | |
| Fahrer lässt den Wagen an, rast durch die Stadt davon. Eine Straßenbahn | |
| schneidet die Verfolger ab. | |
| Zwei Tage später gibt die Polizei bekannt, dass sie vier Verdächtige | |
| ermitteln konnte. Einige von ihnen sollen zu einer Gruppe gehören, die sich | |
| Bürgerwehr FTL/360 nennt. Der Name bezieht sich auf die Buslinie 360 von | |
| Altenberg nach Dippoldiswalde, in der zwei Marokkaner Schüler belästigt | |
| haben. Die Bürgerwehr patrouillierte daraufhin in den Bussen. | |
| Jetzt, ein knappes Jahr später, steht die Bürgerwehr FTL/360 im Verdacht, | |
| eine rechtsextreme terroristische Vereinigung zu sein. Sie sollen mehrere | |
| Sprengstoffanschläge verübt haben. Die oberste Ermittlungsbehörde der | |
| Bundesrepublik hat sich eingeschaltet und die Ermittlungen übernommen: die | |
| Bundesanwaltschaft aus Karlsruhe. Es ist erst der zweite Fall dieser Art | |
| nach dem Bekanntwerden einer anderen rechtsterroristischen Vereinigung: dem | |
| Nationalsozialistischen Untergrund (NSU). | |
| Damals, als die Polizei im Herbst 2011 in einem Wohnmobil in Eisenach die | |
| Leichen von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt findet, erfährt das Land, dass | |
| Neonazis 13 Jahre lang in Deutschland geraubt und gemordet haben, ohne dass | |
| die Sicherheitsbehörden etwas davon wussten. Es war ein Moment | |
| gesellschaftlicher Erschütterung. Die Nachbeben trafen vor allem Polizei | |
| und Geheimdienste. Sie hatten zehn Morde nicht aufklären können; | |
| ermittelten fast nur im Umfeld der Opfer. Bandenkriminalität wurde | |
| vermutet. Oder Drogendelikte. Dass eine rechtsterroristische Zelle | |
| dahinterstand, darauf waren sie nicht gekommen. | |
| Bundeskanzlerin Angela Merkel versprach damals, das Land werde „alles in | |
| den Möglichkeiten unseres Rechtsstaats Stehende tun, damit sich so etwas | |
| nie wiederholen kann“. Es sollte auf keinen Fall einen zweiten NSU geben. | |
| Heute sind die Vorzeichen ähnlich wie Anfang der neunziger Jahre, in der | |
| Zeit, als sich Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos radikalisiert | |
| haben. Viele Flüchtlinge kommen ins Land, Anwohner und Neonazis | |
| demonstrieren gemeinsam gegen ihre Unterkünfte. Es entsteht eine Stimmung, | |
| die in Gewalt mündet: 1.029 Anschläge auf Asylbewerberunterkünfte zählte | |
| das Bundeskriminalamt 2015 – im Vorjahr waren es 203. | |
| Die Nachricht, dass der Generalbundesanwalt in Karlsruhe nun Akten aus | |
| Freital auf dem Schreibtisch hat, klingt wie eine Erfolgsgeschichte: Die | |
| Behörden erkennen den Ernst der Lage und reagieren. | |
| Wer aber genauer hinsieht, kann etwas anderes erzählen: die Geschichte | |
| einer Gruppe von Menschen, die über Monate Straftaten begeht, ohne dass die | |
| Polizei das verhindert. | |
| Freital ist ein Testfall. Einer der Orte in Deutschland, an denen sich in | |
| diesen Tagen zeigt, was sich bei Polizei und Justiz seit Bekanntwerden des | |
| NSU geändert hat. Und was nicht. | |
| *** | |
| Michael Richter weiß nicht mehr, wie viele Anzeigen er im vergangenen Jahr | |
| gestellt hat. Etwa 70? | |
| Beleidigung, Volksverhetzung, Sachbeschädigung, zählt er auf. Richter ist | |
| Stadtrat in Freital und war Oberbürgermeisterkandidat der Linkspartei. Auf | |
| Facebook schrieb einer, man soll ihn an die Wand stellen. Anzeige. Er sei | |
| ein Deutschhasser, ein Blutschänder, man solle ihn steinigen. Anzeige, | |
| Anzeige, Anzeige. | |
| Am 27. Juli 2015 explodierte sein Auto. Unbekannte hatten in der Nacht | |
| Sprengstoff daran angebracht. | |
| „Nu“, sagt Michael Richter mit ausdruckslosem Gesicht. Es ist Mittag, im | |
