# taz.de -- Aus taz FUTURZWEI: Kapitalismus selbst gemacht | |
> Wer einen anderen Kapitalismus will, muss ihn selber formen. Der nächste | |
> Bürger muss ein Wirtschaftsbürger sein. | |
Bild: Die Erleuchtung suchen oder in bequemer Anti-Haltung verbleiben – das m… | |
Aufklärung heißt auf Englisch bekanntlich „Enlightenment“, was auch so vi… | |
heißt wie Erleuchtung. Das ist kein Zufall. Wo alles schön hell ist, | |
herrscht mehr Übersicht und man findet sich leichter zurecht. In Zeiten der | |
großen Transformation ist Erleuchtung demnach ein besonderer Segen. Die | |
Erleuchtung führt zum Durchblick. Das allerdings setzt den Mut aller | |
Aufklärung voraus, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und aus der | |
„selbst verschuldeten Unmündigkeit“ auszusteigen. Immanuel Kant aus | |
Königsberg kannte seine Pappenheimer. | |
Aber ausgeleuchtet ist deshalb bis heute immer noch nicht so gut, und es | |
scheint, als ob die Stimmung insgesamt immer düsterer wird. Keine | |
Aufklärung, nirgends, dafür überall Revolutionsfolkore, die nichts weiter | |
ist als Unterhaltung. The Revolution will not be televised. Geht mal raus. | |
Macht mal das Licht an. | |
Aufklärung ist ein Projekt, das in Selbstbestimmung, Selbstständigkeit, | |
Selbstermächtigung mündet. Um zu sehen, wohin das führt, brauchen wir | |
Leute, die die Türen und Fenster erst einmal aufmachen können, weil sie | |
wissen, dass es um mehr Licht geht. Zivilkapitalisten, Bürger einer | |
Zivilgesellschaft, die ein selbstbestimmtes ökonomisches Leben führen. | |
Wie selbstständig, selbstermächtigt, selbstbestimmt sollte denn jemand | |
sein, der vom Geld anderer Leute abhängig ist? Der wirtschaftliche | |
Zusammenhänge nur erahnt? Der kein selbstständiger wirtschaftlicher Akteur | |
ist, sondern bloß Verbraucher, wie der Kunde im späten | |
Industriekapitalismus sarkastisch, aber treffend, genannt wird? | |
## In der folkloristischen Antikapitalismus-Echokammer | |
Natürlich ist die Aufklärung nicht zu Ende, solange die ökonomische | |
Unmündigkeit wütet, die sich nur in Forderungen nach „mehr | |
Kapitalismuskritik“ (Martin Schulz) oder in der folkloristischen | |
Antikapitalismus-Echokammer (überall) artikuliert. Das ist keine | |
Aufklärung, sondern schlicht das Gegenteil. | |
Einer der großen Marx-Versteher und Kenner des 20. Jahrhunderts war der | |
österreichisch-amerikanische Ökonom Joseph Schumpeter. Der wusste, was | |
Transformation in der Praxis bedeutet, er erlebte den Weltkrieg Nummer | |
eins, den Wahnsinn der Inflation, die Große Depression nach dem Crash des | |
Schwarzen Freitags, und dann vertrieben ihn die Nazis aus seiner Wahlheimat | |
Deutschland. | |
Sein bis heute wichtigstes Buch hat er 1942 geschrieben, eine Zeit, in der | |
das Totalitäre endgültig gesiegt zu haben schien – und mit ihm die | |
Planwirtschaft, die nicht bloß in Stalins Einflussbereich herrschte, | |
sondern auch die Grundlage der Nazikriegsmaschine war. „Kapitalismus, | |
Sozialismus und Demokratie“ schrieb Schumpeter in Verteidigung des Systems | |
der Marktwirtschaft und der Unternehmer, der Entrepreneure. | |
Es ist ein Buch geworden, wie eine Methode zum Sündenbock für die eigene | |
Unzulänglichkeit gemacht wird. Dem Kapitalismus, schreibt Schumpeter, wird | |
ein Prozess gemacht, bei dem „die Richter das Todesurteil bereits in der | |
Tasche haben“. | |
## Die Massenproduktion nutzte nicht den Eliten | |
Derlei ist praktisch. Man weiß, wer der Böse ist und dass man zu den Guten | |
gehört. Schumpeter ahnte, dass diese Entwicklung umso stärker verläuft, je | |
