# taz.de -- Serie: Wie weiter, Germans? (6): Der brillante Performer | |
> FDP-Parteichef Christian Lindner ist die herausragende Figur der Wahl. | |
> Was macht ihn so attraktiv? Vielleicht die nonkonformistische Haltung. | |
Bild: Viel besser als ein Elvis-Double: Lindner im Berliner Hotel Estrel | |
„Ich hab’s auf der Bühne in Ihren Augen gesehen“, sagte Lindner zu mir n… | |
einem öffentlichen Gespräch in München. | |
„Was haben Sie gesehen?“, fragte ich. | |
„Sie haben gedacht: Booaah, was für ein Demagoge.“ | |
Falsch. Hatte ich nicht. | |
Ich dachte: Booaah, was für ein gnadenlos brillanter Performer. Der macht | |
mich hier alle. Scheiße. | |
Beim Parteitag am vergangenen Sonntag in Berlin liefert Christian Lindner, | |
38, wieder eine brillante Rede ab. Im Berliner Hotel Estrel, wo sonst Elvis | |
imitiert wird. Ohne Manuskript, ohne Pult steht er frei auf der Showbühne | |
und feuert die politischen Punchlines ab, dass Harald Schmidt nach Hause | |
gehen könnte, wenn er nicht schon dort wäre. | |
Okay, das ist eher was für Jungs als für Frauen. Manchmal holt er ein | |
Zettelchen aus der Tasche und schaut drauf, aber das könnte auch zur Show | |
gehören. Nach dreißig Sekunden ist er beim Lieblingswitzthema Grüne, danach | |
geht es einmal um die Welt, die in diesem Wahlkampf für alle Parteien nur | |
aus Deutschland zu bestehen scheint. Einige seiner Pointen haben | |
mittlerweile einen Bart, wie das so ist, wenn man seit vier Jahren auf | |
Endlostour ist. Andere sind so gut, dass man auch als politisch | |
Andersdenkender laut lachen muss. | |
Obwohl: Allen gelingt das nicht. Lindner ist für manche: the man they love | |
to hate. Wie extra für sie gemacht. Geht gar nicht. Klassische Linke und | |
Traditionsgrüne reagieren dermaßen allergisch auf den FDP-Chef und | |
Spitzenkandidaten der Bundestagswahl, dass schwer zu sagen ist, welche | |
Rolle das Studium seines politischen Angebots spielt. | |
Die Antipathie gegen die Person folgt nicht nur aus dem politischen Vorwurf | |
der sozialen Ungerechtigkeit und des Putin-Verstehens, sondern | |
kulturell-habituellen Ressentimentmustern („Porsche-Fahrer“, „arrogant“, | |
„Schönling“). Wobei Lindner sich redlich müht, diese zu bedienen, denn au… | |
das ist Teil seiner Inszenierung. Die Story, wie er nach dem Abitur mit dem | |
eigenen 911er zum Zivildienst fuhr, wird ja erst richtig schön, wenn die | |
Grüne Katrin Göring-Eckardt pastorig die Augenbrauen hochzieht. Den ganzen | |
Wahlkampf über hält er ihnen schon die Stöckchen hin. Und sie springen | |
jedes Mal brav entrüstet drüber. Und denken: Ha, jetzt ist er entlarvt, | |
Ausrufezeichen. | |
Pfeifendeckel. Er nährt sich von ihrem Moralismus. | |
Je mehr jemand von Wahlkämpfen versteht, desto klarer ist seine | |
Einschätzung zu Lindners Arbeit. „Grandios“, sagt ein Top-Politikverkäufer | |
der Konkurrenz. Die Bundeskanzlerin Merkel mal außen vor, die in ihrer | |
eigenen Merkel-Kategorie unterwegs ist: Lindner ist die herausragende Figur | |
dieses Wahlkampfes. Und das als Außerparlamentarier. Das sagt auch über das | |
Niveau der anderen eine Menge. | |
## Lindner ist ein Joschka Fischer für die FDP | |
In der guten, alten Zeit hatten die Grünen bei Bundestagswahlen die | |
kreativste Agentur, die griffigsten Sprüche und eine Figur, für oder gegen | |
