| # taz.de -- Reenactment des Kongokrieges: In vermintem Gebiet | |
| > Mit einem Theaterstück thematisiert Milo Rau die Hintergründe des | |
| > Krieges. Und das mitten im kongolesischen Wahlkampf. | |
| Bild: Befragung eines Zeugen mit Schutzmaske im Theaterstück von Milo Rau. | |
| BUKAVU taz | Erst fällt die Klappe für die Kameras, dann mahnt eine Stimme | |
| aus den Lautsprechern aufzustehen: „Das Gericht tritt ein.“ Die knapp 400 | |
| Zuschauer im vollen Theatersaal erheben sich. Ein Richter und ein | |
| Staatsanwalt in schwarzen Roben betreten die Bühne. Die fünfköpfige Jury | |
| nimmt an einem Tisch Platz. Dann können sich die Zuschauer wieder setzen. | |
| Ganz ungewollt werden sie damit zu aktiven Teilnehmern des Spektakels. | |
| Was sich der Schweizer Regisseur und Filmemacher Milo Rau da ausgedacht | |
| hat, klingt schier nach Größenwahn, das gibt er offen zu. „Wahrheit und | |
| Gerechtigkeit“ steht auf einem Banner über dem Bühnenbild geschrieben. Zwei | |
| Schlagworte, die nicht weiter von jener Realität weg sein können, die | |
| außerhalb dieses Theatersaals herrscht. Denn jenseits der alten Mauern des | |
| Jesuitenkollegs im Herzen von Ostkongos Provinzstadt Bukavu tobt seit 20 | |
| Jahren einer der blutigsten Konflikte der jüngeren Geschichte. | |
| Als „Welthauptstadt der Vergewaltigung“ wird Bukavu oft in den Medien | |
| bezeichnet, denn dort steht das berühmte Panzi-Hospital, das sich auf die | |
| Behandlung von misshandelten Frauen spezialisiert hat. In keinem Land der | |
| Welt wird so systematisch sexuelle Gewalt angewendet wie im Kongo. | |
| Solange Lwashiga, Chefin der lokalen Frauenorganisation Caucus, hat sich | |
| mit einem bunten Kleid schick gemacht. Sie sitzt als eine der wenigen | |
| Frauen im Publikum. „Ich bin gespannt, was geschehen wird, denn es ist das | |
| erste Mal, dass wir einen Raum erhalten, vor der Welt zu sprechen“, sagt | |
| sie. Dass Raus Theaterprojekt gar kein richtiges Verfahren ist, findet sie | |
| gar nicht so schlimm, im Gegenteil. Als Lehrerin für afrikanische Literatur | |
| weiß sie: „Unsere Kultur bedient sich ohnehin mehr der Fiktion und der | |
| Mythen statt der Realität, ich glaube wir Kongolesen können uns darauf gut | |
| einlassen“. | |
| ## Bühne im Wahlkampf | |
| „Das Tribunal ist eröffnet“, verkündet der oberste Richter und schlägt m… | |
| dem Hammer auf den Tisch. Regisseur Rau tritt ans Rednerpult: „Es ist ein | |
| fiktives, ein symbolisches Verfahren“, erklärt er. Doch so ganz stimmt das | |
| dann auch nicht. Die Fälle, die in den beiden Anhörungstagen auf dieser | |
| Bühne verhandelt werden, sind real. Ebenso die Opfer der Massaker und | |
| Vertreibungen sowie die Tatorte und die Augenzeugen, die aussagen. In | |
| Ermangelung eines funktionierenden Justizsystems im Kongo ist Raus „Kongo | |
| Tribunal“ mehr als nur Theater: Zum ersten Mal in der Geschichte wird hier | |
| jetzt die Frage nach der Verantwortung für die Verbrechen gestellt. | |
| In der Anklageschrift steht die exzessive Gewalt in direktem Zusammenhang | |
| mit dem Rohstoffreichtum: „Wer profitiert – die internationalen Konzerne | |
| oder eine kleine kongolesische Elite, die sich bereichert?“, fragt der | |
| Staatsanwalt bei Verlesung seiner Quasianklageschrift. Der Kongolese | |
| Sylvestre Bisimwa ist als Anwalt einer Frauenrechtsorganisation 2013 vor | |
| das Militärgericht gezogen, um die Armeeführung der Vergewaltigung | |
| anzuklagen. Auch am Internationalen Strafgerichtshof hat er schon Kongos | |
| Frauen vertreten. In Raus Tribunal-Theater spielt er sozusagen sich selbst. | |
| Diese Frage in den Raum zu stellen, ist im Kongo politischer Sprengstoff. | |
| Gerade jetzt, im Vorwahlkampf zu den Lokalwahlen, die noch in diesem Jahr | |
