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# taz.de -- Serie: Wie weiter, Germans (11): „Wir sind Arschlöcher durch Geb…
> Milo Rau veranstaltet in Berlin das „Weltparlament“. Ein Gespräch über
> globale Gerechtigkeit und Ausbeutungskapitalismus.
Bild: „Im Kosmos der Figuren ist da jetzt eine mehr: der Flüchtling. Ich sag…
Milo Rau steht in den Kulissen seines neuen Stücks „Lenin“ , das im Oktober
an der Berliner Schaubühne [1][erstaufgeführt wurde]. Es spielt in Lenins
Datscha außerhalb von Moskau. Rau hat das Landhaus als Drehbühne bauen
lassen. Jetzt drückt er auf den Knopf und Lenins Sterbebett dreht sich
heran.
taz.FUTURZWEI: Wo wir grade an einem Sterbebett stehen: Worüber wurde bei
der Bundestagswahl nicht gesprochen, obwohl es entscheidend für die Zukunft
ist, Herr Rau?
Milo Rau: Zum Beispiel, wie unsere Güter produziert werden – und wie sie zu
uns gelangen. Nehmen wir das im Kongo abgebaute Coltan oder Gold. Das
EU-Parlament verabschiedet ein Gesetz, das sagt: Wir wollen keine
Konfliktmineralien, wir wollen saubere Produktionsbedingungen. Das klingt
erst einmal toll, aber dann stellst du dem Rohstoffexperten der EU die
Frage: Was heißt eigentlich „Konfliktmineral“? Und der antwortet ganz
entspannt: Das ist ein Mineral, das wir nicht haben, das wir aber in Europa
benötigen. Deshalb brauchen wir dieses Regulierungsgesetz, um die
kongolesischen Produzenten zu kriminalisieren und die Rohstoffe zu
billigstmöglichen Preisen nach Europa zu schaffen.
Das Gesetz soll den Zusammenhang zwischen Konflikten,
Menschenrechtsverletzungen und unserem Konsum von Alltagsgütern prüfen?
Genau, das ist der moralische Anspruch. Aber in Wahrheit ist es ein
imperiales Monopolgesetz: Denn das Label „sauber“ kriegen nur die
europäischen Multis. Die kongolesischen Kleinproduzenten haben keine Lobby
im EU-Parlament. Das ist so, als würde das ZK der chinesischen
Kommunistischen Partei Ethikgesetze verabschieden für die deutsche
Autoindustrie, VW schließen lassen und dann chinesische Autos importieren.
Das klingt völlig absurd, für die Kongolesen und riesige Weltteile ist das
jedoch Alltag.
Der Alltag des Nicht-Vorkommens.
Genau. Diese Lobbylosen nennen wir in unserem Weltparlament den globalen
Dritten Stand. Bei der Französischen Revolution hat man gesagt:
Fünfundneunzig Prozent der Einwohner dieses Landes sind nicht im
französischen Parlament. Das ist der Dritte Stand, die Nation. Und diese
absolute Mehrheit, die alle Güter produziert, braucht eine Lobby. Die muss
im Parlament repräsentiert sein.
Sie haben das „Kongo-Tribunal“ veranstaltet und planen nun im Theater ein
Weltparlament. Das ist eine neue Dimension politischer Kunst.
Wir haben das Zeitalter der Skandalisierung verlassen, in dem wir Künstler
sehr lange festsaßen. An die Stelle der Kritik der Gegenwart tritt der
symbolische Entwurf des Zukünftigen. Wir stehen am Beginn einer Epoche der
Institutionalisierung: der Schaffung symbolischer Formen, symbolischer
Praktiken und Solidaritäten.
Ihre Schaubühnen-Kollegin Nina Hoss, die mit dem Eribon-Stück „Rückkehr
nach Reims“ in Berlin auf der Bühne ist, zog sich im Guardian auf die alte
Künstlerposition zurück und sagte: Ich habe keine Lösungen, ich habe nur
Fragen.
