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# taz.de -- Ausnahmezustand in Brüssel: Ich habe also doch Angst
> Seit ein paar Wochen wohnt unsere Autorin in Brüssel, nicht weit entfernt
> von Molenbeek. Dort war sie auf Partys. Jetzt ist vieles anders.
Bild: Molenbeek gilt als Chiffre für Dschihadisten. Wie aber ist gerade die St…
Brüssel taz | Es ist früh am Morgen. An den Häuserwänden gegenüber sind
Laternen angebracht, sie leuchten hell in die Dämmerung hinein. Ich trinke
Kaffee und blicke auf die Boogstraat vor meinem Fenster. Mit einem Mal
ändert sich etwas. Als hätte ich einen Schlag abbekommen, zucke ich
zusammen.
Es braucht eine Weile, bis ich begreife, was der Auslöser für mein
Erschrecken ist. Die Straßenlaternen sind erloschen, die Lichtverhältnisse
haben sich geändert. Ich reagiere unwillkürlich und heftig auf kaum
merkliche Reize aus meiner Umgebung. Ich habe also doch Angst.
Ich weiß nicht mehr genau, welcher Morgen das war. Ich glaube, es war der
Montag, also der dritte Tag mit Warnstufe vier. Warnstufe vier, das heißt:
keine U-Bahn, keine Schulen, keine Universitäten, keine Theater, keine
Kinos, keine Museen, keine Fußballspiele und Arbeitgeber, die allen, die es
nicht anders organisieren können, Telearbeit gestatten.
Den Flughafen soll man meiden, die Bahnhöfe und alle Menschenmengen, die
sich unter diesen Umständen noch versammeln könnten. Weil bei mir zu Hause
der Internetanschluss noch nicht installiert ist – ich lebe erst seit
wenigen Wochen in Brüssel –, kommt Telearbeit nicht infrage, ich nehme das
Fahrrad und radele ins Büro, von der Rue du Frontispice am nördlichen Rand
der Innenstadt, nicht weit von Molenbeek, Richtung Oberstadt und
Europaviertel, den Berg rauf, schnaufend. Kaum Autos, an den Straßenecken
Polizisten und Soldaten, die einen blau gekleidet, die anderen tragen
Kamouflagemuster, sie schultern Schnellfeuerwaffen, der Lauf neigt sich
Richtung Boden.
Die Fotos hat jeder gesehen, die Grande Place im Hintergrund, das
Weltkulturerbe, davor Männer und Frauen in ihren schusssicheren Monturen.
Der goldbeschichtete, verspielte Prunk der Grande Place ist, nebenbei
bemerkt, ein Produkt von Zerstörung und konzertiertem Wiederaufbau. Im
August 1695 machten französische Soldaten die Stadt dem Erdboden gleich,
nur das Rathaus ließen sie stehen. Die Bürger der Stadt errichteten auf dem
Schutt das Ensemble der mit Allegorien verzierten Zunfthäuser noch im
selben Jahr.
## Der Tag
Charles Michel, der belgische Premierminister, spricht von einer ernsten
und unmittelbaren Bedrohung. Einer der Attentäter von Paris, Saleh
Abdeslam, soll sich in Belgien auf der Flucht befinden. Es gibt
Spekulationen, er habe den Sprengstoffgürtel seit dem 13. November nicht
abgelegt, er könne sich und uns jederzeit in die Luft sprengen.
Wenn ich Nachrichten höre, sehe oder lese, werde ich den Eindruck nicht
los, live der Verfestigung von Vorurteilen zuzuschauen. Terrorhochburg
Molenbeek, [1][Dschihadistennest], Brüssel ein Chaos mit seinen 19
„bourgmestres“ und seiner Zwei-, Drei-, Vielsprachigkeit, das ganze Land
mit den vielen Regionalregierungen ein „failed state“.
Was ist Somalia, wenn Belgien ein „failed state“ ist, frage ich mich – und
zugleich: Wie kann man ein Auge haben für die tatsächlich existierende,
gefährliche Radikalisierung der Jugendlichen in Molenbeek, Schaerbeek und
Vilvoorde, ohne an den Haaren herbeigezogene Kausalitäten zu behaupten?
## Brüssel, eine einzigartige Mischung
Der Zufall – oder besser: die kluge Planung meiner neuen Chefin – will es,
dass ich gleich an meinem ersten Arbeitstag Mitte Oktober Bekanntschaft mit
dem Soziologen Eric Corijn von der Vrije Universiteit Brussel mache. In der
Landesvertretung von Baden-Württemberg erklärt er süddeutschen Unternehmern
Brüssel. Er spricht von einer einzigartigen Mischung: hier die
internationalen Eliten, Männer und Frauen, die für die EU, die Nato, für
Botschaften, Kulturinstitute oder Lobbygruppen arbeiten, dort die
Einwanderer aus der Türkei, aus Nord- und dem subsaharischen Afrika, die
meisten von ihnen längst eingebürgert, dazu die französisch- und die
niederländischsprachigen Belgier.
Er hebt die verführerische Vernetztheit der Stadt hervor, eineinviertel
Stunden mit dem Thalys nach Paris, zwei Stunden nach Amsterdam,
zweieinviertel Stunden mit dem Eurostar in die Innenstadt von London, was
für ein Traum von Geschwindigkeit. Von Brüssel aus in andere Metropolen
aufzubrechen, kommt dem Wunsch nahe, sich mit der Geschwindigkeit einer
E-Mail zu bewegen. Die Kehrseite des Versprechens, führt Corijn aus, liege
darin, dass die Expats ihre Steuern meistens in ihren Herkunftsländern
entrichteten. Vom Wohlstand der Entsandten bleibt der Stadt Brüssel nicht
viel.
