# taz.de -- Serie: Wie weiter, Germans (9): Was heißt eigentlich Leistungsträ… | |
> Auch 2017 kennt die Politik als Wählerkategorien nur „Angestellte“ oder | |
> „Arbeitslose“. Freiberufler und junge Kreative werden alleingelassen. | |
Bild: Coworking-Spaces gibt es inzwischen sogar im bayerischen Bad Berneck | |
Was heißt hier eigentlich Leistungsträger? Das erste Mal habe ich mich das | |
mitten in der Nacht gefragt und diese Frage über Twitter in die Welt | |
gejagt. Ich konnte nach einem langen Arbeitstag nicht runterfahren und warf | |
den PC an, damit er mir Gesellschaft leistet. | |
Nach ein paar Minuten antwortete auch schon, von irgendeiner anderen Stelle | |
des Äthers aus, der beliebte WDR-Moderator Max von Malotki: „Einer der von | |
Leistung träge ist.“ Da surfen also zwei Leistungsträger um die 40 nach | |
Mitternacht in ihren sozialen Netzwerken und einigen sich auf das Träge in | |
Leistungsträger. | |
Um es von vornherein klarzustellen: Ich liebe dieses Leben, das Politik und | |
Verwaltung inzwischen mit dem Label „Kultur- und Kreativwirtschaft“ | |
versehen haben. Es ist nur wie bei Beziehungen: Es kommt der Tag, an dem | |
man sich fragt, ob das jetzt alles ist und ob es so, wie es ist, gut ist | |
oder nur selbstverständlich. | |
Ich habe mich vor fünf Jahren entschieden, dieses Lebensmodell zu verlassen | |
und stelle seither täglich fest, wie viel für Angestellte getan wird. Nach | |
wie vor sympathisiere ich mit der Arbeitswelt, die ich zurückgelassen habe, | |
und frage mich, was wir falsch gemacht haben. Immer mehr Menschen | |
entscheiden sich für diese Form des Arbeitens. Eine starke Lobby haben sie | |
nicht. | |
Wann wird die Politik die Interessen dieser Wähler wahrnehmen und welche | |
Partei will den ersten Schritt machen? Klar, die meisten Existenzgründer | |
wirken innovativ und willensstark. Ein altbekannter Fehler deutscher | |
Politik ist ja, dass sie davon ausgeht, Starke könne man alleine lassen. | |
Auch in diesem Wahljahr wird so getan, als ob alle Wähler entweder | |
Angestellte seien oder Arbeitslose. | |
## Die Angst vor dem Stillstand | |
Klar, das sind klassische und wichtige Wählergruppen. Doch die neue | |
kreative Klasse ist oft nicht reich genug, um zu den privilegierten | |
Unternehmern zu gehören, die eine Lobby haben. Sie rotieren pausenlos vor | |
sich hin, um ihre Ideen zu verwirklichen. Um zu überleben. | |
Viele von diesen Einzelkämpfern kommen schwer runter. Sie denken, sobald | |
sie stillstehen, steht alles still. Sie besuchen zu Tausenden | |
Coaching-Messen, um sich für den Erfolg zu drillen. Man könnte sagen: Die | |
Sieben-Punkte-Pläne der USA, die angeblich zum Selfmade-Millionär führen, | |
sind in Deutschland angekommen: Ich kann ich kann ich kann. Wer nicht kann, | |
der kann eben nicht und soll etwas anderes tun. Die Härte hat viel zu tun | |
mit dem freien Fall, der jene erwartet, die ihren Traum vom Erfolg nicht | |
realisieren. Projektfreie Gesprächszonen sind unter solchen | |
Leistungsträgern rar. | |
Es ist eine Berufsentscheidung, die zur Krake wird, deren Arme in jeden | |
Lebensbereich reichen. Kann der Partner mit dieser Selbstverwirklichung? | |
Ähnlich, wie die Vegan-Bewegung mit dem Slogan „Du bist, was du isst“ | |
wirbt, müsste dieser Einzelkämpfer-Leistungssektor mit „Du bist, was du | |
tust“ arbeiten. Das klingt gut, aber ich möchte weder als Chiasamen noch | |
als Start-up-Projekt aufwachen. Was bleibt? | |
## In der Pose des Hundes | |
Es gibt Momente, in denen man sich dieses Leistungsträgerprinzips in seiner | |
ganzen Maßlosigkeit bewusst wird. Ich erinnere mich an einen Abend, ich kam | |
vom Yoga, hatte mir einen Probemonat gegönnt: Da alles schnell und | |
schonungslos, hier drin Entschleunigung und das pure Ich. Während wir also | |
drin in der Pose des Hundes tief durchatmen, bestätigen wir gleichzeitig, | |
wie sehr die Welt da draußen einen Gegenentwurf braucht. Es gefiel mir. | |