Ich schätze Nina Hoss sehr. Aber strukturell ist das das Understatement der
Arrivierten. Wir europäischen Künstler haben ja alles, warum also nach
Lösungen suchen? Der Planet kann sich diese lauwarme Bequemlichkeit nicht
leisten. Ich bevorzuge deshalb das brechtianische Künstlermodell: Der
Schüler fragt, der Lehrer antwortet. Weil: Die Fragen, die Probleme sind ja
da. Wir brauchen jetzt Antworten. Man kann sich irren, aber es geht darum,
es zu versuchen.
Schluss mit dem guten alten Hinterfragen?
Die postmoderne Vernunft gefiel sich sechzig Jahre darin, Institutionen zu
hinterfragen, sie zu dekonstruieren. Ich glaube aber, das reicht nicht
mehr. Man muss außerhalb der Herrschaftsinstitutionen neue, utopische
Institutionen vorbereiten, die dann da sind, wenn die aktuellen
zusammenbrechen. Und das werden sie im Lauf der nächsten Generation.
Mit [2][dem „Kongo-Tribunal“] haben Sie die globalen Rohstoffkonflikte und
die Ausbeutung der kongolesischen Menschen verhandelt, Sie haben dafür über
ein Jahr recherchiert und das „Tribunal“ in der ostkongolesischen Stadt
Bukavu inszeniert – mit den wahren Opfern und Tätern. Auf der Richterbank
saß unter anderem Jean Ziegler, Berater des UN-Menschenrechtsrates.
Was nicht darstellbar ist, ist nicht denkbar, und das „Kongo-Tribunal“ hat
etwas real gemacht, was vorher nicht einmal in den verrücktesten Träumen
vorstellbar war. Der Rebell stand hier wirklich dem Minister gegenüber, der
Schürfer dem Konzernmanager, und hinterm Richtertisch saßen Anwälte aus dem
Kongo und Den Haag. Und plötzlich sagen die Leute: Ach so, man kann die
anklagen, man kann jemand aus Den Haag einfliegen lassen, man kann lokales
Bodenrecht und internationales Menschenrecht kombinieren. Und plötzlich
versteht man: Das geht ja! Und so bekommt man, nach und nach, eine neue,
realistische Wahrnehmung und Empfindung von dem, was global läuft und
möglich ist. Auf welcher Deutungs- und Solidaritätshöhe wir der globalen
Wirtschaft begegnen müssen.
Es geht am Ende aber keiner ins Gefängnis.
Nein. Aber zwei Minister wurden entlassen, und die Aktien der angeklagten
Goldfirma Banro fielen um mehrere Prozentpunkte. Was geschah also im
„Kongo-Tribunal“? Es wurden Realitäten in einem Rahmen geschaffen, den es
vorher als Institution noch nicht gab. Im Vorfeld sagte uns ein
Rechtsprofessor: Ja, aber welche staatlichen und politischen Akteure sollen
das denn umsetzen? Wer sorgt für die Rechtsfolge? Wir sagten: Das ist nicht
unsere Aufgabe zu sagen, wer das auf Dauer stellt. Wir zeigen, wie es
gemacht wird. Machen muss es dann die Menschheit.
Die Lobbylosen von heute bekommen also in Ihrem Weltparlament eine Lobby.
Und was passiert dann?
Es geht darum, nach sechzig Jahren postmoderner Manöverkritik wieder in
utopische Bewegung zu kommen. Es gibt ja zwei apokalyptische Reiter, die in
Deutschland gepeitscht werden, bis sie irgendwann den Geist aufgeben
werden: der eine ist der Moralismus, der andere der Alarmismus. Es geht
darum, diese beiden Gäule nun endlich mal in Rente zu schicken und einen
globalen Realismus zu entwerfen.
Das heißt?