| Freitaler Technologie- und Gründerzentrum treffen sich ältere Männer in | |
| Strickpullovern zum Mittagessen. Michael Richter nimmt nur einen Kaffee. Er | |
| schaut sich die Männer etwas genauer an, bevor er weitererzählt. | |
| Der Anschlag auf das Auto von Michael Richter, das geschah einen Monat, | |
| nachdem die Polizei die Wohnungen von Verdächtigen im Fall des | |
| Baseballschlä-gerangriffs durchsucht hatte. | |
| ## Am Linken-Büro explodiert ein Sprengsatz | |
| In beiden Fällen passiert erst einmal nichts. Keine Festnahmen, keine | |
| Anklagen. Die Polizei, so heißt es immer wieder, ermittle. Wochenlang. | |
| Monatelang. Währenddessen kann man beobachten, wie in einem eigentlich | |
| verschlafenen Ort die Situation eskaliert. | |
| 11. August. Der Briefkasten einer Flüchtlingsaktivistin explodiert. Die | |
| Polizei ermittelt. | |
| 5. September. Unbekannte legen Feuer im ehemaligen Real-Markt in Freital. | |
| Man erzählt sich in der Stadt, dass auch hier Asylbewerber untergebracht | |
| werden sollen. Die Polizei beschließt, nicht zu ermitteln, weil der | |
| Sachschaden gering ist. | |
| 19. September. Am Fenster einer Asylbewerberunterkunft in der | |
| Bahnhofsstraße explodiert ein Sprengsatz und zerstört das Fenster und Teile | |
| der Küche. Die Polizei ermittelt. | |
| 20. September. An einem Büro der Linkspartei explodiert ein Sprengsatz. Die | |
| Schaufensterscheibe wird zerstört. Die Polizei ermittelt. | |
| 9. Oktober. Mitglieder der Bürgerwehr FTL/360 fahren im Autokorso an einem | |
| Willkommensfest vorbei. Als die Polizei die Autos durchsucht, werden | |
| Feuerwerkskörper ähnlichen Fabrikats gefunden, wie sie für die | |
| Sprengstoffanschläge verwendet wurden. | |
| 1. November. Unbekannte bringen mehrere Sprengsätze an einer | |
| Asylbewerberunterkunft in der Wilsdruffer Straße an. Ein Syrer wird im | |
| Gesicht von Glasscherben getroffen. | |
| 4. November. Der ehemalige Real-Supermarkt brennt erneut. | |
| Am 5. November ab 6 Uhr morgens werden die Wohnungen von Personen, die | |
| Mitglieder der Bürgerwehr Freital sein sollen, durchsucht. Einer wird | |
| festgenommen: Timo S., der mutmaßliche Kopf der Bürgerwehr. Ihm und zwei | |
| Komplizen wird vorgeworfen, das Auto der Flüchtlingsaktivisten angegriffen | |
| zu haben. Außerdem soll er an den Sprengstoffanschlägen auf eine | |
| Asylbewerberunterkunft in Freital und auf ein alternatives Wohnprojekt in | |
| Dresden beteiligt gewesen sein. | |
| Vier weitere Personen werden später wegen der Sprengstoffanschläge | |
| angeklagt. Zwei von ihnen sitzen wie Timo S. in Untersuchungshaft. | |
| Nach den Festnahmen hören die Angriffe auf. | |
| In der Kantine in Freital sagt Michael Richter: „Die Anschläge sind in der | |
| Freitaler Gesellschaft anerkannt. Das ist die Grundstimmung, die hier | |
| herrscht.“ Er blickt durch das Fenster nach draußen. Am Horizont sieht man | |
| die Türme des Stahlwerks. | |
| Richters Strategie ist: „Scherben zusammenkehren, weitermachen.“ Hat er | |
| Angst? Richter zuckt mit den Schultern. Selbst wenn, scheint dieses | |
| Schulterzucken zu sagen, was dann? | |
| Anfang Oktober 2015 wurde am Büro der Linkspartei ein Plakat aufgehängt, | |
| eine „To-do-list“. Richters Name war abgehakt. Auch der Name der | |
| Flüchtlingsaktivistin, deren Briefkasten im Sommer in die Luft gesprengt | |
| wurde. Zwei weitere Namen von Flüchtlingsaktivisten standen auf der Liste, | |
| darunter „Fortsetzung folgt“. | |
| Die Facebook-Seite mit dem Namen Bürgerwehr FTL/360 gibt es seit April | |
