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# taz.de -- Milo Rau an der Schaubühne Berlin: Flucht in Beethoven
> An der Schaubühne bringt der Regisseur Milo Rau „Mitleid. Die Geschichte
> des Maschinengewehrs“ heraus. Es hinterfragt die Arbeit von NGOs.
Bild: Ursina Lardi spielt eine Schauspielerin, die aus Enthusiasmus und weil es…
Sie hießen „Teachers in conflict“, „Heal Africa“ oder „Konvoi der
Hoffnung“. Sie wollten helfen, nach dem Völkermord in Ruanda, in einem
Flüchtlingslager in Goma am Kiwusee. Zwei Millionen Hutu waren auf der
Flucht vor der Tutsi-Befreiungsarmee in den Kongo gekommen. Vermutlich an
die 1.000 NGOs waren vor Ort.
Daran erinnert sich die Schauspielerin auf der Bühne, die damals, mit 19,
Teil dieser Weißen gewesen war. Was haben sie sich zugetraut? Was wurde von
ihnen erwartet? Mit Workshops, mit Friedenserziehung, mit Beten, Tanzen und
Singen das nächste Massaker zwischen Hutu und Tutsi verhindern?
Ursina Lardi spielt an der Berliner Schaubühne diese Schauspielerin, die
einmal aus Enthusiasmus und weil es sich gut macht im Lebenslauf, als
Entwicklungshelferin im Kongo war. Sie spricht im schlichten blauen Kleid
ins Mikro, sie spricht in die Kamera, sie redet das Publikum direkt an,
vorsichtig durch den Schutt, den Müll auf dem Bühnenboden staksend. Sie
vergleicht ihre Arbeit im Theater mit der als Helferin.
Wenn sie Ödipus spiele, der getrieben wird von einer Scham und einer
Schuld, die er lange nicht erkennen kann – oder nicht erkennen will –,
gleicht das dann nicht dem Einsatz derer, die getrieben von der Schuld des
Kolonialismus jetzt versuchen, die Folgeschäden zu bekämpfen? Folgen nicht
beide Rollen einem ähnlichenMuster?
„Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“ ist das neueste Stück von
Milo Rau überschrieben, in dem der Schweizer Regisseur mit Hilfe von zwei
Schauspielerinnen in zwei Monologen auch eine kritische Bestandsaufnahme
der eigenen Arbeit als politischer Regisseur unternimmt.
Der Text beruht auf vielen Interviews mit NGO-Mitarbeitern, mit Geistlichen
und Kriegsopfern, geführt entlang der gegenwärtigen Flüchtlingsrouten, aber
auch im Kongo. Immer steht dabei die Frage im Hintergrund, wie ertragen wir
das Elend der anderen, warum schauen wir es an? Der Text beruht aber auch
auf einer Analyse des klassischen Schauspiels, der Notwendigkeit von
Empathie und ihrer professionellen Vermittlung im Theater.
Beide Perspektiven überschneiden sich, fragen aus unterschiedlichen
Richtungen nach der Funktion und Funktionalisierung von Mitleid. Das macht
die Inszenierung aufregend, dieses stete Hinterfragen der eigenen Gründe.
Milo Rau, der in seinen großangelegten Recherche- und
Inszenierungsprojekten wie den „Moskauer Prozessen“ und dem
„Kongo-Tribunal“ versuchte, die Hebelwirkung der Instrumente des Theaters
bis in die Realität selbst hinein zu verlängern, nimmt sich selbst, die
Figur des Regisseurs, nicht aus der Kritik europäischer Überheblichkeit und
Überschätzung aus.
## Afrikanische Schicksale
Aber das ist wiederum nur ein Teil der komplexen Geschichte. Immer wieder
scheint eine Verbundenheit mit und ein Berührtwerden von den afrikanischen
Schicksalen auf, die neben der Erkenntnis des eigenen Zynismus wie eine
zweite Spur mitläuft. Das sticht besonders am Anfang und am Ende hervor,
wenn die belgische Schauspielerin Consolate Sipérius auftritt, die in
Burundi geboren wurde und die erzählt, dass sie vier Jahre alt war, als
ihre Familie ermordet wurde.
Sie ist Überlebende und Zeugin des Völkermords; und sie ist eine
Künstlerin, die die Antike liebt, die großen tragischen Heldinnen.
Rachefantasien à la Tarantino, oh ja, die liebt sie auch, damit hat sie
sich schon aus einer depressiven Phase geholfen. Aber das Angebot des
Regisseurs, sagt sie, auf der Theaterbühne auf ihr weißes Publikum mit dem
Maschinengewehr zu zielen als Figur der Rache für erfahrenen Rassismus,
lehnt sie dann doch dankend ab.
Die Stadt Kigali, der Kiwusee, die Grenzstadt Goma, die Flüchtlingslager im
Kongo oder in Ruanda, sie sind in der Inszenierung nur in der Sprache
präsent und in wenigen, ausgesuchten Geräuschen. „Mitleid“ ist auch ein
Stück gegen die Überwältigungsästhetik der Bilder in den alltäglichen
Medien, gegen das dramatische Erzeugen von Gefühlen mit den
Nachrichtenbildern, gegen die Permanenz der Steigerung ins Schlimmere.
Die weiße Schauspielerin erzählt in der Rolle der ehemaligen
Entwicklungshelferin, wie sie sich in die höchst dramatische Musik von
Beethoven geflüchtet und darin verbarrikadiert habe, um Abstand zu halten
zu dem Sterben und Morden der Massaker, die sie miterlebte. Diese Flucht in
eine gewaltsame Ästhetik, mit der man sonst nicht eben geizt an der
Schaubühne und an anderen Theatern, um das Schreckliche des realen
Geschehens zu betonen, Milo Rau lässt sie aus. Und das macht seinen Text
stark, ebenso wie die sehr präzise Arbeit der Schauspielerinnen.
Milo Rau ist nicht nur ein interessanter Theaterregisseur, sondern auch ein
guter Propagandist der eigenen Projekte. Seine Interviews gleichen
Manifesten. Ohne Anteile von Größenwahn, ohne die Gabe, die Realität in der
Imagination überschreiten zu können und andere dahin mitzuziehen, hätte er
wohl für viele seiner Arbeiten nie die notwendige Unterstützung, die vielen
Teilnehmer gefunden. Er ist ja selbst manchmal wie ein Missionar unterwegs.
Und das hat wohl auch seinen Blick geschärft auf die Projektionen und
Fiktionen, die sich die Helfer mit ihrer Macht aufbauen.
19 Jan 2016
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
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