| # taz.de -- Digitalisierung und Politik: Werft euer iPhone weg! | |
| > Harald Welzer denkt Digitalisierung, Klimawandel und soziale | |
| > Ungerechtigkeit zusammen. Fehlt nur noch die passende Partei. | |
| Bild: Harald Welzer | |
| An einem Tag kurz vor der Vorstellung seines neuen Buches ist Harald Welzer | |
| zu Hause in Potsdam und denkt grundsätzlich über das Leben und dessen | |
| Kostbarkeit nach. Inspiriert haben ihn die Toten des Jahres. Bowie, | |
| Willemsen, Zaha Hadid, Prince. Dann schrieb Martenstein in der Zeit auch | |
| noch, er, Welzer, sei „auch nicht mehr jung“. Die Besinnlichkeit wird | |
| allerdings von einer lebensbejahenden Heiterkeit begleitet – und einer | |
| schön die Jahreszeit kontrastierenden Bräune. | |
| Das hat die Welzer-Skeptiker aus dem Ökolager schon immer irritiert: dass | |
| er multidimensionell ist. Also anders als sie. Sie halten ihn für einen | |
| Scharlatan mit Dandy-Haarschnitt, der sich in ihren Fachbereich gedrängt | |
| hat, obwohl er Sportwagen besitzt. Aber Welzer, 57, ist ja schon wieder | |
| eins weiter. Vom sozialpsychologisch-professoralen Naziforscher-Onkel zum | |
| Aufmischer der Ökoszene und nun zum Public Intellectual mit | |
| Bestseller-Potenzial und Präsenz in jeder Fernsehsendung, die ein bisschen | |
| Anspruch zeigen möchte. Viele finden ihn einfach gut. Da fragen sich | |
| selbstverständlich andere indigniert: Wie konnte das passieren? Aber ganz | |
| langsam und der Reihe nach. | |
| Soeben ist sein neues Buch erschienen: „Die smarte Diktatur“ (S. Fischer). | |
| Am Freitag hat er es in Berlin vorgestellt. Darin beschreibt er den neuen | |
| Typus der digitalen Diktatur, dem sich die Bürger – wir – nicht nur | |
| freiwillig ausliefern, sie verrichten auch einen wesentlichen Bereich des | |
| Unterdrückungsgeschäfts selbst; sie liefern 24/7 ihre Daten für die totale | |
| Überwachung. An Silicon-Valley-Unternehmen und an Geheimdienste. Es | |
| funktioniert so prima, weil diese Diktatur auf das aufbaut, was westliche | |
| Menschen wirklich und leidenschaftlich gern machen: Dienstleistungen und | |
| Produkte konsumieren. Das ist Hauptthese Nummer 1. | |
| Vermutlich werden als erste Kritiker die Digital-Superchecker sagen, da | |
| stehe ja eher wenig über Digitalisierung drin. Dann wird er nicken. Aber | |
| auf die selbstbewusste Welzer-Art, damit die gleich ahnen, dass nicht ihm | |
| etwas fehlt, sondern ihnen. Es geht nicht um die Details der | |
| Digitalisierung, sondern um die Effekte. Die Digitalisierung ist in seinem | |
| Denken die Fortschreibung des Alten mit einer geilen Oberfläche. | |
| ## Digital ist auch keine Lösung | |
| „Diese Gesellschaft spricht über bestimmte Zusammenhänge nicht, die zu | |
| ihrem Stoffwechsel dazugehören“, sagt er. Etwa über den Zusammenhang | |
| zwischen Rohstoffmengen und Flüchtlingszahlen, zwischen Megacities und | |
| Landraub, zwischen Hyperkonsum und Klimawandel. Sein Buch bringt sie | |
| zusammen. | |
| Wer Digitalisierung, Klimawandel, Finanzmarktkrise, Krieg und wachsende | |
| soziale Ungerechtigkeit getrennt betrachtet oder gar lösen will, ist | |
| unpolitisch, sagt Welzer. | |
| Die Digitalisierung, sagt er, löst kein einziges der großen | |
| Menschheitsprobleme. | |
| Seine Hauptthese Nummer 2: Das Digitale ist fossil. Die digitale Welt habe | |
| einen enormen Energie- und Ressourcenverbrauch. Sie verbrennt genauso | |
| Zukunft wie jede fossile Wirtschaft, sagt er. Befördert den Klimawandel, | |
| die soziale Ungerechtigkeit plus die Freiheitsberaubung und | |
| Machtverschiebung hin zu totalitären Wirtschafts- und Staatsregimen. Sie | |
| ist auch im metaphorischen Sinne fossil, weil sie eben keinen | |
| Paradigmenwechsel bedeutet, sondern „die Fortschreibung des immer gleichen | |
| Business as usual“, also der expansiven Gesellschaft und Wirtschaft des | |
| „immer schneller, immer mehr“. Das einzige Smarte an ihr ist, dass sie ihre | |
| Grundlagen verbirgt. Es sind dieselben wie in bestehenden | |
| Wirtschaftsbranchen auch: Auslagerung der sozialen und ökologischen Kosten | |
| auf arme Menschen in fernen Ländern. | |
| Aber nun zur dritten und entscheidenden These seines Buches. Er nennt sie | |
| „die Rückkehr des Schicksals“. Also der Vormoderne. Im Feudalismus hatte | |
| man keine individuelle Zukunft, sondern war durch das Schicksal der Geburt | |