| 2015. Dort werden Fotos von den Demonstrationen in Freital und Heidenau | |
| gepostet, von Michael Richters zerstörtem Auto, von der To-Do-Liste („Nice. | |
| Danke für die Zusendung“), von den gesprengten Fenstern der | |
| Asylbewerberunterkünfte. Das Profilbild der Seite zeigt einen Mann in | |
| Kapuzenpullover, der Polizisten gegenübersteht und den Satz: „Im Osten ist | |
| es Tradition, da knallt es vor Silvester schon.“ | |
| Im März 2016 werden die Wohnungen von acht weiteren Personen in Dresden und | |
| Freital durchsucht. Sieben von ihnen werden verdächtigt, am | |
| Sprengstoffanschlag auf das Auto von Michael Richter und das Büro der | |
| Linkspartei beteiligt gewesen zu sein. Sie hatten auch Kontakt zu den fünf | |
| anderen Angeklagten. | |
| Ob alle diese Menschen zur Bürgerwehr FTL/360 gehört haben, ist unklar. Das | |
| zu beweisen, dürfte schwierig sein, da es keinen Gründungsakt der | |
| Bürgerwehr gegeben hat, wie das in der Sprache der Juristen heißt. Keine | |
| Vereinsstruktur, keinen Kassenwart, keine Mitgliederliste. | |
| Es ist das Bild, vor dem alle Sicherheitsbehörden derzeit stehen. Knapp | |
| 14.000 rechtsextreme Straftaten gab es laut vorläufigen Polizeiangaben im | |
| vergangenen Jahr – rund 30 Prozent mehr als im Vorjahr. Und die Szene wird | |
| undurchsichtiger. Bei den Anschlägen auf Asylbewerberunterkünfte gibt es | |
| keine Anzeichen für eine bundesweite Vernetzung der Täter, sagt das | |
| Bundeskriminalamt. | |
| Keine Vernetzung – weniger Gefahr? Es gibt eine andere Sicht: Genau diese | |
| Strukturlosigkeit ist es, die die Schlagkraft von kleinen Einheiten nach | |
| dem Motto der „leaderless resistance“ ausmacht, des führungslosen | |
| Widerstands. | |
| In dem Roman „Die Turner-Tagebücher“ wird der terroristische | |
| Untergrundkampf beschrieben, der aus Sicht des Autors nötig ist, um eine | |
| Herrschaft der weißen Rasse zu etablieren. Nadelstiche autonomer Zellen im | |
| Kampf gegen den Staat. Man geht davon aus, dass die „Turner-Tagebücher“ den | |
| NSU inspiriert haben. Sie wurden auf einem Computer im letzten | |
| NSU-Unterschlupf gefunden und auf Rechnern ihrer Helfer. | |
| Der NSU mordete als eine solche kleine Einheit aus dem Untergrund. | |
| Bekennerschreiben hinterließen sie nie. „Taten statt Worte“, war das | |
| Prinzip der Terroristen. | |
| Was, wenn sich auch die Bürgerwehr FTL/360 als eine solche Zelle | |
| betrachtet? Was, wenn hinter einigen der Anschläge auf Flüchtlingsheime | |
| doch auch organisierte Neonazis stehen, deren Devise wieder lautet: Taten | |
| statt Worte? | |
| Es geht nicht nur um Freital. | |
| Bamberg, Bayern. Oktober 2015. Die Polizei durchsucht die Wohnungen von 13 | |
| Neonazis, die Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte und einen alternativen | |
| Treffpunkt planten und bereits kiloweise illegale Böller, eine Machete und | |
| eine scharfe Pistole besorgt hatten. | |
| Nauen, Brandenburg. August 2015. Eine Sporthalle, die in Kürze von | |
| Flüchtlingen bezogen werden sollte, brennt komplett nieder. Das Auto eines | |
| Polen wird mit Brandbeschleuniger angezündet, im Büro der Linkspartei | |
| werden Scheiben eingeschlagen. Im März dann verhaftet die Polizei einen | |
| 29-jährigen NPD-Mann, der mit vier weiteren Verdächtigen die Taten verübt | |
| haben soll. | |
| Geprüft wird auch, ob die Gruppe hinter Flugblättern steckt, die in Nauener | |
| Briefkästen auftauchten, mit Bombenbauanleitungen und dem Aufruf zum | |
| „absoluten Widerstand“. | |
| Augsburg, Bochum, Leipzig. Mai 2015. Aus einer Facebook-Gruppe mit dem | |
| Namen „Oldschool Society“ wird innerhalb weniger Wochen eine Terrorzelle. | |
