# taz.de -- Kolumne Die eine Frage: Die Stimmung kippt und kippt nicht | |
> Gespräche jenseits intellektueller Arschgeigen in der DB-Lounge des | |
> Berliner Hauptbahnhofs: Welches Land wollen wir sein, Harald Welzer? | |
Bild: Die meisten Menschen in Deutschland wollen in einer offenen Gesellschaft … | |
Der Sommer 2006 war keine Gesellschaftstransformation, sondern eine | |
rauschende Fußballparty. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Selbst wenn | |
der DFB diese WM nicht gekauft hat: Verloren ist sie so sehr oder so wenig | |
wie jede schöne Party. | |
Der Sommer 2015 dagegen ist eine anhaltende gesellschaftliche Bewegung. | |
Eine aktive Bürgergesellschaft hat das Planungsversagen der Bundespolitik | |
und der EU in der Flüchtlingsentwicklung durch Anpacken ausgeglichen und | |
eine offene Gesellschaft aktiv gelebt. | |
„Eine historische einzigartige Situation“, sagt Harald Welzer. Er ist | |
gerade in der DB-Lounge im Berliner Hauptbahnhof eingelaufen. Verspätet. | |
Kommt von Hannover, will nach Paris. | |
Gegen Rechte im „vielleicht fünfstelligen Bereich“, sagt Welzer, stünden | |
„40 Millionen Deutsche, die eine offene Gesellschaft wollen“. Aber statt | |
das zu feiern und diese Bewegung zu stärken, werde von der Politik | |
überwiegend im 20. Jahrhundert und in Nationalstaaten gedacht (Überwachung, | |
Kontrolle, Grenzen). Von den Medien ständig über Pegida und Nazis | |
berichtet. Und permanent das Gequatsche, dass die „Stimmung“ kippe oder | |
kippen könne. | |
## Welches Land wollen wir sein? | |
Welzer, 57, war Professor für dies und das, aber das Akademische schien ihm | |
zu nichts mehr zu führen. Er gründete Futurzwei, eine Stiftung, die sich | |
gesellschaftlicher Transformation verschrieben hat. Mittlerweile gehört er | |
zu den sichtbarsten öffentlichen Intellektuellen des Landes. Jetzt hat er | |
zusammen mit Alexander Carius vom Thinktank adelphi research eine | |
Veranstaltungsreihe am Start, in der die aus Flüchtlingsbewegung und | |
islamistischem Terror folgende Kernfrage für 2016 besprochen wird: „Welches | |
Land wollen wir sein?“ | |
Die These lautet: Bevor man über Grenzen, Obergrenzen oder | |
Schweinefleischzwang spricht, muss man sich erst einmal über die | |
grundlegende Frage verständigen: Offene Bürgergesellschaft oder nicht? Die | |
ersten Hyperkritiker haben schon draufgehauen, dass mal wieder der übliche | |
Kreis der Superchecker (Cohn-Bendit, Leggewie, Precht, Limbach, Wallraff, | |
Neiman, Lobo) daherkomme und nun auch noch der Gesellschaft das Sprechen | |
verordnen wolle. Ist nicht, sagt Welzer. „Es sollen nicht Intellektuelle | |
das Thema vorgeben, sondern alle sollen reden.“ Analog. Wenn sie denn das | |
Bedürfnis haben. | |
Im Schauspiel Frankfurt musste man ins Große Haus umziehen, über 600 kamen. | |
Kommenden Samstag ist Köln und tags darauf kommt Berlin | |
(die-offene-gesellschaft.de/) dran. Es gibt keine Vorgaben, aber es | |
zeichnet sich ab, was auch beim taz-Gespräch in Leipzig vergangenen Montag | |
auffiel: „Wir“, um mal diesen Hilfsbegriff zu benutzen, können kaum über | |
uns selbst sprechen, außer in Abgrenzung. Die einen versuchen sich sichtbar | |
zu machen, indem sie sich von Flüchtlingen abgrenzen. Die anderen, indem | |
sie sich von Flüchtlingsabgrenzern abgrenzen. | |
## Das eigene Weiß | |
Was für eine politische Identität wichtig ist, aber eben auch nur den | |
anderen als schwarz charakterisiert (siehe die übliche Grünen-Predigt.) Das | |
eigene Weiß ist eine Leerstelle. | |
Doch um zu wissen, wie man nicht sein will, muss sich auch eine | |
Gesellschaft der Individualisten darauf verständigen, was für sie wirklich | |
zählt. Nicht theoretisch, sondern: Wofür sie sich real engagiert. Dafür | |
darf man sich von der Politik nicht einen wöchentlich wechselnden | |
Erregungsknochen aufschwatzen lassen. Also, erstens: Machen. Zweitens: | |
Sprechen. Nicht über die. Über uns. Das Wogegen muss aus dem Wofür folgen – | |
und nicht umgekehrt. | |
„Ich bleibe dabei, wir erleben eine Sternstunde der Demokratie“, sagt | |
Harald Welzer. Und ich bleibe dabei, dass meine Stimmung nicht kippt. | |
12 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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