# taz.de -- Debatte Rentenvorbild Österreich: Genug Geld im Alter | |
> Österreich macht vor, wie die Rente armutssicher gemacht werden kann. | |
> Aber hierzulande will man davon erstaunlich wenig wissen. | |
Bild: 1a-Symbolbild: Rentnerin und Rentner beim Erbsenzählen | |
Jamaika steht für Stillstand in der Rentenpolitik. Vermutlich ist das ein | |
grober Fehler, denn der Erfolg der AfD beruht ja zu einem großen Teil auf | |
Abstiegsängsten, die auch darin gründen, dass große Teile der Bevölkerung | |
ahnen: Im Alter droht Armut. | |
Einen fairen Gegenwert für jahrzehntelange Arbeit bietet die gesetzliche | |
Rente schon lange nicht mehr. Künftig aber geht es ans Eingemachte: Fast | |
der Hälfte der heute Erwerbstätigen droht eine Rente unterhalb der | |
Grundsicherung. In Ostdeutschland wird es sogar die klare Mehrheit sein. | |
Wer da Reformen negiert, wird später die Quittung erhalten. Dabei ginge es | |
in der Rente auch ganz anders und sehr viel besser. | |
Es gibt ein realistisches Rentenmodell, das den Rentnern im Alter nahezu | |
den vorherigen Lebensstandard sichert. Ohne Riester, ohne Betriebsrente – | |
einfach durch die gesetzliche Rente. Und das Beste: Dieses Modell existiert | |
bereits, in Österreich. | |
Dort gibt es die einfache Regel: Nach 45 Jahren Arbeit bekommt ein Rentner | |
oder eine Rentnerin im Alter von 65 Jahren eine Bruttorente in Höhe von 80 | |
Prozent ihrer früheren Bezüge. Ein sensationeller Wert, wenn man weiß, dass | |
ein Durchschnittsverdiener hierzulande gerade mal 45 Prozent erreicht. | |
Und tatsächlich: In vielen Fällen bekommen die Pensionisten, so werden die | |
Ruheständler in der Alpenrepublik genannt, bei zuvor gleich hohen Löhnen | |
fast doppelt so hohe Renten wie in Deutschland. Und die Konsequenz? | |
Analysieren die Sozialpolitiker aller deutschen Parteien intensiv das | |
österreichische Rentenwunder? Haben die Sozialverbände und Gewerkschaften | |
das Modell Österreich zum Vorbild erkoren und fordern nun mit aller Macht | |
von der Politik, möglichst viel davon auch in Deutschland umzusetzen? | |
## Angeblich als Blaupause untauglich | |
Leider nein. Dabei waren es Forscher der gewerkschaftseigenen | |
Hans-Böckler-Stiftung, die Anfang 2016 mit einer Studie der Fachwelt die | |
profunden Vorteile von Österreichs Rentensystem offenlegten. Doch im Rahmen | |
der DGB-Rentenkampagne „Rente muss reichen!“ finden die Erkenntnisse des | |
eigenen Think-Tanks so gut wie nicht statt. | |
Auch in der Politik hat das Modell Österreich – mit Ausnahme der Partei Die | |
Linke – erstaunlich wenig Freunde. Im Gegenteil: Besorgte Bürger und | |
Mitglieder bekommen auf Nachfrage aus den Parteizentralen zu hören: Das | |
Modell habe viele Nachteile und sei im Übrigen wegen der Besonderheiten des | |
Nachbarlandes gar nicht mit dem deutschen System vergleichbar und somit als | |
Blaupause untauglich. | |
So ähnlich argumentieren mittlerweile auch viele Medienvertreter, | |
beispielsweise ARD-Moderatorin Sonia Mikich, die im Rahmen des | |
Wahl-Fünfkampfes der kleinen Parteien die Rentenargumente von Sahra | |
Wagenknecht regelrecht abbügelte. Oder Nikolaus Piper von der Süddeutschen, | |