| stattfinden sollen. Nächstes Jahr stehen Präsidentschaftswahlen an. Der | |
| amtierende Staatschef Joseph Kabila darf eigentlich nicht mehr antreten. | |
| Sollte er die Verfassung nicht ändern, gilt Oppositionsführer Vital Kamerhe | |
| von der Partei UNC (Nationale Kongolesische Union) als vielversprechendster | |
| Kandidat. Er stammt aus Ostkongos Provinz Südkivu, hat in Bukavu seine | |
| treuesten Anhänger. Raus Tribunal wurde somit zu einer Bühne für Kamerhes | |
| Wahlkampf, ein riskantes Unterfangen. | |
| ## Nichts als die Wahrheit | |
| Vermummt in einer braunen Ganzkörperschutzhülle wie ein Imker tritt ein | |
| Mann in den Zeugenstand. Nach Aufforderung durch den Richter hebt er die | |
| rechte Hand: „Ich schwöre, die Wahrheit zu sagen und nichts als die | |
| Wahrheit.“ Seine Stimme wird durch ein spezielles Mikrofon verstellt, | |
| klingt blechern durch die Lautsprecher. Doch die Schutzmaßnahmen sind | |
| notwendig. | |
| Gegen die Obrigkeiten auszusagen, ist lebensgefährlich im Kongo. Er | |
| berichtet von einem Massaker im Flüchtlingslager Mutarule, unweit von | |
| Bukavu an der Grenze zu Burundi, bei welchem vor genau einem Jahr 35 | |
| Menschen getötet und 27 schwer verletzt wurden. Er legt der Jury Fotos der | |
| Leichen als Beweise vor. Bewaffnete Männer seien in das Lager eingedrungen. | |
| Der Zeuge habe Kongos Armee und die UN-Blauhelme angerufen, die in der Nähe | |
| stationiert waren, berichtet er. Doch niemand schritt ein. „Hätten Soldaten | |
| und Blauhelme das Massaker verhindern können?“, fragt Bisimwa den Zeugen. | |
| „Ja“, sagt dieser. „Wer trägt also die Verantwortung?“, fragt der | |
| Staatsanwalt nach. | |
| Die Antwort kommt ohne zu zögern: „Die Regierung.“ Kamerhes Anhänger im | |
| Publikum klatschen. Die Regierungsvertreter, die aus der 2.000 Kilometer | |
| entfernten Hauptstadt Kinshasa eingeflogen waren und die erste Reihe in | |
| Beschlag genommen haben, zucken zusammen. Einer mit einem Stöpsel im Ohr | |
| und einem Funkgerät am Gürtel greift direkt zum Telefon. Dass in Raus | |
| „Kongo Tribunal“ nicht in erster Linie die internationalen | |
| Minengesellschaften, sondern die Regierung auf der Anklagebank sitzt, war | |
| abzusehen. Die Stimmung im Saal ist zum Zerreißen gespannt. Die | |
| Regierungsvertreter tuscheln. | |
| Richter Jean-Louis Gilissen haut mit dem Hammer auf den Tisch. „Ruhe, ich | |
| habe dem Publikum keine Redeerlaubnis erteilt“, sagt er wie ein | |
| Oberstudienrat. Der belgische Anwalt war schon am Internationalen | |
| Strafgerichtshof in Den Haag und beim Sondertribunal für den Genozid in | |
| Ruanda 1994 tätig. Dieselben Regeln wie vor den Weltgerichten wendet er | |
| jetzt auch auf der Bühne des „Kongo Tribunals“ an. Jeder erhält im | |
| Zeugenstand genau fünf Minuten Redezeit: Die Bäuerin, die von einer | |
| Minenfirma von ihrem Acker vertrieben wurde genauso wie der | |
| Provinzgouverneur, dem Gilissen mit eisernen Hammerschlägen den Mund | |
| verbieten muss. Zum ersten Mal sind in diesem fiktiven Gerichtssaal alle | |
| Menschen gleich. | |
| ## Gesichter hinter Schutzmasken | |
| Frauenrechtlerin Lwashiga lächelt in der Verhandlungspause glücklich: „Ich | |
| finde die pädagogische Rolle des Richters fantastisch – er schafft es | |
| tatsächlich, etwas Demokratie herzustellen“, sagt sie. Zum ersten Mal | |
| bekämen hier die einfachen Menschen die Gelegenheit, den Machthabern die | |
| Wahrheit ins Gesicht zu sagen. | |
| Wie bei einer Autopsie werden in den Anhörungen zu den Verhältnissen in den | |
| Minengebieten, die verschiedenen Ebenen der Konflikte auseinandergenommen. | |
| Der Exkommandeur der lokalen Miliz unter Anführer Cheka Ntabo im | |
| rohstoffreichen Dschungelgebiet Walikale berichtet mit verstellter Stimme, | |
| wie sie ihre Erträge der Minengesellschaft MPC verkauften. Auch sein | |