| festgelegt: Fürstensohn wurde Fürst, Bauernsohn bestenfalls Bauer. „Die | |
| Moderne, wie sie in reichen Gesellschaften realisiert wurde, war lange Zeit | |
| für sehr viele gelingende Emanzipation“, sagt er. Selbst gestaltetes Leben | |
| in Freiheit unter dem Schutz eines demokratischen Sozialstaates vor Willkür | |
| und Verletzung. | |
| ## Die digitale Diktatur stoppen | |
| „Die Hypermoderne fällt in Schicksalhaftigkeit zurück, das ist mir bei | |
| Sharing-Geschichten klar geworden“, sagt Welzer. „Es ist eine Gesellschaft, | |
| in der der Uber-Taxifahrer keinen Arbeitsschutz und nichts mehr hat, und | |
| das tolle Argument lautet, du kannst dein Schrottauto und deine letzte | |
| Privatsphäre bei Airbnb kapitalisieren.“ Und wenn man gar kein Auto mehr | |
| hat oder als alleinerziehende Mutter auf engstem Raum lebt, ist Ende und | |
| aus. | |
| Und was mache ich jetzt, um die digitale Diktatur zu stoppen? | |
| „Das geht zusammen mit deinen ökologischen Möglichkeiten“, sagt Welzer: | |
| „Aufhören zu konsumieren. Dieselbe Lösung für zwei scheinbar getrennte | |
| Phänomene.“ So verknüpft er in dieser Weiterentwicklung seines Bestsellers | |
| „Selbst Denken“ – der Begriff „update“ verbietet sich ja wohl – die… | |
| der sozialen Gerechtigkeit mit der ökologischen und der digitalen Frage und | |
| mit seinem Lösungsvorschlag einer reduktiven Gesellschaft, die anders und | |
| vor allem weniger konsumiert. | |
| Als Erstes solle man mal sein iPhone wegwerfen, hatte Welzer schon letzten | |
| Herbst bei der Genossenschaftsversammlung der taz gerufen. Riesiger | |
| Beifall. | |
| Es wirft aber keiner sein Smartphone weg? Es bleibt alles in der | |
| Eigentlich-sollte-man-Zone, dem Bereich, in dem sich gerade kritische und | |
| aufgeklärte Leute am liebsten aufhalten. „Das zweifle ich an“, sagt Welzer. | |
| Er holt sein „prähistorisches“ Mobiltelefon aus der Tasche. Im Hörsaal | |
| zeigt er das neuerdings vor. Dann streckten ihm die Studis jede Menge | |
| dieser unsmarten Geräte entgegen. | |
| „Da tut sich was“, sagt er. „The kids are not strohdumm.“ | |
| Es geht ihm darum, das Thema endlich breiter zu politisieren. Eine | |
| antikonsumistische und eine antidigitale Bewegung zusammenzuschließen. | |
| Womöglich auch noch mit zu modernisierenden linken Bewegungen. | |
| ## Eine neue Partei? | |
| Welzer muss – das ist die Stärke und gleichzeitig die realpolitische | |
| Schwäche seines Buches – ganz auf den Bürger setzen. Seine komplett | |
| logische Verknüpfung der isolierten Zuständigkeiten zu einem | |
| zusammenhängenden Problem steht nämlich bizarr quer zu einer | |
| Parteienlandschaft, in der jeder sich gefälligst um seinen Spezialbereich | |
| zu kümmern hat, also die Grünen um Öko, die SPD um Gerechtigkeit im 20. | |
| Jahrhundert und die Union um ihre nach rechts abdriftende | |
| Problemkundschaft. „Hier würde sich die Notwendigkeit einer neuen Partei | |
| abzeichnen, die sich den Zusammenhängen stellt“, sagt Welzer. Aber dann | |
| müssten relevante Teile der Gesellschaft auch diesen Anspruch haben und | |
| artikulieren. „Und neue Fragen an die Politik stellen“, sagt er. „Das | |
| Politische steckt im Zusammenhang, nicht in den Einzelproblemen.“ | |
| Womit wir wieder bei der Frage sind, wie man vorn sein kann und | |
| gleichzeitig Masse erreichen. Das Zukünftige an Welzer ist, dass er eben | |
| nicht belehrend schreibt. Der rhetorische Kniff besteht darin, die Themen | |
| und Thesen wie in einem Gespräch wiederkehrend zu erweitern, zu verknüpfen, | |
| zu verfestigen. Er denkt so vor sich hin, der Leser denkt mit. Zwischendrin | |
| stellt er einem persönliche Fragen, auf die man keine Antwort hat. Genau | |
| das ist der Anfang vom Selbstdenken beziehungsweise dessen | |
| Weiterentwicklung. | |
| Dass er damit Menschen erreicht, liegt nicht daran, dass das populär | |
| daherkommt, sondern dass es emanzipatorisch ist. Und eben nicht | |
| paralysierend, sondern ermächtigend. Harald Welzer hat ein Denken, eine | |
| Sprache, einen Sound und eine Haltung gefunden, mit denen er Anschlüsse | |
| jenseits überkommener Denklager, Fachbereiche und Milieuzuordnungen | |
| herstellt. | |
| Damit ist er auf der Höhe der Zukunft. | |
| 30 Apr 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Peter Unfried | |
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