die man brannte: Joschka Fischer, all time number one. Jetzt hat das die | |
FDP. Die Agentur heißt Heimat und folgt einem ästhetisch-visuellen | |
Masterplan, der Lindner schon im Frühjahr bei der Landtagswahl in NRW zum | |
Sieg und zu 12,6 Prozent geführt hat. Das Konzept dahinter ist unter | |
Mitwirkung von Boston Consulting entstanden und basiert auf drei | |
Kernpunkten: Der liberale Markenkern funktioniert. Aber nicht mit den alten | |
Protagonisten und nicht mit der schneidigen sozialen Kälte, die der | |
verstorbene Guido Westerwelle ausstrahlte. | |
Die „neue FDP“ (Eigeneinschätzung) kommt emotional wärmer daher – Lindn… | |
Schlüsselwort ist „Bildungsgerechtigkeit“. Die Partei hat jetzt Humor (er | |
hat ihn wirklich) und passt zu einem Lifestyle des 21. Jahrhunderts, den | |
Lindner personifiziert. „Selbstbestimmt“ ist das Wort, mit dem er arbeitet. | |
Da geht es nicht nur darum, dass er in Videos und auf Plakaten immer sein | |
Mobiltelefon in der Hand hat und drauf starrt. Es geht auch darum, wie er | |
dabei wirkt. Echt. Und cool. | |
Im Off sagen auch schimpfende Konkurrenzpolitiker, dass Lindners Wahlkampf | |
funktioniere, speziell die Lebensstil-Ansprache an gut ausgebildete junge | |
Leute, die ohne Festanstellung irgendwas mit Internet machen. Lindner ist | |
da auf der richtigen Spur, der Macron-Spur, indem er die real existierende | |
Individualisierung der Gesellschaft nicht negiert wie etwa Martin Schulz | |
oder gar anprangert, wie es die im 20. Jahrhundert steckengebliebenen | |
Umverteilungslinken tun, sondern als Ausgangspunkt für die Notwendigkeit | |
von etwas neuem gemeinsamen Politischen nimmt. Das Problem dieser Jungen | |
ist nicht eine Ego-Politik der außerparlamentarischen FDP, sondern dass sie | |
sich von den anderen Parteien ignoriert fühlen. | |
Der auch intern geäußerte Vorwurf, die FDP sei im Moment eine strengst | |
hierarchisierte One-Man-Show, ist vermutlich richtig und die Grundlage | |
ihres potenziellen Erfolgs. Lindner und die FDP werden als eins inszeniert. | |
Als Identifikationsfigur für junge, leistungsbereite Leute, die „anecken“, | |
um etwas hinzukriegen. Die Werbeslogans sind in ihrer Vagheit auf dem Punkt | |
(„Warten wir nicht länger.“ Worauf, auf Godot?). Eine leichte | |
Text-Bild-Schere ist allerdings zu konstatieren, wenn die Parteitagshelfer | |
hinten auf dem T-Shirt „Denken wir neu“ stehen haben und vorn Würstchen mit | |
Kartoffelsalat durch die Halle tragen. Aber das gehört wohl zur Pflege des | |
sozialliberalen Traditionalismus von Burkhard Hirsch und Gerhart Baum. | |
Wie bei jedem Rebellen-Posing geht es um Widerstand gegen ein verkrustetes | |
Establishment. | |
Mit Kritik daran und am angeblichen Regulierungswahn der Grünen (und der | |
SPD) hat Lindner in NRW die beiden vormaligen Regierungsparteien ins | |
politische Aus gedrängt. Die Frage ist, ob und wie viele mutige | |
Nonkonformisten es denn wirklich gibt, die ihr Ding auch gegen das | |
Dauergebremse der Mittelmaßgesellschaft und -politik voranbringen wollen. | |
## Wild, frei und sexy – das ist Lindner wirklich | |
Sicher nicht so viele wie Leute, die sich für Nonkonformisten halten | |
wollen. Dies ist nun mal eine Gesellschaft, in der bei Günther Jauch | |
wirklich jeder unter großem Verzögerungsgeschwätz am Ende aussteigt und | |