| In geschlossenen Chats schreiben sich Mitglieder ihre Gewaltfantasien. Am | |
| Ende steht der Plan, eine Flüchtlingsunterkunft im sächsischen Borna zu | |
| attackieren. 67 illegale pyrotechnische Sätze hatte sich die Gruppe schon | |
| besorgt. Diskutiert wurde, diese mit Nägeln oder Brennstoff zu ummanteln. | |
| In zweieinhalb Wochen wird den vier Anführern der Prozess gemacht. | |
| „Wir können nicht ausschließen, dass sich im derzeitigen Klima Gruppen | |
| bilden, die dazu bereit sind, rechtsextremistische Anschläge zu verüben“, | |
| sagt Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen. | |
| „Es könnten sich Strukturen bis hin zum Terrorismus bilden und | |
| verfestigen“, sagt BKA-Chef Holger Münch. | |
| „Wir können noch nicht von einem Rechtsterrorismus sprechen. Eine solche | |
| Gefahr besteht allerdings“, sagt Bundesinnenminister Thomas de Maizière. | |
| Die Politiker tun sich immer noch schwer, das Wort Terror im Zusammenhang | |
| mit Neonazis zu verwenden. Auch wenn es seit dem NSU leichter geworden ist. | |
| Keiner will sich nun vorwerfen lassen, nicht früh genug gewarnt zu haben. | |
| Die Frage aber ist: Haben Polizei und Staatsanwaltschaft diesen Terrorismus | |
| von rechts im Griff? Können sie einen zweiten NSU verhindern? | |
| *** | |
| Die Männer und Frauen, die die Sache im Griff haben sollten, arbeiten in | |
| einem Siebziger-Jahre-Bau am Stadtrand von Meckenheim bei Bonn. Hier sitzt | |
| der Polizeiliche Staatsschutz, Bereich Rechtsextremismus. Vom Sitzungsraum | |
| im vierten Stock blickt man auf Felder. | |
| Am Kopfende des Besprechungstischs sitzt Stefan Meier, er trägt Jeans und | |
| um den linken Arm ein geflochtenes Lederarmband. Meier heißt in | |
| Wirklichkeit anders – das BKA will Namen, Alter und Fotos seiner | |
| Mitarbeiter nicht in der Zeitung sehen. Sie sollen auch in Zukunft noch | |
| verdeckt arbeiten können. | |
| Stefan Meier ist der Kopf der Clearingstelle Asyl. Hier laufen seit Beginn | |
| 2014 alle Informationen über Straftaten gegen Asylbewerberunterkünfte | |
| zusammen. Damals musste das BKA einräumen: Die Angriffe auf | |
| Flüchtlingsheime nehmen zu, doch die Behörde hat keinen Überblick. | |
| Meier und die drei anderen Mitarbeiter sollen nun das große Bild entwerfen: | |
| Wie viele Straftaten gibt es? Wie sehen typische Täter aus? Wann werden sie | |
| wahrscheinlich zuschlagen? Könnte eine rechtsextreme Organisation | |
| dahinterstecken? | |
| Wenn Meier morgens ins Büro kommt, sichtet er, welche Informationen die | |
| Länder geschickt haben, dann pflegt er sie in seine Listen ein. Die | |
| BKA-Mitarbeiter dürfen weder selbst ermitteln noch Anweisungen geben. In | |
| der Statistik der Clearingstelle tauchen Straftaten auf, bei denen laut | |
| Einschätzung der Beamten vor Ort eine politische Motivation nicht | |
| ausgeschlossen werden kann. | |
| ## Die Beamten sehen „keine belegbaren Muster“ | |
| Die Lage ist so: Unter den 1.029 Straftaten gegen Asylbewerberunterkünfte | |
| im vergangenen Jahr waren 94 Brandstiftungen, 30-mal wurden Schusswaffen | |
| verwendet, in 16 Fällen Sprengstoff. | |
| Aufgelistet werden nur Straftaten auf dem Gelände der Unterkünfte. „Wird | |
| ein Böller auf der gegenüberliegenden Straßenseite gezündet, ist das kein | |
| direkter Übergriff auf eine Asylbewerberunterkunft“, sagt Stefan Meier. Und | |
| wenn eine Mülltonne, die 15 Meter vom Heim entfernt steht, abgebrannt wird, | |
| sei das nach dem Strafgesetzbuch keine Brandstiftung, sondern eine | |
| Sachbeschädigung. | |
