Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Milo Rau an der Berliner Schaubühne: Ist das jetzt Theater?
> Regisseur Milo Rau berief seine Generalversammlung der
> Nichtrepräsentierten dieser Welt in die Schaubühne ein. Ein spannendes
> Experiment.
Bild: Bühne oder Politik? Eröffnungssitzung der „General Assembly“ am 3. …
Es war ein kurzer Moment des Streits in der Schaubühne am Lehniner Platz in
Berlin, in dem wie in einem Brennglas alles zusammenkam, was die von
[1][Milo Rau] und seinem „International Institute of Political Murder“
einberufene Generalversammlung der Nichtrepräsentierten dieser Welt
ausmachte. Es war Sonntagmittag, High Noon sozusagen, und es ging um den
Ausschluss oder Nichtausschluss eines türkischen Abgeordneten, der im
Streit über die Gräuel, die die Türkei in den Jahren 1915/16, also während
des Ersten Weltkriegs, an den Armeniern begangen hatte.
Während die meisten Historiker die Verfolgung und Tötung von um die eine
Million Armeniern durch Massaker und Todesmärsche als einen der ersten
systematischen Genozide des 20. Jahrhunderts anerkennen, wehrt sich die
offizielle türkische Politik bis heute heftig gegen die Einordnung der
Verbrechen gegen die Armenier als Völkermord.
Tugrul Selmanoglu, so hieß der türkische Abgeordnete der
Generalversammlung, hatte unmissverständlich die Position der aktuellen
türkischen Regierungspartei, der AKP, vorgetragen, als deren Vertreter er
auch vorgestellt worden war. Diese Sicht bestreitet entschieden, dass es
sich bei den Vernichtungsaktionen gegen die Armenier, die niemand
bestreiten kann, weil sie sehr gut dokumentiert sind, um einen Völkermord
handelt.
Im Gegenteil: In der Darstellung Selmanoglus wurden die Aktionen der Türken
gegen die Armenier zu Verteidigungstaten gegen vorangegangene Untaten der
Armenier gegen die Türken. Selmanoglu blieb dabei nicht stehen, er verband
seine Statements mit der Frage, warum man sich hier überhaupt mit den
Völkermorden der Vergangenheit beschäftigt, anstatt die Völkermorde der
Gegenwart zu untersuchen.
Nach seiner Rede, die er merkwürdig ungestört halten konnte, gab es
deutliche Proteste. Ein kurdischer Abgeordneter empfahl dem Redner,
sichtlich und hörbar mitgenommen, sich zu schämen, und andere forderten den
Ausschluss Selmanoglus, der darauf die Bühne verließ.
## AKP-Redner auf der Bühne
Im Laufe des Streits, in dem es auch darum ging, ob es demokratisch sei,
eine unbeliebte Position auszuschließen oder eben nicht, war einer der
Abgeordneten aufgestanden und hatte in die Versammlung und ins Publikum
gerufen: „Wir machen doch hier Theater.“ Worauf ein anderer sehr ernst und
klar feststellte, dass das hier für viele Teilnehmer kein Theater sei. Und
das war einer der vielen schönen Momente dieser drei Tage in der
Schaubühne. Denn entscheiden ließ sich die Frage, ob das hier Theater war
oder nicht, tatsächlich nicht.
Eindeutig Theater war nur der Raum, die Schaubühne in Berlin. Schon das
Publikum war nicht mehr so eindeutig Theater, dazu war es viel zu jung, zu
weiblich und zu wenig territorial. Niemand im Publikum trat auf, als hätten
er oder sie ein Erbpachtrecht auf Anwesenheit, das einen mit dem
ausschließenden Musterblick ausstattet, der den Fremden oder Laien zu
identifizieren erlaubt.
Und auch der Regisseur war nicht Peter Stein, Frank Castorf oder Claus
Peymann, als er, komplett unsouverän und verunsichert, während des Streits
auf die Bühne trat und sich dafür entschuldigte, einen Genozidleugner
eingeladen zu haben. Ein Akt, der Rau dann auch gleich um die Ohren gehauen
wurde, als ihm einer der Abgeordneten versicherte, dass er Rau und die
Organisatoren bereits Wochen vor der Veranstaltung darauf hingewiesen habe,
was für einen Typen sie sich da eingeladen hätten, nämlich einen
AKP-Lobbyisten, wenn nicht sogar Propagandisten.
Transparenz war für diesen Moment ein viel zu abgelutschtes Wort, denn sehr
wahrscheinlich gibt es solche Vorwarnungen oder Anzeigen vor jedem
Kongress, sei er wissenschaftlich, künstlerisch oder politisch. Hier wurde
es zum Thema, und das ohne Regieanweisung.
Wie man überhaupt über diesen Sonntagnachmittag zwei Worte schreiben
konnte, die selten zusammen auftreten, nämlich Höflichkeit und Negation. So
hatte im Vorlauf zum Streit der aus Tansania stammende Aktivist Mnyaka
Surunu Mboro auf die mehr als 8.000 Schädel hingewiesen, die in den Depots
der Stiftung preußischer Kulturbesitz lagern und die mehrheitlich aus
Afrika widerrechtlich zu sogenannten Rasseforschungen nach Deutschland
gebracht worden waren.