Globaler Realismus will klären, wie man lokale und globale Probleme
miteinander verschaltet. Ganz real und pragmatisch. Zum Beispiel,
CO2-Ausstoß runterdrehen, was heißt das denn? Darf der Kongo keine
Industrie aufbauen oder stellt die Alte Welt ihre Industrie jetzt mal
hundert Jahre ab, weil der Kongo dran ist? Wir versuchen, Institutionen zu
schaffen, in denen all diese Paradoxien verhandelbar werden, und zwar unter
Einbezug aller Betroffenen. Es geht um ein internationales
Wirtschaftsrecht, um ein internationales Völkerrecht und Strafrecht, das
mit den lokalen Gegebenheiten rückgekoppelt ist. Und dabei merkt man
ständig: Ach, das ist ja gar nicht so einfach.
Sie gehen davon aus, dass wir in eine Phase eintreten, die man analog zu
der Zeit vor der Französischen Revolution formulieren kann. Wir Europäer
sind Teil der Aristokratie. Es gibt einen globalen Dritten Stand,
internationales Subproletariat, Menschen, die migrieren und flüchten
müssen. Wir haben genau die gleichen Probleme, die im Westen bereits im
frühindustrialisierten 18. Jahrhundert aufgekommen sind. Nur im globalen
Maßstab. Richtig?
Absolut. Mit der Revolution des Dritten Standes in Frankreich beginnen das
nationale und das imperiale Zeitalter. Nationen müssen plötzlich
Absatzmärkte und Rohstofflieferanten woanders finden, die Nationen werden
zu kapitalistischen Schicksalsgemeinschaften. Der Merkantilismus wird
internationaler Finanzkapitalismus. Und plötzlich werden gewaltige
vereinheitlichte Märkte geschaffen, Monsterfabriken, Frankreich ist ja
riesig für die damalige Zeit.
Und was heißt das heute für den Kongo?
Was die Ressourcen angeht, sind wir an einem ganz anderen Punkt als im 18.
Jahrhundert. Der Kapitalismus ist in seiner Endphase, nachhaltige
Industrialisierung kommt für ein Land wie den Kongo gar nicht mehr infrage,
dafür hat man keine Zeit mehr. Deshalb ist es so verlogen, wenn man in
Bezug auf den Ostkongo von Industrialisierung spricht: Die Kongolesen
werden einfach auf industrielle Weise enteignet – Zyanid in den Boden, raus
mit dem Gold und Tschüss.
Ist das noch Imperialismus oder etwas Neues?
Wir haben heute imperiale Räume und Räume außerhalb der Imperien, das ist
das Problem. Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre dachte man
vielleicht noch, diese Räume zusammenschließen zu können. Es gab gewaltige
Industrie- und Bildungsprogramme für die Dritte Welt. Das ist vorbei. Man
weiß, es wird ökologisch nicht mehr gehen, der Planet hat die Ressourcen
nicht mehr, es ist zu spät. Die Kongolesen werden uns in dieser Season der
Menschheitsgeschichte nicht mehr einholen. Damit haben wir abgeschlossen,
das ist der fatalistische Zug unserer Zeit.
Was heißt das politisch?
Man muss die näher kommende Katastrophe verlangsamen und gerecht
organisieren. Wir müssen gewissermaßen für die nächste Season der
Menschheitsgeschichte Parallelstrukturen schaffen, um vorbereitet zu sein,
wenn die tot gelaufenen Strukturen der Alten Welt wegfallen.
So wie Sie drauf sind, würden Sie bei der Bundestagswahl gar keine Partei
wählen?
Ich würde die wählen, die mir am nächsten sind. Da gibt es aber inhaltlich
eigentlich keine. Was es gibt, sind Freundschaftsbeziehungen in die Linke
und zu den Grünen, und da gibt es auch den einen oder anderen Konsens in
globalen Fragen. Die gleiche Frage stellt sich mir in der Schweiz auch, da
lande ich bei den Sozialdemokraten, die dort eine andere Struktur haben und
nicht so degeneriert sind wie die SPD in Deutschland.