## Das Zentrum ist noch nicht gentrifiziert
Und anders als in Paris, New York oder Madrid, anders als in Städten, deren
Zentren gentrifiziert und als Wohngegenden begehrt sind, ist es in Brüssel
fast noch wie in den siebziger Jahren. Wer Geld hat, zieht ins Umland,
verstopft morgens und abends mit seinem Auto die Straßen und zahlt Steuern
im flämischen oder wallonischen Speckgürtel.
In der Innenstadt und in den an sie angrenzenden Vierteln wie Anderlecht,
Molenbeek oder Saint Josse ten Noode wohnen die, die sich nichts anderes
leisten können, neben ihnen die Künstler und Bohemiens, die die
Gentrifizierung ankündigen. Mit anderen Worten: Die nördlichen und
westlichen Quartiere von Brüssel sind im Augenblick arm, die
Arbeitslosigkeit ist hoch, und liest man ein wenig in „The Brussels Reader.
A Small World City to Become the Capital of Europe“, einem Sammelband, den
mir Corijn zum Abschied in die Hand drückt, dann weiß man auch, dass die
jungen Männer, die Saleh oder Mohamed oder Abdel heißen, nicht durchweg
gute Erfahrungen machen, so sie sich auf eine Stelle bewerben.
## Nicht einschüchtern lassen
Was tun in der lahmgelegten Stadt? Ich möchte mich von der Angst nicht
einschüchtern lassen, dann hätten die Dschihadisten gewonnen, also gehe ich
raus auf die Straße, auch wenn ich es nicht muss, raus in den Schneeregen,
zur Place Sainte Catherine, wo ich ohne Weiteres einen Platz in einem
Imbiss bekomme, der Fischgerichte und Austern anbietet und sonst immer
überfüllt ist. Ob es wegen des Wetters so leer sei oder wegen der
Warnstufe, frage ich die Frau hinter der Theke und schäme mich, kaum habe
ich den Satz ausgesprochen. Wie kann ich so blöd sein, klar, der Warnstufe
wegen.
Am Sonntag jogge ich am Kanal auf und ab, zunächst durch den
Maximilianpark, wo bis vor einigen Wochen noch Asylsuchende campierten,
vorbei an Warenhäusern und einem Getränkegroßmarkt bis zum Upsite-Tower,
einem 42-geschossigen Gebäude mit komfortablen Wohnungen, Concierge,
Privatkino, weiter nördlich führt der Weg nicht weiter, Hafengelände, eine
Altmetallhalde in der Ferne, ich drehe um und laufe Richtung Süden,
überquere den Ring, auf der einen Seite des Ufers ist nun Molenbeek, auf
der anderen die Innenstadt. Neonbeleuchtete Geschäfte, in denen man
Kochbananen und Süßkartoffeln oder indische Ayuverda-Seife kaufen kann,
koexistieren hier mit einem Laden der Luxusmarke Maison Margiela oder einer
Werkstatt für Bilderrahmen, die, wie mir der freundliche Rahmenbauer
erklärt, Museumsqualität besitzen.
## Die Nacht
Einen meiner bisher schönsten Abende in Brüssel erlebe ich in Molenbeek,
bei einer Party in einem Gebäude, das ich mir nicht erklären kann, eine
Mischung aus Garage, Werkstatt und Wohnhaus, in einer Halle stapeln sich
Strohballen, als gäbe es Kutschpferde oder Kühe. Ich komme mit einem jungen
Syrer ins Gespräch, der in Gießen Angewandte Theaterwissenschaft studiert
hat, es gibt eine queere Performance, der ich nicht folge, weil ich viele
von diesen großartigen belgischen Bieren getrunken habe, es ist einer
dieser gleitenden, intensiven Abende, einer von denen, für deren Dauer
Fremde Freunde sind.
Die Party war noch im Oktober, vor den Pariser Attentaten, vor der
Warnstufe 4. Ob die Normalität und das Feiern zurückkehren, jetzt, da die
Warnstufe abgesenkt wurde? Schwer zu sagen. Auf den Straßen, in der U-Bahn,
in den Läden sieht es fast wieder aus wie immer; als am Donnerstag in der
Früh zwei Sicherheitskräfte am U-Bahnhof Yser einen herrenlosen schwarzen
Rucksack finden, machen sie Witze mit den Fahrgästen, die sie verständigen.
Kürzlich interviewte Zeit Online den Theatermacher Milo Rau, der lange in
Brüssel für ein Stück über einen IS-Kämpfer recherchiert hat. „Ich habe …
Rede von Bildung und Chancengleichheit eigentlich immer für ein bisschen
hohl gehalten“, sagt er. „Aber nach meiner Zeit im Banlieue von Brüssel
muss ich sagen: Genauso ist es.“
In der Brussels Boxing Academy in der Rue du Boulet, nicht weit von
Molenbeek, üben junge Belgierinnen, viele mit nordafrikanischem
Hintergrund, Kinn- und Leberhaken. Donnerstags ist Frauentraining, Mohamed
Idrissi, der Trainer, scheucht uns unnachgiebig durch die große Halle, gibt
Kommandos auf Französisch, Niederländisch und Arabisch, die Musik wummert
laut, eine Coverversion des Agitsongs „Comandante Che Guevara“. An der Tür
hängt ein DIN-A4-Blatt, eine Schwarzweißkopie, „Molenbeek“ steht darauf,
eine Fantasie-Skyline mit einer Moschee, einem Kirchturm und einer
Straßenlaterne, darunter ein großes Friedenszeichen.
29 Nov 2015
## LINKS
[1] /Islamismus-in-Bruessel-Molenbeek/!5248555
## AUTOREN
Cristina Nord
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