## Lenin und Science-Fiction
Bei den während der deutschen Kolonialbesetzung von 1905 bis 1917 aus
Tansania entwendeten Schädeln handelte es sich häufig um
Widerstandskämpfer, die man erhängt oder sonst wie getötet hatte. Ihre
Schädel hatte man dann nach Deutschland geschickt und die Gebeine kopflos
verscharrt. Mboro forderte deshalb vollkommen zu Recht die Köpfe zurück, er
drang aber auch auf eine zu erledigende Provenienzforschung.
Die Frage, warum das noch nicht längst geschehen sei, beantwortete Mboro
dann mit dem knappen Hinweis, dass dafür in Berlin das Geld wohl fehle,
während sie es für den Bau eines Schlosses allerdings schon hätten. Das war
einer der vielen Berührungspunkte mit der Wirklichkeit beziehungsweise dem
Realen, die in diesen drei Tagen nicht nur globale, sondern auch alle
möglichen lokalen Realitäten aufscheinen ließen, ohne sie in Metaphern oder
klassischen Redewendungen zu verkleiden.
Die Direktheit der Ansprache, vorgetragen im Ton sicherer Höflichkeit,
machte den Anspruch der Generalversammlung zu einem eher zweitrangigen
Aspekt. Nach dem Vorbild der Generalversammlung des dritten Standes von
1789, die als Beginn der Französischen Revolution bekannt ist, sollten hier
60 Abgeordnete aus allen Kontinenten so etwas wie ein Weltparlament bilden,
das eine zukünftige Weltregierung durch Reden, Gegenreden, Satzungen und
Manifestationen erprobte. Dabei war es Rau wichtig, in seiner
Eröffnungsrede darauf hinzuweisen, dass hier eine Trennung von Gegenwart
und Zukunft in gewisser Weise als inexistent gelten sollte.
Zukünftige Formen des Zusammenlebens und Zusammenregierens sollten nicht in
die Ferne der Science-Fiction verlegt werden, wie es die Leninisten bis
heute tun, sondern gegenwärtig aus ihrem Larvenstadium in die Erprobung
überführt werden. Rau hat dabei bewusst auf jede Form von Schocktheater
verzichtet, für das er nicht nur durch seine Stücke über den Völkermord in
Ruanda und die Korruption im Kongo als Spezialist gelten kann.
## Ewiger Wahlkampfmodus
Die Form des Parlaments, mit begrenzten Redezeiten, einem kontrollierenden
Vorstand und den Abgeordneten in den ersten Reihen des Theaters erwies sich
als genauso gut gewählt wie die Einladung von durchaus in der
Repräsentationsmaschine der Staatsapparate erprobten Gästen wie dem
AKP-Mann oder der Vorsitzenden der Partei Die Linke, Katja Kipping.
Im Parlament der normalerweise Nichtrepräsentierten, wie dem Abgesandten
der Maulwürfe, fiel Kipping vor allem durch ihre durchtrainierte
Professionalität in Körperpräsenz und Rede auf. Wahrscheinlich ist das ihr
Seinsmodus und wahrscheinlich würde sie auch in einem privaten
Geburtstagsständchen in diesen ewigen Wahlkampfmodus verfallen.
Warum es auch so schwer ist, aus Parlamentsreden und -gesten gute Kunst zu
machen, es sei denn, man holt sie direkt in den Kunstrahmen, wie Milo Rau
es getan hat. Es war schon wunderbar, Kipping vor und nach ihrer Rede in
diesem körperlich angespannten Präsenzmodus der eifrigen Aufmerksamkeit zu
beobachten. Mit jeder Zelle das Gegenteil von Oskar Lafontaine und Winston
Churchill.
6 Nov 2017
## LINKS
[1] /Serie-Wie-weiter-Germans-11/!5458611
## AUTOREN
Cord Riechelmann
## TAGS
Schaubühne Berlin
Theater
Generalversammlung
Milo Rau
Milo Rau
100 Jahre Oktoberrevolution
Schaubühne Berlin
## ARTIKEL ZUM THEMA
Milo Raus Polit-Theater vor dem Reichstag: Revolution, re-inszeniert
Der Versuch des Schweizer Theaterregisseurs Milo Rau, ein demokratisches
Weltparlament zu inszenieren, war nicht ganz erfolgreich.
Serie: Wie weiter, Germans (11): „Wir sind Arschlöcher durch Geburt“
Milo Rau veranstaltet in Berlin das „Weltparlament“. Ein Gespräch über
globale Gerechtigkeit und Ausbeutungskapitalismus.
Theaterstück zur Oktoberrevolution: Was von Lenin übrigblieb
An der Schaubühne Berlin stellt Milo Rau in „Lenin“ große philosophische
und historische Fragen nach den Fehlern der Geschichte.
Theaterfassung „Rückkehr nach Reims“: Das Mitgefühl der Bildungsbürger
Dramatisierung des Goodwills: Thomas Ostermeier inszeniert in der
Schaubühne Berlin Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.