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# taz.de -- Aus taz FUTURZWEI: Die linke Sklerose
> Was zum Teufel ist heute eigentlich noch „progressiv“? Die Linke
> jedenfalls nicht, findet Harald Welzer. Wir müssen wieder nach vorne
> denken.
Bild: Wo ist links und wo führt es hin? Wir müssen uns diese Fragen neu stell…
Die Rechte verzeichnet im Augenblick bekanntlich starke Geländegewinne. Da
ist es ungünstig, dass niemand so richtig weiß, was eine „Linke“ als
politische Antagonistin heute eigentlich noch ist. Deshalb fällt die
Reaktion auf die Renaissance der Rechten auch ganz unangemessen aus –
nämlich in der Regel sozialpädagogisch.
Gerade so, als handele es sich bei der Absicht, den liberalen
demokratischen Rechtsstaat zu zerstören, um eine Art irrtümlicher
Trotzhaltung, der man mit viel Verständnis und gutem Zureden schon
beikommen könne. Und dahinter steckt die ganz und gar irreale Vorstellung,
selbst noch Teil einer hegemonialen Kultur zu sein, die vage als links,
linksliberal, hilfsweise auch als progressiv bezeichnet wird, ohne dass
noch jemand wüsste, was mit all dem eigentlich gemeint sein soll.
Machen wir es mal grundsätzlich: Ist man im 21. Jahrhundert noch links,
wenn einen der okösoziale Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft nicht
interessiert? Ist man links, wenn einen der gerade vor aller Augen
ablaufende digitale Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft nicht
interessiert? Ist man links, wenn man das historische Subjekt noch dort
sucht, wo klassische Lohnarbeit verrichtet wird? Und ist man linksliberal,
wenn einen die manifesten Angriffe auf die offene Gesellschaft nicht
beunruhigen?
## Einfach nur progressiv ist aggressiv
Und was bitte soll „progressiv“ anderes sein als das Äquivalent zum
gleichermaßen inhaltsleeren Begriff der „Innovation“? Ohne irgendeine
Referenz auf etwas zu Erreichendes kann man wohl kaum sagen, ob jemand
progressiv oder regressiv oder einfach nur aggressiv ist.
Ach ja! Da gibt es ja noch die heroische Variante. Widerstand gegen die
Rechten, sie auf Buchmesseständen und bei Univeranstaltungen auspfeifen und
so. Ist super, hilft ihnen aber, sich als angegriffen, diffamiert,
ausgegrenzt usw. zu stilisieren.
Und hat seinen Grund vielleicht auch nur darin, dass man selbst keine Idee
hat, wie denn eine politische Haltung und Ästhetik des Zukünftigen
aussehen, die geeignet wären, das zivilisatorische Projekt der Moderne so
weiterzubauen, dass man durch das 21. Jahrhundert kommt, mit einem
überlebenstauglichen Naturverhältnis und einem globalen
Gerechtigkeitsregime. Ohne double-speech. Ohne Zynismus. Ohne als
Durchblickertum verkleidete Wendehalsigkeit, Typ FAZ-Feuilleton.
Also muss darüber gesprochen werden, wo heute vorn ist. Und vorn kann nur
dort sein, wo die zentralen Bedingungen der Gegenwart der Ausgangspunkt des
politischen Denkens und Handelns sind. Als da wären: ein
überlebensuntaugliches Naturverhältnis mit rasant steigenden
Zerstörungswirkungen, eine dynamische Form radikaler sozialer Ungleichheit,
die Rückkehr eines aggressiven Nationalismus, eine unglaublich schnell
zunehmende Vereinzelung der Menschen durch digitale Kommunikation, und
überhaupt die Digitalisierung als sich aggressiv durchsetzende Konstante
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen und überwachungstechnischen
Handelns.
## Die Dynamik der Anderen
Merken Sie was? Genau: Alle diese Bedingungen sind durch eine ausgeprägte
Dynamik gekennzeichnet, während das politische Denken auf der, tja, ähm,
also irgendwie linken Seite das Gegenteil charakterisiert: nämlich
Starrheit. Man könnte auch sagen Sklerose.
Deutlicher als in diesem Gegensatz kann gar nicht werden, dass es auf
geradezu spektakuläre Weise versäumt worden ist, das Projekt der Moderne
und der offenen Gesellschaft für das 21. Jahrhundert weiterzudenken. Man
hat den erreichten zivilisatorischen Standard der europäischen
Nachkriegsgesellschaften offenbar für gegeben und damit dauerhaft gehalten,
weshalb man sich darauf beschränken konnte, im komfortablen Innenraum
dieses Standards schön kritisch zu sein.
Aber Kritik bedeutet auch, die Voraussetzungen zu sichern, unter denen
Handlungsspielräume für die ökosoziale Transformation der modernen
Gesellschaften existieren – denn wenn die Demokratie erst einmal futsch
ist, gibt es die nicht mehr. Und dann aber: Nach vorn denken, soziale und
moralische Intelligenz gegen die technische und marktliche aufbieten und
einsetzen und umsetzen und dann mal sehen, wie es weitergeht.
Scheiß auf die Rechten. Unser Problem ist, dass wir uns zu wenig Utopie
zumuten, die wir aber brauchen, um Menschen auf dem zivilisatorischen Pfad
zu halten, die verwirrt, müde, überfordert und abgelenkt sind. Es gibt viel
zu tun. Bieten wir’s an.
20 Dec 2017
## AUTOREN
Harald Welzer
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