Was halten Sie vom Gerechtigkeitspathos der Linkspartei und der SPD?
Der Dritte Stand hierzulande ist ins Kleinbürgertum abgesunken, das
jenseits seiner Spendenseligkeit über kein globales soziales Bewusstsein
verfügt. Warum auch? Für die Europäer kann es ja nur schlechter werden. Es
gibt den Dritten Stand aber außerhalb Europas, weil die Weltwirtschaft ohne
Proletariat nicht funktioniert, also ohne all jene, die die Sachen, die auf
wundersame Weise in unsere Regalen zu Billigstpreisen auftauchen,
anpflanzen, ernten, abbauen.
Das Proletariat ist dort, im Kongo, in Lateinamerika, in China?
Unser eigenes Proletariat wird mindestversorgt und langweilt sich zu Tode.
In Deutschland gab es ja letztes Jahr diesen lächerlichen Eribon-Turn. Als
hätte es eine Art Führerbefehl gegeben, mussten auf einmal alle dasselbe
Buch lesen, in diesem Fall „Rückkehr nach Reims“. Und plötzlich haben all
diese kleinbürgerlichen deutschen Intellektuellen erkannt: Oh, es gibt die
soziale Frage. Es gibt ein Proletariat, einen Dritten Stand. Das hatten sie
zwanzig Jahre lang ganz vergessen.
Wie kommt es, dass ein Großteil der zeitgenössischen Intellektuellen sich
wie auf Führerbefehl auf ein Buch oder ein politisches Stichwort einigt,
war das immer so?
Erinnern Sie sich an das Phänomen des Pete-Doherty-Hütchens?
Der Sänger der britischen Band Libertines.
Dieses Filzhütchen ist eines Tages auf Dohertys Kopf aufgetaucht, dann
haben es alle getragen, sogar mein Onkel hatte eins, und dann war es über
Nacht wieder weg. Das geht auch mit Beethovens Neunter, Eribons Buch oder
einem Song von Rihanna.
Aber die Hütchenträger des gehobenen Feuilletons treten doch mit dem
Selbstbild an, dass sie selbst Unterscheidungsvermögen haben und den
entscheidenden Punkt machen.
Ja, und es gibt ja auch immer den Punkt, an dem die Kritik der
Pete-Doherty-Hütchen-Träger das neue Pete-Doherty-Hütchen wird. Ich habe
dafür den Begriff des Metasklaven geschaffen. Was ich damit sagen will:
Auch derjenige, der den Führerbefehl-Diskurs kritisiert, befolgt ihn.
Seit einiger Zeit reden alle wieder über Marx.
Ich habe mich in den letzten Monaten wieder einmal sehr intensiv mit der
Arbeiterbewegung beschäftigt für mein Lenin-Stück. Und wenn du die
intellektuellen Bücher einer Zeit vergleichst, der 20er-Jahre zum Beispiel,
dann merkst Du: Es denken alle gleich. Karl Liebknecht spricht und schreibt
im Grunde wie ein Nazi, oder umgekehrt. Liebknecht, Hitler, Stalin, Lenin:
Sie alle reden über die Nation, sie alle verachten das Kleinbürgertum, sie
alle feiern den sportlichen Körper. Auch wenn ein Kommunist der 20er-Jahre
den Begriff der Rasse kritisiert: Er nimmt ihn als relevant an. Warum ist
aber heute plötzlich jeder Marxist? Ab den 70ern war eine Zeit lang der
Begriff der „Klasse“, der hundert Jahre lang auf der Tagesordnung gewesen
war, nicht mehr angesagt. Wie das Herrenhütchen, das in den 60ern plötzlich
weg war. Und ein Begriff, der mal da war, dann weggeschafft wurde und
wieder auftaucht: Der ist irgendwie besonders geil und campy, der hat
besonders viel Charme für kleinbürgerliche Intellektuelle. Warten wir ab,
in zehn Jahren ist der Rasse-Begriff wieder en vogue.
