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# taz.de -- Flüchtlinge in Deutschland: Herbeifantasierter Notstand
> In Deutschland wird eine „Flüchtlingsfrage“ diskutiert und nicht die
> Menschlichkeitsfrage jener, die Flüchtlinge ablehnen oder abschießen
> wollen.
Bild: Wenn nicht Menschenfeinde, sondern ihre Opfer zum Problem gemacht werden:…
Dazusitzen, in diesem wunderbaren Saal, zuzuhören, wie die Vertreter von 32
Staaten nacheinander aufstanden und erklärten, wie furchtbar gern sie eine
größere Zahl Flüchtlinge aufnehmen würden und wie schrecklich leid es ihnen
tue, dass sie das leider nicht tun könnten, war eine erschütternde
Erfahrung.“
Komisch, die EU hat doch nur 28 Mitgliedsstaaten? Stimmt, aber das Zitat
bezieht sich auch nicht auf die Gegenwart und die fast einhellige Weigerung
der europäischen Staaten, Flüchtlinge aufzunehmen, sondern auf die
Konferenz von Evian von 1938, bei der es um Kontingente deutscher Juden
ging, die dringend das Land verlassen mussten, das sie zunehmend entrechtet
und beraubt hatte. Das Zitat stammt von Golda Meir, der späteren
Ministerpräsidentin von Israel.
Ein Unterschied zu heute besteht übrigens darin, dass viele der eigentlich
zur Aufnahme verpflichteten Staaten sich nicht einmal dafür entschuldigen,
dass sie der Genfer Flüchtlingskonvention und meist auch der eigenen
Verfassung zuwiderhandeln, sondern merkwürdig stolz darauf zu sein
scheinen, sich gegen geltendes Recht zu stellen. Da fällt einem ein
weiterer Aspekt der Verhandlungen von Evian ein: dass die osteuropäischen
Staaten die Konferenz nämlich nutzten, um darauf hinzuweisen, dass nicht
nur Deutschland ein „Judenproblem“ habe, sondern sie selbst auch, und zwar
ein zahlenmäßig erheblich größeres, und auch dafür erbitte man von der
Staatengemeinschaft eine Lösung.
Wie diese Geschichte ausgegangen ist, wissen wir. Gleichwohl lohnt eine
Rückblende, nämlich auf die Zeit, die Evian vorausgegangen ist. Sebastian
Haffner, der überaus genaue Chronist des rapiden Deutungs- und
Einstellungswandels ab 1933 in Deutschland, erwähnt einen bemerkenswerten
Mechanismus der öffentliche Debatte: nämlich, dass es trotz der
judenfeindlichen Aktionen keine „Antisemitenfrage“ im Deutschland jener
Jahre gegeben habe, sondern eine „Judenfrage“: Indem die Nazis, schreibt
Haffner, „irgendjemand – ein Land, ein Volk, eine Menschengruppe –
öffentlich mit dem Tode bedrohten, brachten sie es zustande, dass nicht
ihre, sondern seine Lebensberechtigung plötzlich allgemein diskutiert – das
heißt, in Frage gestellt wurde“.
Wichtig an Haffners Beschreibung ist die Objektverschiebung, die nicht die
Angreifer der Demokratie und des Rechts zum Problem macht, sondern deren
potenzielle Opfer. Nichts anderes erleben wir ja gerade am Beispiel der
Flüchtlinge. Nicht diejenigen, die sie abwehren, abschieben, ja sogar
abschießen wollen, sind das Problem, sondern sie selbst, deren Zahl
dringend verringert gehört. Die Maßnahmen, die sodann getroffen werden,
richten sich entsprechend auch nicht gegen die Menschenfeinde, ihre
Rhetorik und ihre Forderungen, sondern gegen die Asylsuchenden und folgen
damit punktgenau den rechten Ausgrenzungsforderungen. Wir haben mithin
keine Menschenfeindlichkeitsfrage, sondern eine Flüchtlingsfrage.
Die gleichfalls aus der Geschichte bestens bekannte politische Mechanik,
den Drift „der Menschen“ nach rechts verhindern zu wollen, indem man selbst
rechte Politik macht, exekutiert gegenwärtig die CSU in seltener
Perfektion. Sie schwächt damit massiv die Regierung, zu der sie selbst
bekanntlich gehört, ist aber dafür zur erfolgreichsten PR-Agentur der AfD
avanciert.
## Schutz gegen Flüchtlinge
Jedenfalls hat sich über alles dieses die Meinung verbreitet, man habe es
in der Flüchtlingsfrage keineswegs mit einem Problem zu tun, dessen Ursache
– nur beispielsweise – mit der fossilen Wirtschaft und ihrer Abhängigkeit
von Regimen im Nahen Osten oder mit dem „Krieg gegen den Terror“ zu tun
hat, der die gegenwärtig furchtbarsten Terrororganisationen IS und Boko
Haram erst hervorgebracht hat, sondern mit einem, dass die Flüchtlinge
selbst darstellen. Weshalb es vielen vor allem um die Frage geht, wie man
die Außengrenzen besser sichern könne, nämlich gegen die Flüchtlinge. Die
sollen es einfach vorziehen, dort zu bleiben, wo sie sind.