Aber zig junge Menschen, vor allem auch Frauen, die sich tagsüber mit | |
Ellbogen durchsetzen müssen, gehen abends in diese kleinen Studios für | |
einen Moment der Entspannung und das Versprechen von bedingungsloser Liebe. | |
Auf dem Heimweg, mit meiner Yogamatte am Rücken, erinnere ich mich, als ich | |
mich in einem Schaufenster gespiegelt sehe, an die Promibilder, auf denen | |
alle mit ihren schicken Matten zum Yoga oder Pilates gehen und frage mich, | |
wie viel von der Sehnsucht nach dieser Art Entspannung eigentlich wirklich | |
aus mir selbst kommt. Kurz bevor ich in meine Straße einbiege, treffe ich | |
einen Mann, etwas älter als ich, auch selbstständig, auch engagiert, auch | |
unermüdlich, könnte man denken, die Kappe tief im Gesicht. Er käme vom Tai | |
Chi. | |
Aha, denke ich, und sage: „Guut!“ | |
„Irgendwo muss der Mensch ja auch runterkommen, oder?“ | |
„Ja, klar“, sage ich. | |
Und will fast fragen, was das Runterkommen bei ihm gekostet hat, aber wir | |
sind zu entspannt und lassen uns ziehen. | |
Auch er ist so ein Leistungsträger. Menschen unter vierzig, über vierzig, | |
die Schneise zieht weniger das Alter als der Lebensentwurf und das eigene | |
Verhältnis zur Arbeit. Seit den Kampagnen für Ich-AGs, Start-ups, seit der | |
Förderung von Kultur- und Kreativwirtschaft sind diese Lebensmodelle für | |
immer mehr Menschen attraktiv geworden. Das liegt nicht nur an dem | |
Unwillen, ein Angestelltendasein zu fristen, es liegt auch am Mut dieser | |
neuen Arbeitergeneration – und gleichzeitig an der Starrheit der alten | |
Strukturen. | |
## Eine hierarchische Arbeitskultur | |
Für viele ist klar: Ein klassisches Arbeitsverhältnis könnte ihre Talente | |
im Keim ersticken. Bis heute verlangt die Arbeitskultur in diesem Land eher | |
hierarchisches, kleingeteiltes Arbeiten statt eigensinnige und kreative | |
Köpfe. Sie riskieren, wagen und gewinnen lieber. Vielleicht. Vielleicht | |
wachen sich auch mit Ü 40 auf und stellen fest, dass die Batterie leer ist | |
und aus dem Leistungsträger ein Leistungs-Träger geworden ist. Wer rotiert | |
dann? | |
Die Politik nimmt diese Zielgruppe kaum wahr. Und Gewerkschaften? | |
Kreativschaffende gründen zwar ständig neue Netzwerke und werden doch in | |
absehbarer Zeit kein machtvolles Sprachorgan finden, wie die | |
Industriearbeiter sie in den Gewerkschaften hatten. Was würde ein Streik | |
dieser Branche bewirken? Wer würde für die Ausfälle aufkommen? | |
Es ist der absolute Gegenentwurf zum öffentlichen Dienst. Da kann sich ein | |
Arbeitnehmer während der Arbeitszeit um seine Rentenvorsorge kümmern, weil | |
der Arbeitgeber eine Fürsorgepflicht hat. Der Freischaffende macht das | |
nachts, nebenher. Wenn die Politik immer mehr junge Menschen dazu | |
motiviert, den Start-up-Weg zu gehen, zur Kultur- und Kreativwirtschaft | |
beizutragen, weil der Wirtschaftsstandort Deutschland Zukunft haben muss | |
und nicht nur Autos, dann muss der Staat hier auch die Fürsorgepflicht | |
wahrnehmen. | |
Keine Partei bietet jedoch ein auf diese Zielgruppe zugeschnittenes | |
Programm an. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner arbeitet bei der | |
Selbstvermarktung mit jenen Mitteln, mit denen auch die Kreativen ihre | |
Produkte an den Konsumenten bringen möchten. Indem er ihnen so suggeriert, | |
er sei einer von ihnen, könnte er Erfolg haben. | |
## Die Freiheit der FDP ist eine zur Selbstausbeutung | |
Doch auch die FDP, jenseits der Pose, blieb bei der Wahl ein Programm | |
schuldig, das über die Nutzung der Kreativindustrie als Wahlkampfmaschine | |
hinausgeht. Auch die FDP setzt eher auf die Freiheit zur Selbstausbeutung | |
statt auf gute Rahmenbedingungen für eine Freiheit zur | |
Selbstverwirklichung. Sie hat zwar verstanden, dass die alten | |
Arbeiterfloskeln nicht mehr ausreichen, doch was die Arbeitswelt der | |
Zukunft bräuchte, um dem Paradox der Vereinzelung als Massenbewegung | |
politisch gerecht zu werden, fragt sie sich nicht. Die FDP spricht eher für | |