| Gesicht steckt in einer Schutzmaske. Ein Schürfer erzählt, wie er und seine | |
| Kameraden sich gegen den industriellen Abbau durch globale Konzerne wehren | |
| wollen, weil sie fürchten, ihr Einkommen zu verlieren. Letztlich hatte er | |
| sich Chekas Miliz angeschlossen, um gegen die Minenfirma zu kämpfen: „Wir | |
| sind eine Selbstverteidigungsgruppe, um uns gegen den industriellen Abbau | |
| zu wehren“, sagt er. | |
| Eine runzlige Bäuerin in ausgelatschten Flip-Flops erzählt mit stockenden | |
| Worten, wie sie von dem kanadischen Konzern Banro von ihrem Maisacker in | |
| Südkivus Minengebiet Twangiza vertrieben worden war. Staatsanwalt Bisimwa | |
| hält ihr Fotos vor: Darauf sind neue Häuser, eine Grundschule, Krankenhaus | |
| zu sehen. „Hat Banro diese Gebäude als Entschädigung errichtet?“, fragt er | |
| die Bäuerin. Sie nickt und gibt zu, dass sie und ihre Kinder zwei Häuser, | |
| einen anderen Acker und eine Kuh von der Firma erhalten hatten. | |
| Doch dies sei nicht genug. „Und was fehlt Ihnen jetzt im Leben?“, fragt das | |
| Jurymitglied Prince Kihangi, ein kongolesischer Menschenrechtsanwalt, der | |
| gegen internationale Firmen zu Felde zieht. „Wenn sie mir noch eine Kuh und | |
| ein Haus geben würden, dann wäre ich zufrieden“, sagt die Bäuerin. | |
| Regisseur Rau nickt zufrieden: „Der Kapitalismus setzt sich bis in die | |
| untersten Ebenen fort.“ Im „Kongo Tribunal“ wird die Komplexität der | |
| Konflikte auf simple Weise greifbar. | |
| ## „Schade, nur Fiktion“ | |
| Denn auch die internationalen Konzerne fühlen sich im Kongochaos als Opfer. | |
| Laut Verfassung gehören alle Bodenschätze dem Staat, auch die Mineralien | |
| unter dem Maisfeld der Bäuerin. Ein ehemaliger Firmenangestellter beschwert | |
| sich im Zeugenstand: Banro habe legal eine Konzession erworben, zahle viel | |
| Steuern an den Staat, doch dieser baue keine Schulen oder Krankenhäuser, | |
| gar nicht einmal eine Zufahrtsstraße zu den Minen. „Das ist doch die | |
| Pflicht des Staats gegenüber der Bevölkerung“, sagt er. Von allen Seiten | |
| gerät die Regierung ins Kreuzfeuer. | |
| Die Oppositionsmitglieder im Publikum klatschen, bis der Richter sie | |
| ermahnt. Die Delegierten von Regierungssprecher Lambert Mende, der im | |
| letzten Moment sich dagegen entschieden hat, selbst im Tribunal | |
| aufzutreten, schreiben eifrig mit, um ein Statement vorzubereiten. In den | |
| Aussagen der Provinzregierung im Zeugenstand wird nämlich offensichtlich: | |
| Die Machthaber im Kongo sind sich uneinig. Der Innenminister von Südkivu | |
| beschuldigt die Armee, die Bevölkerung zu malträtieren. | |
| Provinzgouverneur Marcellin Cishambo wirft seinen Vorgesetzten in der | |
| Hauptstadt vor, sich ein Minengesetz von Großkapitalisten in der westlichen | |
| Welt aufzwingen zu lassen. Als der Vertreter des Regierungssprechers | |
| letztlich die Erklärung aus Kinshasa verliest, wird er vom Publikum | |
| ausgebuht. Spätestens jetzt hat die Opposition den Wahlkampf im | |
| Gerichtssaal gewonnen. | |
| Vor den Toren des Jesuitenkollegs sammelt sich ein Häuflein Demonstranten. | |
| Sie haben Plakate gemalt: „Sieben Millionen Tote sind genug!“, steht darauf | |
| geschrieben. Die Opferzahlen im Kongo sind reine Hochrechnungen, jedes Jahr | |
| steigen sie um eine Million. Protestführer Jean Kijana schreit in ein | |
| Megafon: „Wir verlangen einen realen Internationalen Gerichtshof für den | |
| Kongo!“ Frauenrechtlerin Lwagisha steht neben ihm und nickt: „Ich hab’s ja | |
| gewusst, sobald das Tribunal vorbei ist, werden die Leute sagen: Ach | |
| schade, dass es nur Fiktion war!“ | |
| 2 Jun 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Simone Schlindwein | |
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