| Sieben Fälle aus Freital sind im vergangenen Jahr bei der Clearingstelle | |
| gelandet. Der erste Brandanschlag auf den Supermarkt im September kam nicht | |
| in die Statistik, weil die Polizei damals nicht ermittelte. 15 Übergriffe | |
| gegen Asylbewerber aus Freital fallen aus der Liste, weil sie nicht auf dem | |
| Gelände der Unterkunft begangen wurden. Die Clearingstelle Asyl soll zwar | |
| darauf achten, ob sich rechtsterroristische Gruppen in Deutschland bilden, | |
| aber sie sieht nur einen kleinen Ausschnitt. | |
| Wer ihr jüngstes internes Lagebild liest, erkennt auch Hilflosigkeit. Die | |
| Übergriffe ergäben „kein einheitliches Bild“, heißt es dort. „Klar | |
| belegbare Muster“ ließen sich nicht ableiten. Das liegt auch daran, dass | |
| nur jeder vierte Fall aufgeklärt wird. Die Täter waren zu 70 Prozent der | |
| Polizei vorher nicht bekannt. Das BKA nennt sie „emotionalisierte | |
| Einzeltäter“, die „keine ideologische Anbindung an rechte Strukturen | |
| haben“. | |
| Die Clearingstelle ist ein Beispiel für die Logik, mit der | |
| Sicherheitsbehörden auf ihr Versagen beim NSU reagiert haben. Weil sich die | |
| Institutionen nicht genug ausgetauscht haben, war es leicht für die | |
| Rechtsterroristen, unerkannt zu bleiben. Deshalb wurde nun ein Gemeinsames | |
| Abwehrzentrum gebildet, eine neue Datei eingeführt, in der Rechtsextreme | |
| erfasst werden. Aber jede Datei über rechtsextreme Straftaten funktioniert | |
| nur, wenn der Polizist vor Ort eine Tat überhaupt als politisch motiviert | |
| einstuft. | |
| Wird also unterhalb neuer Institutionen anders ermittelt als früher? Wird | |
| in den Städten und Dörfern rechtzeitig Alarm geschlagen | |
| *** | |
| Die Generalstaatsanwaltschaft in Dresden hat beschlossen, im Fall der | |
| Freitaler Bürgerwehr kein Verfahren wegen Bildung einer kriminellen oder | |
| einer terroristischen Vereinigung zu führen. Geplant war, alle Delikte | |
| einzeln anzuklagen. Eine organisierte Gruppe sah man nicht. | |
| Als die Karlsruher Ermittler nun an die Generalstaatsanwaltschaft Sachsen | |
| herantraten, um den Fall zu übernehmen, war man in der Behörde überrascht. | |
| „Was die Bundesanwaltschaft dazu bewogen hat, weiß ich nicht“, sagt | |
| Oberstaatsanwalt Wolfgang Klein aus Dresden. | |
| Um zu einer Anklage wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung zu | |
| kommen, müsse man feste Strukturen erkennen und belegen können, sagt Klein | |
| Mitte März am Telefon. Die Verdächtigen in Freital würden sich zwar kennen, | |
| sagt er. „Sie wissen voneinander, dass sie ähnlich denken. Die treffen sich | |
| und sagen: Ich mach jetzt mal was, wer kommt mit?“ Das reiche für eine | |
| solche Anklage aber noch nicht aus. | |
| Die Bundesanwaltschaft sieht das nun anders. Warum, das will eine | |
| Sprecherin nicht sagen. Wegen des laufenden Verfahrens äußere man sich | |
| nicht zu weiteren Einzelheiten. | |
| Ihr Chef, Generalbundesanwalt Peter Frank, hat schon länger angekündigt, | |
| ein „Gegenfanal“ gegen die wachsende rechte Gewalt zu setzen, wenn es nötig | |
| werde. Drei Kriterien hat seine Behörde angelegt, bei denen sie | |
| einschreitet. Wenn es zu Toten durch einen Angriff kommt. Wenn es Pogrome | |
| gibt wie in Rostock oder Hoyerswerda in den neunziger Jahren. Oder wenn | |
| eine rechtsterroristische Gruppe zur Tat schreitet. Entscheidend für | |
| letzteren Fall ist, so heißt es intern, dass die Gruppe das Ziel hatte, | |
| Personen zu treffen und dies mit den beschlagnahmten Materialien auch | |
| nachzuweisen ist. Dies gilt nun offenbar für Freital. | |
| Die Bundesanwaltschaft tat sich lange schwer. Mehr als 130 Terrorverfahren | |