Kommen wir lieber zum Theater zurück!
Wenn wir da aber zur Klassen- beziehungsweise Ständefrage zurückkommen:
Früher hatte man ein vertikales Mitleidsempfinden, das sich durch die
Schichten hindurch universalisierte. Im Theater taucht im 18. Jahrhundert
plötzlich der Kleinbürger als fühlendes Wesen auf, im 19. Jahrhundert dann
der Proletarier. Bei Lessing haben plötzlich die Kleinbürgermädchen
geweint, und bei Ibsen, hundert Jahre später, haben sie politische
Ansichten. Und hier kommt Hoffnung auf: Denn die aktuelle Theatergeschichte
ist voller Anzeichen, dass sich in der Ausdehnung des Weltgeistes etwas
vorbereitet. Dass so etwas wie eine Horizontalisierung der dramatischen
Empfindsamkeit stattfindet, dass sich ein globaler Realismus vorbereitet.
Und das ist irreversibel. Die Schichten, die ins Theater reingerutscht
sind, die zu dramatischen Figuren wurden, sind nie wieder rausgerutscht.
Sie haben in Ihrem Stück „Mitleid“ den Flüchtling reingeholt.
Genau, als ich „Mitleid“ schrieb und den Begriff des „Zynischen Humanismu…
benutzte, waren plötzlich Flüchtlinge ein Thema. Zuerst auf einer
paternalistischen Moralebene, dann wurde der Flüchtling zu einer Figur, die
einfach da war und die da blieb. Das wurde zur täglichen Figur, zur
Erfahrung. Im Kosmos der Figuren ist da jetzt eine mehr: der Flüchtling.
Ich sage voraus, dass die auch in zwanzig oder fünfzig Jahren noch da sein
wird. Das ist keine Mode.
Sondern eine reale Veränderung?
Die Frage ist: Wie wird sich die Empfindsamkeit verändern, wie wird sie
sich politisieren? Das Kleinbürgermädchen darf im 18. Jahrhundert bei
Schiller eigentlich nur weinen, bei Ibsen hält sie dann politische Reden,
bei Jelinek mordet sie. Diese Ausweitung und Politisierung der Wahrnehmung
der Welt ist die Aufgabe der realistischen Generation.
Das Sommerthema der plötzlichen „Ehe für alle“ müsste doch in Ihrem Denk…
der Gipfel des Wohlstandzynismus sein. Die Aristokratie deliriert sich an
ihren identitätspolitischen Fortschritten – und blendet den globalen Rest
aus?
Das denke ich überhaupt nicht. Bei Didier Eribon, um beim Hauptfetisch
unserer heutigen Hobby-Marxisten zu bleiben, geht es in Wahrheit ja auch
immer darum, dass er schwul ist und das politisiert. Da bin ich absolut
gleicher Meinung: Es gibt eine Gleichzeitigkeit von Kämpfen, die man in
ihrer Gleichzeitigkeit akzeptieren muss, ohne sie hierarchisch zu ordnen.
Was man finden muss, sind die Bezüge. Und das ist auch das Ziel unseres
Weltparlaments: Horizontale Grenzen zu überwinden, aber darüber hinaus auch
Zeittiefe in Vergangenheit und Zukunft herzustellen. Gleichzeitigkeiten,
Solidaritäten über Zeit und Raum hinweg zu erobern und zu politisieren.
Trotzdem: Das Homo-Adoptionsrecht als emanzipatorische Gerechtigkeit
beschäftigt die Gesellschaft, nicht aber die damit zusammenhängenden
verdeckten Herrschaftsverhältnisse, etwa eine ukrainische Leihmutter.