mehr Leute an den Erfolgen des Kapitalismus partizipieren. Die Daten | |
sprechen für sich – eine Verdreifachung der Lebenserwartung seit Beginn des | |
Industriekapitalismus, fast fünfzigfache Wohlstandsmehrung in knapp | |
zweihundert Jahren. | |
Die Massenproduktion nutzte nicht den Eliten, sondern den einfachen Leuten. | |
Der Kapitalismus, das Werkzeug des tätigen Bürgertums, hat in der Tat die | |
alten, ständischen Verhältnisse hinweggefegt. Aber Dankbarkeit ist keine | |
politische Disziplin. Muss auch nicht sein, denn es geht, | |
erfreulicherweise, eben nicht um Moral, sondern Ergebnisse. | |
„Der Kapitalismus“ ist gewitzt, das System weiß sich anzupassen, es | |
kooperiert stillschweigend mit Kulturen und Traditionen, Revolutionären und | |
Weltrettern gleichermaßen. Mehr als siebenhundertfünfzig „Kapitalismen“, | |
die sich deutlich voneinander unterscheiden, sind bekannt. Ihre | |
Gemeinsamkeiten sind manchmal nur mühsam zu erkennen. Der französische | |
Historiker Fernand Braudel hat in seiner „Dynamik des Kapitalismus“ die | |
Feststellung gemacht, dass es sich beim Kapitalismus nicht um eine Methode | |
handle, sondern um die „Summe von Kniffen, Verfahren, Gewohnheiten und | |
Leistungen“. | |
Kapitalismus, das ist ein Schweizer Messer, ein Werkzeugkoffer. Der | |
Kapitalismus wartet auf seine Nutzer. Er nimmt Leute, die Atomkraftwerke | |
bauen ebenso gern wie solche, die einen alternativen Antrieb in der Tasche | |
haben, der die Welt verändert. Der Kapitalismus macht sich mit | |
Taschendieben und Trickbetrügern gemein oder mit Leuten, die die Grundlagen | |
von Seuchen und Kindersterblichkeit bekämpfen. Die ökologische | |
Transformation wird erheblich durch die Marktwirtschaft vorangetrieben, | |
weil bessere grünere Technologien längst ein Wettbewerbsmerkmal sind. | |
## Das Gegenteil von Schicksal | |
Der Kapitalismus kennt keine Rassen, keine Religionen, er unterscheidet nur | |
in Unternehmen und Quatschbuden. Wo der Wohlstand hoch ist, wächst die Zahl | |
der Quatschbuden, klar, lest Schumpeter, aber dennoch bleibt der | |
Kapitalismus das, was man draus macht. Das Gegenteil von Schicksal. Die | |
Alternative zum Ressentiment. | |
Wer sich nicht aus seiner selbst verschuldeten ökonomischen Abhängigkeit | |
befreit, der will nur spielen. Dabei wird’s jetzt erst ernst. | |
Zum Dunkelthema wird er vor allen Dingen durch die Enge seiner Kritiker, | |
die ständig über die Kabel stolpern, bis die Lampe umfällt und sie nix mehr | |
sehen. Vielleicht sollte man sich die Welt, ideologisch betrachtet, nicht | |
immer so schlecht saufen, dann passiert so was nicht. Und anderen, | |
einschließlich konstruierten Sündenböcken, die Schuld an eigenen | |
Versäumnissen zuschieben. Das System zwingt uns, hat Marx geschrieben, | |
unsere Verhältnisse mit nüchternen Augen zu betrachten. | |
Es ist schade, dass die von ihrem eigenen Vorurteil besoffenen | |
Bürgerkinder, Erben, Festangestellte und andere Rundumversorgte das nicht | |
mehr lesen oder es nicht verstehen, wenn sie es doch tun. Die Guten sind | |
nicht die, die es sich gut eingerichtet haben, sondern die, die lernen, wie | |
man Probleme löst. Die Welt wird nicht besser, wenn man seine | |
Selbstbestimmung gegen feste Monatsrenten verhökert. | |
## Eine reaktionäre Allianz von Links und Rechts | |
Welche Form von Revolution soll das sein, die sich als Maßstab die | |
Abhängigkeit von anderen gewählt hat? Es nährt sich der Verdacht, dass das | |
vermeintlich Antikapitalistische, in dem sich Links und Rechts heute so | |
wiederfinden, nichts weiter ist als eine reaktionäre Allianz zur Wahrung | |