32.000 Euro mitnimmt, bevor er durch eine falsche Antwort den Rückfall auf | |
16.000 riskiert. Diese Gesellschaft will Sicherheit – und ein Teil will | |
dabei auch noch wild und frei und sexy aussehen. Man kann Lindner schlecht | |
vorwerfen, dass Ersteres so ist und dass er Zweiteres tut. Wenn allerdings | |
im Wahlkreis Hermann Otto Solms vorbeikommt, funktioniert es vermutlich | |
weniger. | |
Seit der aberwitzigen Diskussion um die Beine der Hamburger | |
Lokalpolitikerin Katja Suding im Jahr 2014 ist die FDP im Aufwind. Seither | |
müsste auch der Grünste gemerkt haben, dass es Leute braucht, die sich über | |
diese Partei aufregen, damit andere draufkommen, sie zu wählen. Die neue | |
Kundschaft wird durch ein „Einkapseln“ – clever gesetztes Lindner-Wort – | |
der Krim-Frage mitnichten abgeschreckt, sondern durch die Empörung der | |
anderen erst in Richtung Lindner getrieben. Lindner ist ein Meister des | |
pointierten, staatsmännisch vorgetragenen Ressentiments. (Im Gegensatz zu | |
diversen Grünen, die ihre Ressentiments unpointiert pflegen.) | |
Flüchtlinge, Einwanderung, Europa: Da positioniert Lindner sich als | |
demokratische Alternative gegen eine aus seiner Sicht allzu offene, allzu | |
europäische, allzu sozialökologische Position. Dies alles aus | |
staatsbürgerlicher Verantwortung. Die Rhetorik ist stets eine des: | |
Selbstverständlich ist die FDP dies und das, aber . . . Nur bei der Abwehr | |
der ökologischen Modernisierung Deutschlands geht Lindner das Pointierte | |
ab. Da ist er 1980s und klingt nach verkrustetem, fossilen | |
Alt-Establishment. | |
Digitalisierung, Start-up, Bildung statt Umverteilung, wider die | |
Regulierung, wider den Stau, das sind die in jedem Interview auftauchenden | |
Schlüsselwörter. Noch wichtiger allerdings ist es, die Schlüsselworte | |
wegzukriegen, für die die FDP nicht oder nicht mehr stehen soll: | |
Mehrheitsbeschaffung, Dienstwagengeilheit, Hotelfrühstücke, | |
Hotelbargeschwätz, frauenfreie Zone, Turboneoliberalismus. | |
Was Frauen angeht, so ist die Damentoilette beim FDP-Parteitag weiterhin | |
der einsamste Ort der Welt. Das mit dem Turboneoliberalismus stimmte | |
dagegen nie. Das Problem von Westerwelle war ja, dass die 2009 endlich | |
regierende FDP mit 14,6 Prozent gegen die Sozialdemokratin Merkel keine | |
liberale Wirtschaftspolitik umgesetzt kriegte. Der Ausstieg aus dem | |
Atomausstieg wurde auch revidiert. Blieb hauptsächlich die lächerliche | |
Hotelsteuer. | |
Wer jetzt die Hoffnung hat, dass mit Lindner in der Regierung Deutschland | |
etwas riskieren wird – oder die Sorge: Das gibt die | |
sozialdemokratisch-konservativ-liberale Merkel-Mehrheitsgesellschaft | |
genauso wenig her wie andere radikale Modernisierungen. Im Übrigen scheint | |
gerade Christian Lindner das Risiko sehr genau zu kalkulieren. Egal ob die | |
FDP künftig mitregiert oder nicht, es wird in jedem Fall Ausdruck von | |
maximaler Treue zu ihrer nonkonformistischen Haltung und ihren liberalen | |
Inhalten sein. Und Lindners Aussage beim Parteitag im April, dass er „noch | |
30 Jahre Politik“ machen wolle, könnte man so verstehen, dass er im Grunde | |
auch eine sichere Festanstellung im politischen Establishment anstrebt. | |
18 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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