Flüchtlingsproblem gelöst. Damit ist die Wirklichkeit dort angekommen, wo
vor vielen Jahren das Satireblatt Titanic die Lösung des Hungerproblems in
Afrika sah: „Einfach mehr spachteln, Leute!“
Was mich bei all dem beunruhigt, ist die kollektive Verschiebung der
Wahrnehmungen und Deutungen: Es geht nicht um das perfide ostentative
Versagen der meisten Staaten der EU bei der Aufnahme der Flüchtlinge, nicht
um die Bekämpfung des erstarkenden Rechtsextremismus mit den Mitteln des
Rechts, nicht um die Schwächen überregulierter Verwaltungen und
kaputtgesparter Sozialsysteme, nicht um die moralische Verwahrlosung vieler
Parteipolitiker und deren Demokratiefeindlichkeit. Nein, es geht um „die
Flüchtlinge“.
Für mich ist die hysterisierte Diskussion allfälliger Real- und
Fantasieprobleme mit „den Flüchtlingen“, die Klage über den
„verweichlichten Staat“, die „Willkommenskultur“, die dringend von einer
„Verabschiedungskultur“ (FAZ) abgelöst werden müsse, wie ein gespenstisch…
Realexperiment.
Als Sozialpsychologe habe ich mich anhand historischer Beispielfälle lange
damit beschäftigt, wie sich die Referenzrahmen der Wahrnehmung und Deutung
von Ereignissen und Situationen oft erstaunlich schnell verändern, ohne
dass es jemand bemerken würde. Alle halten sich auch dann noch für
moralisch integer, wenn sie schon längst der Gegenmenschlichkeit zustimmen.
Wir nennen das „shifting baselines“, die unbemerkte Verschiebung der
normativen Maßstäbe, den man an Geschehnisse anlegt.
Es war schon nicht ganz einfach, die Existenz dieses Phänomens in die
Wissenschaft einzubringen, die ja lieber von der „Verführung der Massen“
und der „inneren Emigration“ der Intellektuellen fantasierte, als
anzuerkennen, dass „die Nazis“ in einer Zustimmungsdiktatur eben alle sind,
die praktisch, auf der Ebene ihres tatsächlichen Verhaltens, zustimmen.
Aber dasselbe Phänomen gewissermaßen live und in Farbe vorgeführt zu
bekommen, ohne dass sich – etwa in den dafür zuständigen
öffentlich-rechtlichen Medien – breite Gegenpositionen bilden, die die
verzerrte Optik und Hysterie korrigieren, das ist allerdings frappierend.
Und ich muss sagen: Damit habe ich nicht gerechnet.
Warum deliriert fast die komplette Medienlandschaft dem „Ende Merkels“
entgegen, anstatt ihr, die tatsächlich Führung auf der Grundlage des Rechts
gezeigt hat, den Rücken zu stärken? Wo bleibt eigentlich in der
Flüchtlingsdebatte der Bund der Vertriebenen, der doch Nötiges zu sagen
hätte? Wieso ergibt sich die SPD in das gefühlte Fatum, demnächst
viertstärkste Partei zu sein, anstatt mit aller verbliebenen Kraft gegen
die rechten Aufwiegler in der eigenen Koalition vorzugehen?
## Unser Versagen
Und dies alles in einer wirtschaftlichen, fiskalischen und administrativen
Lage, die so weit wie nur irgend denkbar vom Notstand entfernt ist? Der
trotzdem von allen herbeifantasiert wird. Kurz: Warum herrscht ausgerechnet
dann normative Obdachlosigkeit, wenn zum ersten Mal seit vielen Jahren
moralisches Handeln gefordert ist, klar, eindeutig, dringend und leistbar?
Hier gerät gerade etwas auf spektakuläre Weise ins Rutschen, nämlich die
Loyalität nicht nur der freien Gesellschaft gegenüber, sondern auch dem
europäischen Projekt und nicht zuletzt dem Rechtsstaat. Versagen wir schon
in der ersten Prüfung unserer konsumsedierten talkshowdemokratischen
Wohlstandsgesellschaft und wählen statt der offenen Gesellschaft den
Autoritarismus, wie er in Ungarn und Polen gerade geprobt und in nicht
wenigen anderen europäischen Staaten schon mal annonciert wird?
Aber man sollte aufpassen, nicht selbst hysterisch zu werden. Wenn man auf
die Umfragen schaut, so scheint es in Deutschland ja einstweilen noch eine
verantwortungs- und engagementbereite Mehrheitsgesellschaft zu geben. Also
steht man vor der paradoxen Aufgabe, diese Mehrheit, die für die offene
Gesellschaft eintritt, gegen die medial und politisch befeuerte Minderheit
der Ausgrenzer zu schützen. Das sollte möglich sein.
12 Apr 2016
## AUTOREN
Harald Welzer
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