ältere Zahnärzte als junge Kreative. | |
Die Künstlersozialkasse war ein Glücksmoment der deutschen Politik, der den | |
prekären Arbeitsverhältnissen der Kreativen eine Maßnahme bot. Seither ist | |
wenig in dieser Richtung passiert. Man arbeitet in Co-Working-Spaces und | |
sucht den Erfolg in der Vernetzung. Vernetzung ist auch so ein Wort für | |
diese Zielgruppe. Netzwerke sind alles. Der richtige Kontakt zur richtigen | |
Zeit entscheidet oft darüber, ob ein Projekt abhebt oder eines von vielen | |
bleibt. | |
Was wird jetzt aus dem Privatleben der Vernetzer? Klar, Netzwerken macht | |
Spaß. Hier vermischen sich Privates und Berufliches. Gleichzeitig ist die | |
Krux des Vernetzens, dass es mit Mitteln des privaten Umgangs | |
wirtschaftliche Gewinne sucht. In dem Moment, in dem ich nichts mehr zu | |
bieten habe, fällt mein Marktwert im Netzwerk. | |
Ein Vernetzer, der ein halbes Jahr im Krankenhaus liegt, ist schon | |
problematisch. Überträgt sich da die abendliche, privat anmutende | |
Vernetzungszeit in freundschaftliche Krankenbesuche? Wer trägt die Kosten | |
für den Gewinnverlust? Muss man ans Ersparte ran? Lösungsvorschläge aus der | |
Politik? Fehlanzeige. | |
## Nur wer durchkommt, wird gefeiert | |
Immer mehr Menschen versuchen, die deutsche Illusion vom innovativen | |
Kreativstandort zu leben, wo nicht die Arbeitszeit zählt, sondern das | |
Herzblut. Wer durchkommt, wird gefeiert. Wer nicht durchkommt, taucht nicht | |
auf. Früher waren das Lebensmodelle für Exoten. Heute propagiert der Staat | |
dieses Lebensmodell. Und dekliniert gleichzeitig die Folgen für den | |
Einzelnen nicht durch. Das alles macht es schwerer, ein Haus zu kaufen, die | |
Zukunft zu planen oder eine Familie zu gründen. Selbst das Elterngeld ist | |
für die spezifischen Herausforderungen dieser Klasse nicht angepasst | |
worden. | |
Wenn man von den Erwerbsarmen spricht, denkt man meist an Geringverdiener, | |
die drei Jobs aneinanderreihen müssen. Man denkt weniger an die sehr gut | |
ausgebildeten Kreativen, die im gleichen Maße um ihren sozialen Status | |
kämpfen. Wie sind die Kreativen bei ihren zahlreichen Reisen versichert? | |
Wird es auch bei ihnen jemanden geben, der für Arbeitsunfälle einsteht? | |
Als ich früher „nur“ freischaffende Autorin war, wollte ich eine | |
Berufsunfähigkeitsversicherung abschließen. Das löste auf Seiten der | |
Versicherer Panik aus: „Heißt das, wir sollen auch zahlen, wenn Sie mal | |
keine Ideen haben?“ | |
Ich sagte: „Es würde mir schon reichen, wenn Sie zahlen, falls mir der Arm | |
abfällt oder das Augenlicht versagt, all so was, wogegen andere Arbeiter | |
auch versichert sind bei der Arbeit.“ | |
## Ich bin ein nicht zu kalkulierendes Risiko | |
Sie blieben dabei: Leute, die kreativ selbstständig arbeiten, sind ein | |
nicht zu kalkulierendes Risiko. Der Einzelne hat es zu tragen. | |
Als ich mein erstes Buch bei einem nicht gerade kleinen Verlag namens | |
Suhrkamp verkaufte, gab es keinen Vorschuss. Bei Suhrkamp sagte man gerne, | |
der Lohn seien Ruhm und Ehre. Ruhm und Ehre haben meine Vermieter als | |
Währung nie akzeptiert. | |
Kreativität steigt nicht exponentiell zur Existenzangst. Ein | |
US-Schriftsteller fasste das mal etwa so zusammen: Es ist ganz cool, mit | |
Mitte zwanzig in einer kleinen Bude zu leben und zu sagen, du schreibst | |
Romane. Es ist alles andere als cool, wenn du das mit Mitte dreißig immer | |
noch sagen musst. Ein bisschen Co-Working in den teuren Städten wird die | |
Probleme nicht lösen. | |
Die Parteien müssen endlich Politik für diese Menschen machen und einsehen: | |
Ohne diese Klasse ist die Zukunft nicht zu haben. | |
Dieser Text ist aus der neuen Ausgabe der FUTURZWEI. Seit dem 12. September | |
am Kiosk oder auch [1][direkt hier zu bestellen]. | |
2 Oct 2017 | |
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## AUTOREN | |
Jagoda Marinić | |
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