Wie gesagt: Die einzige Lösung ist die Ausweitung des Blickwinkels und
dessen Politisierung. Weil bezahlte Leihmutterschaften bei uns verboten
sind, wird das ausgelagert. Nicht mal nach Afrika, nicht mal in die
Ukraine, sondern nach Spanien, nach Griechenland. Fürs Weltparlament sind
wir mit mehreren Leihmüttern aus diesen Ländern in Kontakt, denn es geht
darum, Menschen, die nicht im Fokus stehen, eine Stimme und politische
Macht zu geben.
Um verhandelbar zu machen, was kriminell ist?
In Peru gibt es diesen Bergbauern, der unter einem Gletscher lebt und RWE
verklagt hat, weil der Gletscher aufgrund der Klimaerwärmung bald abstürzen
wird. RWE hat einen Anteil von 0,5 Prozent an den globalen CO2-Emissionen
und soll deshalb 0,5 Prozent der Katastrophe bezahlen. Darum geht es, um
Realitäten. Denn erst in dem Moment, in dem es in Deutschland
kriminalisiert wird, wenn man einen Gletscher in Chile indirekt zum
Einsturz bringt, wird es verhandelbar.
War der ganze Bundestagswahlkampf ein Ablenkungsmanöver für Sie?
Der Deutsche Bundestag ist kriminell in dem Sinn, dass nicht einmal fünf
Prozent der von seiner Politik Betroffenen darin vertreten sind. Egal, wie
gut ein Regulierungsgesetz gemeint sein mag: Es wird von der deutschen
Wirtschaft und ihrer Lobby so angepasst, dass es sich ins Gegenteil
verkehrt. Vor allem aber: Unsere Parlamentarier sind dem Nationalstaat
verpflichtet. Sie sind damit rein strukturell Opfer des Widerspruchs
zwischen globaler Wirtschaft und Nationalstaat. Ob sie nun Linke oder Grüne
oder Konservative sind, da stecken sie alle drin und kommen nicht raus.
Diese Leute machen völlig selbstverständlich Gesetze, die Griechenland oder
Zentralafrika ruinieren. Und da stellt sich die Frage, ob die politischen
Unterschiede zwischen den Parteien noch von Belang sind.
Ja, und?
Unter revolutionärer Perspektive: Nein. Meine Hoffnung ist deshalb das
erste, eigentlich methodologische Treffen der General Assembly im November.
Da fragen wir: Wie hängt Globales und Lokales strukturell zusammen? Man
würde denken, dass das etwa bei Waffenexporten klar ist. Ist es aber nicht:
Im Nordirak, wo ich oft unterwegs bin, wurde mit Heckler & Koch etwa der
Vormarsch des IS aufgehalten, zugleich aber das Gebiet der Kurden auf
Kosten des irakischen Staates ausgedehnt. Im Weltparlament haben wir also
zwei Lobbys, die eine findet Waffenexporte super, die andere scheiße. Das
sind unauflösbare Antagonismen, und deshalb brauchen wir endlich einen
Apparat, der diese Fragen bearbeitet, Lösungsansätze anbietet und beginnt,
die Leute an die konsequente Politisierung solcher Paradoxien zu gewöhnen
Warum ist diese Politisierung eigentlich so schwer?
Wir haben das Gefühl, immer mehr zu wissen und immer schneller zu handeln –
in Wahrheit findet aber eine Einschränkung, fast Lähmung unserer
Entschlussfähigkeit statt. Wie Teenager sitzen wir unbeweglich und
lethargisch in unseren Zimmerchen, in unseren Köpfen aber rasen die
Gedanken. Die technische Entwicklung hat unseren Willen gelähmt und unsere
seelischen und sozialen Algorithmen völlig ins Ungleichgewicht gebracht.
Auch in einer Mine im Kongo ruft der eine heute den anderen zwanzig Mal an,
um zu sagen, dass er gleich kommt oder doch nicht gleich kommt oder jetzt
doch gleich kommt. Und am Ende passiert gar nichts.
