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# taz.de -- Aus dem Magazin taz.FUTURZWEI: Wie weiter, Germans?
> Im Wahlkampf 2017 wird über zentrale Zukunftsfragen nicht gesprochen.
> Doch damit dürfen wir die Politik nicht durchkommen lassen. Ein Aufruf.
Bild: Junge Männer können nicht ohne ihre Mutti – jedenfalls nicht auf eine…
Gerade lese ich in der Zeitung, dass Flüchtlinge neuerdings in großer Zahl
vor der Küste des Jemen mit Gewalt von Schlepperbooten getrieben werden und
ertrinken, weil sie wegen Mangelernährung äußerst geschwächt sind.
Sie kommen nämlich aus den Dürreländern Somalia und Äthiopien und sind vor
Hunger und Durst so verzweifelt, dass sie sogar in das Bürgerkriegs-,
Elends- und Choleraland Jemen zu fliehen versuchen, aber bevor ihnen das
gelingt, werden sie von den von ihnen bezahlten Schleppern in den Tod
getrieben.
Und in derselben Ausgabe lese ich, dass das Auswärtige Amt der Auffassung
ist, in Kabul würden lediglich drei von zehntausend Menschen Opfer
terroristischer Anschläge, da könne man das Land nicht ernsthaft als
„unsicher“ bezeichnen.
## Gelebte Doppelmoral der Gesellschaft
Der freiheitliche Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht
garantieren kann, lautet das berühmte Diktum des Verfassungsrechtlers
Ernst-Wolfgang Böckenförde. Das heißt, dass Demokratie nur unter der
Voraussetzung existieren kann, dass die Mitglieder einer Gesellschaft sich
selbst und dieser Gesellschaft Vertrauen entgegenbringen und Verantwortung
übernehmen.
Beides kann durch Gesetze und Verordnungen nicht vorgeschrieben werden,
weshalb ein freiheitlicher Staat, wiederum mit Böckenförde, „nur bestehen
kann, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her,
aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der
Gesellschaft, reguliert“.
Eine sich von selbst verstehende Wertebasis, die moralische Substanz, ist
mithin der Boden, auf dem der freiheitliche Staat gebaut ist. Was aber
bedeutet es vor diesem Hintergrund, wenn der alltägliche Zynismus wie in
der Flüchtlingsfrage immer neue Höhen erreicht – könnte es sein, dass es
einen kritischen Punkt gibt, ab dem eine gelebte Doppelmoral auf die
Gesellschaft zurückfällt, die sie praktiziert?
Die untergegangene Sowjetunion jedenfalls hatte ihre moralische
Halbwertszeit schon zwei, drei Jahrzehnte überschritten, bis sie dann
endgültig zusammenbrach. Und die American Reality lief schon seit Ronald
Reagan nicht mehr synchron mit dem American Dream; unter Donald Trump ist
das Land nun endgültig im Delirium angekommen, ebenfalls zwei, drei
Jahrzehnte über sein Verfallsdatum hinaus.
## Moralische Obdachlosigkeit der Deutungseliten
So betrachtet gefährdet eine zukunftsblinde und antimoralische Politik
mittelfristig immer den Fortbestand der freiheitlichen Gesellschaft selbst.
Solche Zukunftsblindheit ist auch in der visionären und moralischen
Obdachlosigkeit zu besichtigen, die die deutsche und die europäische
Politik der Gegenwart ebenso wie ihre Deutungseliten kennzeichnet.
So wenig Zukunft war in der Moderne, die doch durch einen emphathischen
Fortschrittsbegriff begründet ist, niemals zuvor. Und niemals so viel
Redundanz und Fantasielosigkeit und niemals so viel Anästhesie durch
Konsumscheiß jeglicher Art.
Deswegen bedeutet die Rückkehr zum Politischen, dessen Absenz uns der
Wahlkampf 2017 so deprimierend deutlich macht, eben auch: Wir müssen sagen,
wo wir hinwollen, und sagen, was dafür fehlt. Dafür brauchen wir moralische
Fantasie, um den Abstand zwischen dem, was wir anrichten, und dem, was wir
empfinden, zu verkleinern.
## Stimmt das? Wollen wir das?
In erster Näherung bedeutet das: Wenn die Flüchtlingszahlen weltweit in den
nächsten Jahren stetig steigen werden, dann ist eine Gesellschaftspolitik
notwendig, die Zuwanderung proaktiv als Teil von Modernisierung begreift.
Wir brauchen einen neuen Realismus, der akzeptiert, dass uns die
Fortsetzung der fossilen Wirtschaft und Mentalität nicht durchs
einundzwanzigste Jahrhundert bringt.
Wir brauchen soziale Intelligenz, die bei all den Micky-Maus-Versprechen
der digitalen Wirtschaft immer zwei Fragen stellt: Stimmt das? Und: Wollen
wir das?
Wir brauchen für eine zukunftsfähige Politik die Perspektive nicht
derjenigen, die lebensgeschichtlich ihre Zukunft schon hinter sich haben –
Schulz, Scholz, Schäuble –, sondern die der jungen Generation, die die
Systembrüche noch vor sich hat und sie mitgestalten können muss.
Und die Weiterarbeit am zivilisatorischen Projekt: Ein zwischenstaatliches
Gewaltmonopol. Ein neues Naturverhältnis. Eine Renaissance
nichtkonsumistischer Sinnbildung. Eine Reformulierung der Rolle des
Nationalstaats. Und so weiter.
Wie also weiter, Germans?
Harald Welzer ist Herausgeber des Magazins für Zukunft und Politik,
taz.FUTURZWEI.
12 Sep 2017
## AUTOREN
Harald Welzer
## TAGS
Deutsche Politik
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