| führt sie gegen islamistische Verdächtige. Im Bereich des Rechtsterrorismus | |
| werden es nun zwei: die Oldschool Society, die in verschlüsselten Chats | |
| einen Anschlag plante. Und Freital. | |
| Die Welt der Neonazi-Facebook-Seiten passt schlechter in den | |
| Terrorismusparagrafen als die rechten Strukturen der Vergangenheit. Früher | |
| gab es straff organisierte Kameradschaften. Heute dagegen läuft die | |
| Mobilisierung in vielen Orten über das Internet. Taten werden zu | |
| Botschaften: Schaut her, so einfach ist es. Manche Gruppen finden sich nur | |
| für eine Aktion zusammen. | |
| So ziehen seit 2012 Neonazis immer wieder an verschiedenen Orten mit weißen | |
| Masken und Fackeln durch die Straßen. Das Phänomen hat nicht mehr als ein | |
| Label: „Volkstod-Kampagne“. Die Gruppen lösten sich nach Minuten wieder | |
| auf. Kein Name einer Führungsfigur, kein Webauftritt verbindet sie. Dennoch | |
| kommen von heute auf morgen 300 Menschen zusammen, ohne dass irgendetwas | |
| durchsickert. Vielleicht sind weniger straff organisierte Gruppen sogar | |
| gefährlicher. Weil sie unterschätzt werden. | |
| Oberstaatsanwalt Klein aus Dresden nennt den mutmaßlichen Chef der | |
| Bürgerwehr, Timo S., ein unbeschriebenes Blatt. Auf die Frage, ob Timo S. | |
| ein Rechtsradikaler ist, sagt er: „Ich würde es gern dem Prozess überlassen | |
| herauszufinden, inwieweit eine entsprechende Motivation vorlag und | |
| inwieweit diese Motivation zum Tragen gekommen ist.“ | |
| ## 47 Konsequenzen aus dem NSU wurden gefordert | |
| Tatsächlich passt Timo S. oberflächlich betrachtet in die Erzählung vom | |
| unbescholtenen Bürger. Er wuchs in Hamburg auf und arbeitete dort als | |
| Busfahrer. Im Herbst 2014 zog er nach Freital. Hier lenkte er weiterhin | |
| Stadtbusse, bis er im November 2015 verhaftet wurde. Polizeilich ist er nie | |
| in Erscheinung getreten. Ein Mann aus der Mitte der Gesellschaft, der sich | |
| mit ein paar Freunden in seine Wut hineingesteigert hat und dann loszieht | |
| und versucht, Asylbewerber zu töten? | |
| Dem Verfassungsschutz ist S. allerdings schon seit 2011 als Rechtsextremist | |
| bekannt, heute verortet ihn der Geheimdienst im Umfeld der Neonazigruppe | |
| „Freie Kräfte Dresden“. Fotos und Videos, die man im Netz über ihn findet, | |
| zeigen ihn bei NPD-Kundgebungen in Hamburg und Neumünster in den Jahren | |
| 2009 und 2012. Bei einem Aufmarsch in Hamburg 2011 läuft S. in den | |
| vordersten Reihen mit, ein paar Meter hinter ihm geht Sebastian R., Chef | |
| einer rechtsextremen Organisation, die sich „Weisse Wölfe Terrorcrew“ | |
| nennt. Ein anderes Foto zeigt ihn mit Denny R., der sich um die | |
| Öffentlichkeitsarbeit der Gruppe kümmert. | |
| Mitte März wurde die „Weisse Wölfe Terrorcrew“ von Innenminister Thomas de | |
| Maizière verboten. „Offen und aggressiv“ habe die Gruppe gegen den Staat | |
| und Migranten agitiert, sagte er. Mitglieder sollen an Anschlagsplänen auf | |
| Flüchtlingsheime in Bamberg beteiligt gewesen sein. In Hamburg und | |
| Pinneberg griffen sie Migranten und Polizisten an. | |
| In zehn Bundesländern durchsuchte die Polizei Wohnungen der | |
| Terrorcrew-Anführer. Dabei wurden Kugelbomben, Wurfsterne, eine Armbrust | |
| und Pistolen gefunden. | |
| Ein Neonazinetzwerk, das sich über ganz Deutschland erstreckt. In einer | |
| Zeit, in der die Behörden sonst immer von Einzeltätern sprechen. | |
| Die vertrauliche Verbotsverfügung nennt als Ziel der Gruppe: | |
| „rechtsmotivierte Aktionen gegen das ‚System‘ “. Intern wurde vom „Ta… | |
