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# taz.de -- Theaterfassung „Rückkehr nach Reims“: Das Mitgefühl der Bildu…
> Dramatisierung des Goodwills: Thomas Ostermeier inszeniert in der
> Schaubühne Berlin Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“.
Bild: Hans-Jochen Wagner auf dem Stuhl, Renato Schuch im Türrahmen und Nina Ho…
Etwas mehr als zwei Stunden en suite steht ihr Gesicht im Mittelpunkt des
Abends. Ihre selbstvertraute, aber nicht angeberische Tonlage, ihr
irgendwie immer sicheres, nie weinerliches Timbre. Eine Schauspielerin, bei
der wir, das Publikum, kaum glauben können, dass sie eine ist, denn sie
spielt ja uns, das Kulturbürgertum. Wobei man mit ihr unentwegt zu tun
haben möchte: eine Frau, die sich ihrer Lebensumstände gewiss ist und nicht
so tut, als könne sie aus dieser ihrer Klassensituation heraus die Welt aus
den Angeln heben oder wenigstens durcherklären.
Nina Hoss ist der Glücksfall schlechthin für Thomas Ostermeier,
künstlerischer Leiter der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz: Mit ihr,
ja, für sie hat er Didier Eribons Szeneseller „Rückkehr nach Reims“
dramatisiert, hat aus der Geschichte eines schwulen Proletenkindes, das
mithilfe seiner Homosexualität den Aufstieg in beste, wenn auch nicht
höchste Pariser Bildungskreise schafft, eine Parabel entwickelt, die bei
Eribon beginnt – und strikt biografieauthentisch in die Geschichte des
Vaters von Nina Hoss mündet, Willi Hoss, Kommunist, Dissident,
Gewerkschafter, grünes Gründungsmitglied und amazonischer Regenwald- und
Indigenenschützer.
Das ist als Gesamtpaket eines Abends schon eine Menge Stoff: Eribon und
Reims und Mutter und Vater, grüblerisch-melancholische Blicke ob dieser
kulturellen Verlustgeschichte, derzufolge die Proleten Frankreich aus
lauter Verdruss über die kulturelle und politische Abwendung der
französischen Linken vom Klassenkampf zum Front National übergelaufen sind
– einerseits.
Und andererseits eine junge Schauspielerin, gespielt von einer
Schauspielerin, eben Nina Hoss, die für einen Kulturschnösel (grandios
widerlich: Hans-Jochen Wagner) am Sprecherpult dessen Interpretation von
Eribons Geschichte einzusprechen hat.
## In Frankreich nicht so der Renner
Allerdings beginnen nicht erst hier die Probleme mit der Bühnenaufbereitung
der Eribon-Geschichte. Sie handelt ja davon: Ein Junge aus einer bitteren
Arbeiterklassenfamilie kämpft sich, mit Hilfe der ihn fördernden Mutter,
die gesellschaftliche Anerkennungsleiter hoch.
Er wird Essayist, eben einer wie Didier Eribon, erster Biograf Michel
Foucaults etwa. Fast die ganze Kulturboheme der Bundesrepublik zeigte sich
voriges Jahr nach Lektüre tüchtig erschüttert über das Buch, das in
Frankreich nicht so der Renner war. Und erkennt plötzlich, dass in
Frankreich der Front National die Gefühle der Prekären verkörpert, in
Deutschland die AfD.
In der Geschichte des Erfolgs Eribons ging freilich unter, dass der schwule
junge Mann, der der Erfolgsautor war, ja auch seine Klasse verraten hat –
und er wollte den Preis der kulturellen Akkulturation an die Sitten und
Gebräuche der bildungsbürgerlichen Mittelschichten auch zahlen, sonst hätte
er seinen Platz am Diskurstisch Frankreichs (und jetzt Deutschlands) auch
nicht erobern können.
Vielleicht haben also Kräfte wie Tony Blair, Gerhard Schröder, François
Hollande oder François Mitterrand ja nur die Wohlstandsmehrung der
proletarischen Schichten erkämpfen können, weil diese niedersten Stände
unbedingt aus ihrer Lage herauswollten. Was Eribon schon in seinem Buch
beschwört und was Ostermeier nun blank ohne Bruch nachstellt, ist die
wohlige Anklage gegen allen sogenannten Neoliberalismus, gegen die
Wohnverhältnisse der Proleten, ihre rohen Umgangsformen, ihre Stile und
Lebensweisen.
## Ist das schon Abgehängtheit?
Wir als Zuschauer bekommen das gut zu sehen, Ostermeier hat für seine
Buchbearbeitung Didier Eribon gewinnen können, einen Film mit echter
Rückkehr nach Reims zu inszenieren. Diesen Film hat Nina Hoss in der Rolle
der Katrin sprechend zu betexten:
Bilder von zwar nicht nach dem Gusto von Berliner Mitte-Kreisen
geschmackvollen Reihenhäusern, aber eben auch keine Elendsbaracken; Bilder
von typischen französischen (übertragbar als: auch deutschen)
Vorstadtatmosphären, die tatsächlich nicht den Eindruck von quirliger
Impulsivität verströmen. Aber ist das die pure Not? Ist das schon
Abgehängtheit? Kann das schon als visuelles Fanal zur Wiederaufstehung der
kommunistischen Linken entzifferbar sein?
Nein, man darf vermuten: Ostermeier und Eribon und all die anderen, die
sich am „Rückkehr nach Reims“-Stoff delektieren, vermögen nicht zu
formulieren, was die Not jener ist, die nicht zu den kulturellen juste
milieus gehören: Diese Reihenhäuser am Rande von Reims sehen nicht
kosmopolitisch wie das Pariser Marais oder der Berliner Prenzlauer Berg
aus, doch sie haben nicht mehr das, was dem Manchester-Kapitalismus
eignete: Qual und Verzehrung in Gossen, als seien sie dem Musical „Les
Misérables“ entsprungen.
## mittelschichtig-mitgefühlige Projektionen
Mit anderen Worten: Schon Eribons Moritat von der „Rückkehr nach Reims“ wie
auch die Bearbeitung Ostermeiers sind mittelschichtig-mitgefühlige
Projektionen auf einen Zustand, den am ehesten zu lindern nicht in den
Händen der kulturdeutenden Kreise liegen kann.
Davon abgesehen: Auch der Zwischenrap des Tonstudioarbeiters an der Seite
Hans-Jochen Wagners (Renato Schuch) mag als politikanregende
Geschichte-in-der-Geschichte verstanden werden, albern war es doch: Wozu
muss das Publikum noch über die sogenannten abgehängten Migrant*innen
aufgeklärt werden, da diese ihren Aufstieg auch gut ohne die unterschichts-
und rassismusverständigen Kreise der Kulturszene organisieren werden.
„Rückkehr nach Reims“ ist eine Dramatisierung des Goodwills der guten
Kreise, die natürlich nicht AfD gewählt haben, höchstens die
Willkommenskulturkanzlerin Angela Merkel. Ein Sammelsurium, das keine
Irritationen stiftet. Nina Hoss’ Stimme ist gleichwohl süchtigmachend. Es
gab mittleren Beifall für eine deutsche Erstaufführung.
25 Sep 2017
## AUTOREN
Jan Feddersen
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