der eigenen Bequemlichkeit. Ein Biedermeier, der die Ökonomie hasst, weil | |
sie ihn in seiner Ruhe stört. Diese Kräfte sind in Deutschland massiv | |
vertreten, und sie stehen gegen Fortschritt und Transformation auf allen | |
Ebenen. Zivilkapitalismus ist Zivilgesellschaft, die sich dessen bewusst | |
ist und gegen diesen Biedermeier, die Ignoranz, die darin steckt, mobil | |
macht. | |
Selbstermächtigung und Selbstverantwortung, die beiden Fundamente des | |
Zivilkapitalismus, sind kein Kindergeburtstag. Aber es stimmt schon: | |
Solange das Selbst nicht verantwortlich agiert und sein Bestes gibt, bleibt | |
Nachhaltigkeit eine Phrase und die soziale und ökologische Wende weg von | |
der Industriegesellschaft ein Lippenbekenntnis. | |
Ablasshandel hilft uns nicht. | |
Selbermachen schon. | |
Im Kern wussten das die 68er besser als viele ihrer Nachfolger heute. | |
Zivilkapitalisten gründeten Verlage, Kooperativen, Genossenschaften, Wohn- | |
und Erwerbsprojekte. Der unternehmerische Impuls dieser Zeit war vielleicht | |
ihr bester Teil, der so seltene Versuch, dass in der Linken aus Spaß mal | |
Ernst wird – und die Emanzipation, das Ziel der Aufklärung, vollendet wird. | |
Der Kern allen politischen Bewusstseins lautet: „Du bist in der Lage, etwas | |
zu ändern.“ Genau das machen Entrepreneure, die Praktiker des | |
Zivilkapitalismus, auch. Günter Faltin, Volkswirt und erfolgreicher | |
Unternehmer („Teekampagne“), hat in seinem klugen Buch Wir sind das Kapital | |
die Möglichkeiten jedes Einzelnen in der Wissensökonomie des 21. | |
Jahrhunderts beschrieben. Entrepreneurship, Unternehmertum, ist allgemein | |
zugänglich, es gibt keine Ausreden, keine Barrieren. | |
## Du veränderst die Welt | |
Die Wissensökonomie ist der Kapitalismus der Selbstständigkeit, nicht mehr | |
der großen Massenorganisation. Du veränderst die Welt, das ist kein Wunsch | |
mehr, sondern die Leitformel des 21. Jahrhunderts. Politisch sein heißt | |
heute, Kapitalist werden. Nichts verändert sich von selbst. Und: Die alten, | |
ständischen Verhältnisse sind heute nicht mehr die Feudalherren, die Marx | |
und Engels im Sinn hatten. | |
Es ist die depressive Bräsigkeit der Unselbstständigen, die klagen, aber | |
nichts tun; die Masse der Rentiers der alten Welt, mit der sich nichts | |
verändert. Damit lässt sich nichts anfangen. Transformation braucht | |
Erwachsene, die ihr eigenes Leben leben wollen, selbstbestimmt an ihrer | |
Selbstverwirklichung arbeiten und sich selbst zu helfen wissen. | |
Unternehmerisches Denken, Zivilkapitalismus, ist eben kein abweichendes | |
Verhalten, sondern der Kern der offenen Gesellschaft. Gute Politik kann man | |
von schlechten Angewohnheiten ganz leicht unterscheiden: Das eine will | |
Probleme lösen, das andere sie bloß verwalten. Aber die Errichtung von | |
Bürokratien und Planstellen schafft keine Veränderung, sondern bloß | |
Ausreden. | |
Nehmt den Werkzeugkoffer, das System und legt los. Zivilkapitalisten halten | |
sich an Ernst Bloch, an das Prinzip Hoffnung: „Es kommt drauf an, das | |
Hoffen zu lernen. Seine Arbeit entsagt nicht, sie ist ins Gelingen verliebt | |
statt ins Scheitern.“ | |
Das ist Zivilkapitalismus. Und wer jetzt die Schnappatmung ausmacht und das | |
Licht an, kann das ganz gut erkennen. Hinter uns die Abhängigkeit. Vor uns | |
die Selbstbestimmung. Man kann sie gut sehen, wenn man mal rausgeht und was | |
macht. | |
7 Jan 2018 | |
## AUTOREN | |
Wolf Lotter | |
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Milo Rau | |
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