| gesprochen, von einem „bewaffneten Aufstand“. Ein Mitglied postete im | |
| Internet: „Ein Adolf muss wieder geboren werden oder ein neuer NSU.“ | |
| *** | |
| Als im November vergangenen Jahres der zweite NSU-Untersuchungsausschuss im | |
| Bundestag eingesetzt wurde, trat die Grünen-Politikerin Irene Mihalic ans | |
| Rednerpult und sagte: „Heute sind wir schon wieder schlecht vorbereitet auf | |
| die rechtsextremen Anschläge. Schon wieder laufen wir Gefahr, zu übersehen, | |
| dass sich hier rechtsterroristische Netzwerke etablieren.“ | |
| Alle Fraktionen des Bundestags beriefen den Ausschuss ein, gemeinsam. Zu | |
| viele Fragen seien zu dem Terrorkomplex noch offen, befanden sie. Und noch | |
| ein Ziel verband die Abgeordneten: einen neuen Rechtsterrorismus zu | |
| verhindern. | |
| Der erste NSU-Ausschuss im Bundestag, der bis 2013 tagte, forderte am Ende | |
| 47 Konsequenzen für die Sicherheitsbehörden. Bei migrantischen Gewaltopfern | |
| müsse künftig immer ein rassistisches Motiv geprüft werden, lautete eine. | |
| Polizisten dürften ihren Blick nicht „örtlich verengen“, sondern müssten | |
| auch bundesweit agierende, rechte Netzwerke einbeziehen, lautete eine | |
| andere. Bei komplexen Verfahren soll eine eigene Organisationseinheit | |
| gebildet werden, die sich kritisch mit dem Kurs der Ermittlungen | |
| auseinandersetzt. | |
| Irene Mihalic sieht nicht, dass das passiert. „Es gibt keine andere Polizei | |
| nach dem NSU“, sagt die Grünen-Politikerin. „Es ist immer noch der gleiche | |
| Laden.“ | |
| Ein Laden, den sie kennt. Mihalic ist nicht nur Obfrau ihrer Partei im | |
| NSU-Ausschuss, sondern arbeitete auch jahrelang als Polizistin. Sie fuhr | |
| Streife in Nordrhein-Westfalen, winkte Raser von der Autobahn. 2013 zog sie | |
| in den Bundestag ein. In ihrem Büro hängt auf einer Schaufensterpuppe ihre | |
| alte Uniform: grün, zwei Sterne auf der Schulterklappe. Eine tägliche | |
| Erinnerung, woher sie kommt. | |
| „Es beginnt schon bei der Erfassung rechtsextremer Straftaten“, sagt sie. | |
| Viele Anschläge auf Asylbewerberunterkünfte würden nicht als politisch | |
| eingestuft, weil die Täter der Polizei nicht als Neonazis bekannt seien. | |
| Und alle Übergriffe würden als lokale Phänomene abgetan. „Genau so | |
| übersieht man einen zweiten NSU“, sagt Mihalic. | |
| In Dortmund, gut 30 Kilometer von Mihalic Wahlkreisbüro in Gelsenkirchen | |
| entfernt, gibt es derzeit eine der aktivsten rechtsextremen Szenen der | |
| Republik. Zu Silvester griffen sie mit Eisenstangen Polizisten an. Bei | |
| einem Aufmarsch rief ein Redner: „Es ist unser Auftrag, das volksfeindliche | |
| Regime zu liquidieren.“ | |
| Der Kommissariatsleiter der Dortmunder Polizei saß kürzlich im | |
| Wahlkreisbüro von Irene Mihalic. Sie war nach dem Gespräch beruhigter. „Ich | |
| habe den Eindruck, die Dortmunder Polizei weiß um den Ernst der Lage.“ | |
| Es gibt sie, sagt Mihalic, die engagierten Polizisten. Daneben gibt es aber | |
| auch viele, die nach dem NSU weitermachen wie bisher. Die Veränderung, | |
| meint sie, muss auf unterschiedlichen Ebenen beginnen. Etwa mit einer | |
| Kultur, dass auch die Polizei Fehler eingestehen dürfe. Aber auch mit | |
| Dienstvorschriften, einem Instrument, dass auch im Leitz-Ordner-Denken | |
| vieler Beamter funktioniert. | |
| Es ist ein System, in dem sich das Anschieben von Veränderungen genauso zäh | |
| anfühlt wie das Warten auf Gerichtsurteile. Drei, vier Monate dauert es, so | |
| berichten es Beratungsstellen aus Sachsen, bis ein Opfer das erste Mal | |
| überhaupt vernommen wird. Wenn es gut läuft, kommt es nach einem Jahr zur | |