der mit kruden Vergleichen zu belegen suchte, dass das Rentensystem der | |
Alpenrepublik keinesfalls nachhaltig sein könne. | |
Den Anfang hatte die Frankfurter Allgemeine Zeitung gemacht. Die FAZ | |
kritisierte vor allem die hohen staatlichen Zuschüsse und die mangelnde | |
private Vorsorge in Österreich und titelte: „Gefährliches Rentenvorbild | |
Österreich“. | |
## Umdenken fällt schwer | |
Wie ist diese Mischung aus Ignoranz und panischer Gegenwehr zu erklären? | |
Erstens: Umdenken fällt schwer. Da haben die meisten Politiker und | |
Medienleute uns viele Jahre lang erzählt, die Demografie verlange eine | |
Senkung des Rentenniveaus. Nur mit deutlich mehr privater Vorsorge könnte | |
die Alterssicherung gelingen. Nun soll das alles nicht mehr gelten? | |
Zweitens: Elementare Interessen der Arbeitgeberseite und der | |
Finanzwirtschaft sind betroffen. Die Rentenpolitik seit Schröder sicherte | |
den Arbeitgebern niedrige Rentenbeiträge und verlagerte die Lasten der | |
Vorsorge massiv auf die Arbeitnehmer. Die sollen riestern und nun auch viel | |
stärker in Betriebsrenten einzahlen. | |
In beiden Fällen fließt das Geld zum größten Teil an Lebensversicherer, | |
also an Allianz & Co. Diese haben seit den Riester-Reformen über 50 | |
Millionen private Rentenverträge an die Bundesbürger verkauft und zig | |
Milliarden damit verdient. Ergo: Alle, die die deutsche Rentenpolitik in | |
den vergangenen 15 Jahren bestimmt haben, und die, die davon profitiert | |
haben, sind an einer Kehrtwende schlicht nicht interessiert. | |
Dabei wäre das österreichische Modell gut übertragbar: Hier wie dort | |
handelt es sich um eine beitragsbezogene und nach dem Äquivalenzprinzip | |
konstruierte Rente: Wer viel verdient und lange Jahre einzahlt, bekommt | |
später viel Rente, wer wenig verdient, bekommt weniger. Die | |
Wirtschaftskraft beider Länder ist pro Kopf vergleichbar hoch. Auch die | |
demografische Ausgangslage ist ähnlich: Österreich liegt mit seiner | |
niedrigen Geburtenrate weltweit auf Platz 201, Deutschland liegt auf Platz | |
213. | |
## Das Modell funktioniert | |
Doch kommen wir zu den entscheidenden Unterschieden: Österreich hat den | |
Forderungen nach mehr privater Vorsorge (Riester-Rente!) widerstanden und | |
setzt dafür auf etwas höhere Beiträge. Sie liegen mit 22,8 Prozent rund | |
vier Prozentpunkte über den deutschen. Die Arbeitnehmer zahlen davon in | |
Österreich mit 10,25 Prozent weniger als die Hälfte, während die | |
Arbeitgeber mit 12,55 Prozent den Löwenanteil blechen. Dennoch hat das der | |
Wirtschaftskraft des Landes nicht geschadet. | |
Der Clou des Modells ist jedoch die Einbeziehung aller Erwerbstätigen: Auch | |
Selbstständige, Freiberufler und Beamte zahlen ein. Vor allem dadurch ist | |
das Verhältnis von jungen Einzahlern zu Pensionisten günstiger als in | |
Deutschland. Das Modell funktioniert. Letztlich geht es um die Frage: | |
Können wir auch in Deutschland die in Köpfen und Gesetzen festgezimmerten | |
Positionen von Arbeitgebern und Finanzwirtschaft überwinden? | |
Jamaika sendet leider kein ermutigendes Zeichen. | |
5 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Holger Balodis | |
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