Das zeigt, dass die Universalisierung der kulturellen Form auch die
Minenarbeiter im Kongo beteiligt. Während die Universalisierung materieller
Teilhabe eben nicht stattfindet. Dafür haben auch die linken Parteien keine
Lösung.
Es ist, als würden wir von den technischen Apparaten in einer totalen
Gegenwart festgehalten, während der Planet in den Untergang rauscht.
Insofern bin ich auf der Seite von allen, die die Handlungsfähigkeit der
Individuen und zivilgesellschaftlichen Akteure wieder wachrütteln wollen.
Viele, mit denen ich im Kongo eng zusammenarbeite, sind nach politischen
Begriffen rechtsliberal. Weltanschaulich passt das überhaupt nicht zu
meinen Überzeugungen, aber politisch-strategisch machen diese
Kollaborationen Sinn. Da geht es um Nationalisierung, um Aufteilung in
verwaltbare Einheiten, eine langsam aufgebaute Form lokaler
Subsistenzwirtschaft, um Mikrokredite und, in klar abgegrenzten Bereichen,
sogar um Zusammenarbeiten mit Playern wie der Weltbank.
Da klingt wie Abkopplung?
Ja. Aber wenn der Kongo seine Rohstoffe nicht nutzt, um eine eigene
Industrie aufzubauen, dann sehe ich schwarz für dieses Land. Mein alter
Freund Jean Ziegler und ich sprechen oft über Regulierungsgesetze, und Jean
findet sie toll, weil er ans Konzept des Weltbürgers glaubt. An ein
Einsehen der Europäer, an die Zärtlichkeit der Völker. Aber wenn du dich
zwei Jahre mit dem Ostkongo beschäftigst, siehst du, dass es in der Welt,
wie wir sie leben, nicht einmal den Ansatz von Zärtlichkeit zwischen Erster
und Dritter Welt gibt. Wir Europäer brauchen etwas, das die Kongolesen
haben, und deshalb müssen wir es ihnen wegnehmen. Punkt. Sie sind die
Ukraine, und wir sind Hitlerdeutschland. Da hilft nur Selbstverteidigung.
In Ihrem Manifest zur Überwindung des „Zynischen Humanismus“ empfehlen Sie
Menschen, die sich für engagiert halten, zu erkennen: Ich bin auch nur ein
Arschloch. Warum?
Das ist wie bei den Anonymen Alkoholikern: Es geht darum, eine Basis zu
finden, auf der man ehrlich miteinander umgehen kann. Indem man anerkennt,
dass wir trotz aller Pseudoregulierungsgesetze und guten Absichten in einer
ungerechten Welt die Gewinner sind, kann man über Lösungsansätze
nachdenken. Und der Gewinner ist immer das Arschloch, genau wie der Boss
immer das Arschloch ist. Das muss man einfach mal laut sagen: In der Welt,
wie sie ist, sind wir Europäer die Arschlöcher, und zwar durch Geburt. Das
ist höchst unerfreulich, aber leider ein Fakt.
Wenn Sie mir sagen, dass ich ein Arschloch bin, denke ich nicht: Vollkommen
richtig, ich bin ein Arschloch. Ich denke, Sie sind ein Arschloch.
Ich will ja nicht geliebt werden für das, was ich sage. Wir sind die
Generation vor der Revolution, vor den großen Veränderungen. Wir sind in
einem funktionierenden Ausbeutungskapitalismus aufgewachsen, und im Grund
nehmen wir an, dass es so immer weitergehen wird. Gefangen in der Alten
Welt, zu der wir gehören, haben wir keinen Sinn für das, was kommen wird.
Kommende Generationen werden einmal voller Verwunderung und Amüsement, aber
auch mit viel Verachtung und Fassungslosigkeit auf uns zurückblicken.
Dieser Text ist aus der aktuellen Ausgabe der FUTURZWEI. Seit dem 12.
September am Kiosk oder auch [3][direkt hier zu bestellen].
1 Nov 2017
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Peter Unfried
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