| Anklage. | |
| In Freital ermittelt die Polizei bei allen Körperverletzungen, | |
| Morddrohungen, Hakenkreuzschmierereien und Brandanschlägen weiterhin und | |
| konnte noch keinen weiteren Täter feststellen. | |
| ## Die Geflüchteten bleiben ab 18 Uhr im Haus | |
| Bei dem Sprengstoffanschlag auf das Auto von Michael Richter und das Büro | |
| der Linken gibt es sieben Verdächtige. Anklage wurde noch nicht erhoben. | |
| Bei dem Baseballschlägerangriff auf das Auto der Flüchtlingsaktivisten gab | |
| es einen ersten Verhandlungstag im Januar 2016. Nachdem aber der Richter | |
| den Prozesskostenbeihilfeantrag eines Opfers versehentlich an die Anwälte | |
| der Täter weitergeleitet hat, inklusive Daten über Arbeitgeber und privater | |
| Wohnadresse, stellte die Anwältin des Opfers einen Befangenheitsantrag | |
| gegen den Richter. Er wurde abgelehnt, das war vor zwei Monaten. Ende April | |
| soll der Prozess fortgesetzt werden. | |
| *** | |
| Ein graues Haus in der Bahnhofstraße in Freital, eine der | |
| Asylbewerberunterkünfte. Aus der Küche kommt der Geruch von gebratenen | |
| Zwiebeln. Das Küchenfenster ist mit Zeitungspapier zugeklebt, Bauschaum | |
| hält es im Rahmen. Hier ist im September der Sprengsatz explodiert. | |
| Ein Dutzend Männer aus Eritrea steht in der Küche. Angosso, der seinen | |
| Nachnamen sicherheitshalber nicht nennen will, erzählt, dass er und seine | |
| Mitbewohner nach 18 Uhr nicht mehr auf die Straße gehen. Zu oft passiert | |
| es, dass Autos an ihnen vorbeifahren, aus deren Fenstern gröhlende Männer | |
| ihnen den Mittelfinger zeigen. Erst vor ein paar Wochen wurde wieder ein | |
| Eritreer zusammengeschlagen. Zur Polizei gehen sie deshalb nicht mehr, sagt | |
| er, weil sie nicht gut Deutsch sprechen und die Polizisten oft sehr | |
| ungeduldig seien. | |
| Vielleicht gehört das alles zum selben Bild. | |
| Polizisten, die eine Anweisung aus dem Bundestag haben, bei jeder Straftat | |
| gegen eine Person mit Migrationshintergrund zu prüfen, ob ein rassistisches | |
| Motiv infrage kommt. Die aber ungeduldig werden, wenn jemand nicht gut | |
| Deutsch spricht. | |
| Kriminalbeamte, die den Tag damit verbringen, Vorfälle von einer Liste in | |
| eine andere abzutippen. „20.09.2015 Freital Herbeiführen einer | |
| Sprengstoffexplosion § 308 StGB.“ Listen, deren Aussagekraft am Gartenzaun | |
| der Asylbewerberunterkünfte endet. | |
| Staatsanwälte, die mit dem Terrorismusparagrafen umgehen wie mit einem | |
| unhandlichen Werkzeug. Weil er geschrieben ist für eine Welt, in der | |
| rechtsextreme Gruppen sich noch Anführer suchten statt Gewalt gegen | |
| Ausländer als Variante des Flashmobs zu verstehen. | |
| Ein träger Apparat. Es gibt einige, die versuchen, die Zahnräder neu zu | |
| justieren, hier und da zu ölen, ein paar Teile zu ersetzen. Es ruckelt ein | |
| wenig. | |
| Direkt neben dem Küchenfenster der Eritreer wurde mit schwarzer Farbe „NS“ | |
| an die Hauswand gesprüht. Sie haben sich schon oft gefragt, was das | |
| bedeutet, sagt Angosso. Schließlich sieht man die beiden Buchstaben überall | |
| in Freital. Als die Männer es schließlich erfahren, werden sie still. | |
| Eine halbe Stunde später steht auf dieser grauen Freitaler Straße eine | |
| Gruppe von Geflüchteten und betrachtet die Buchstaben „NS“. Im Gras, auf | |
| dem sie stehen, liegen noch die Glasscherben. Niemand hat sie eingesammelt. | |
| 12 Apr 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Sabine am Orde | |
| Steffi Unsleber | |
| Konrad Litschko | |
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