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# taz.de -- Debatte Koalitionsbildung: Lob der Großen Koalition
> Wem soziale Gerechtigkeit, Migration und Flüchtlinge wichtig sind, der
> sollte sich nicht auf die Grünen verlassen. Jamaika wäre das Grauen.
Bild: Für ein paar Windräder die Ideale verscherbeln? Das muss nicht sein
Angela Merkel kann es egal sein, wer in den nächsten vier Jahren unter ihr
regiert. Sie wird wie immer den Mittelweg vertreten, den kleinsten
gemeinsamen Nenner ihrer jeweiligen Koalitionäre. Für die Republik aber
macht es einen großen Unterschied, ob die Union nach der Wahl weiterhin mit
der SPD regiert – oder aber mit FDP oder gar den Grünen zusammenkommt. Die
Grünen haben recht: Es geht um nicht weniger als eine
Richtungsentscheidung. Aber nicht so, wie sie denken.
Eine schwarz-gelbe Koalition würde die soziale Kluft vertiefen, und sie
wäre für Flüchtlinge und Migranten fatal. Nach einer schwarz-grünen
Mehrheit sieht es derzeit nicht aus, und in so einer Koalition wären die
Grünen auch nur der Juniorpartner von CDU und CSU. In einer
schwarz-gelb-grünen Koalition aber wären sie erst recht das Zünglein an der
Waage. Schwer vorstellbar, wie Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt es da
schaffen wollen, sich gegen Horst Seehofer und Christian Lindner
durchzusetzen, um etwas gegen Kinderarmut oder für den Flüchtlingsschutz zu
tun. Falls sie das überhaupt wollen.
Nicht nur in Baden-Württemberg haben die Grünen in den vergangenen Jahren
ja gezeigt, wie weit sie bereit sind, ihre Ideale für ein paar Windräder zu
verscherbeln. Dass manche Spitzengrüne sich jetzt sogar vorstellen können,
im Bund in eine Jamaika-Koalition einzuwilligen, zeigt, dass es ihnen vor
wirklich gar nichts graut. Aber will man den Grünen dabei zusehen, wie sie
sich die letzten Reste ihres sozialen und migrationspolitischen Gewissens
für ein E-Auto abkaufen lassen? Nein danke.
Eine Fortsetzung der Großen Koalition ist im Vergleich dazu nicht das
kleinere Übel. Sie ist vielmehr die einzige Garantie dafür, dass Themen wie
soziale Gerechtigkeit und die Teilhabe von Migranten und Flüchtlingen
künftig nicht völlig unter den Tisch fallen. Soziale Gerechtigkeit ist nun
mal das Kernthema der SPD. Dass sie der Union als Koalitionspartner auf
Augenhöhe begegnen und Teile ihrer Agenda durchsetzen kann, hat sie in der
vergangenen Legislaturperiode bewiesen. Genau deswegen wird Angela Merkel
ja vorgeworfen, die Union und das Land nach links gerückt zu haben. Sie ist
die beste sozialdemokratische Kanzlerin, die die SPD selbst nie hatte.
Das liegt auch daran, dass sich die Sozialdemokraten seit der Agenda 2010
und der Sarrazin-Debatte erneuert haben. Nicht nur in sozialpolitischer
Hinsicht, sondern auch in Migrationsfragen: Schon bei der letzten
Bundestagswahl waren sie es und nicht die Grünen, die – neben der Forderung
nach einem Mindestlohn – die Gewährung der doppelten Staatsbürgerschaft für
Einwandererkinder zur Voraussetzung für Koalitionsverhandlungen machten und
damit ein wichtiges Signal setzten.
Es ist auch kein Zufall, dass ausgerechnet die Integrationsbeauftragte der
SPD, Aydan Özoğuz, jetzt zur Zielscheibe von Alexander Gaulands
rassistischen Ausfällen wurde. Denn Özoğuz verkörpert, gerade in ihrer
ruhigen und hanseatisch zurückhaltenden Art, den exakten Gegenpol zu den
aufgeregten völkischen Reinheitsfantasien der AfD.
Die SPD hat mehrere solcher Typen in ihren Reihen, wie Karamba Diaby aus
Halle oder Josip Juratovic aus Heilbronn, die für die Normalität der
Einwanderungsgesellschaft stehen und Integrationspolitik als Bohren dicker
Bretter verstehen. So, wie Frauen wie Andrea Nahles, Manuela Schwesig und
Katarina Barley die Sozial- und Familienpolitik der SPD verkörpern. Die SPD
widerlegt damit das von rechts gerne geschürte Vorurteil, dass sich der
Einsatz für Minderheiten und eine gerechte Sozialpolitik ausschließen
müssen. Nein: Kein Kind muss zurückgelassen werden.
Auch die Grünen haben immer noch einige Migranten in ihren Reihen. Doch
obwohl sogar ihr Parteichef und Spitzenkandidat einen Migrationshintergrund
besitzt, scheint ihnen das ganze Thema heute irgendwie peinlich zu sein.
Sozialpolitik war noch nie ihre Stärke. Und sie haben niemanden mehr, der
wie einst Claudia Roth zum Feindbild der Rechten taugt. Dafür aber einen
Boris Palmer, der ihnen nach dem Munde redet.
Die Grünen hätten vermutlich bessere Chancen, wenn sie sich als klarer
Gegenentwurf zur AfD profilieren würden statt bloß als Öko-Anhängsel der
Union oder der SPD. So, wie es der grüne Parteichef Jesse Klaver in den
Niederlanden vorgemacht hat.
## Stillleben mit Sonnenblumen
Die deutschen Grünen haben ihre Anbiederung an den neoliberalen und
kulturkonservativen Mainstream leider sehr weit getrieben. Ohne Not haben
sie dafür eines ihrer einstigen Kernthemen aufgegeben – die Ausgestaltung
der multikulturellen Gesellschaft. Dafür fehlt ihnen inzwischen der
Gestaltungswille. Wenn sie heute an einer Landesregierung beteiligt sind,
entscheiden sie sich meist lieber für Ökoressorts wie Umwelt und Energie,
Landwirtschaft oder Verbraucherschutz als für Soziales und Integration. Das
gute Leben ihrer Mittelschichtswähler ist ihnen wichtiger als die Probleme
der Migranten und Unterschichten.
Das aber macht sie für viele Wähler verzichtbar, denen Flüchtlinge und
Migrationspolitik am Herzen liegen. Nicht nur im kulturell vielfältigsten
Bundesland, in Nordrhein-Westfalen, wurden sie im Mai dafür abgestraft.
Jetzt droht ihnen das nächste Debakel im Bund. Denn gegen Erdoğan zu sein
ist noch keine Integrationspolitik – und erst recht kein
Alleinstellungsmerkmal.Wem es reicht, konservative Leitkultur-Fantasien und
neoliberalen „Leistung muss sich lohnen“-Fetischismus mit ein paar schönen
Sonnenblumen zum neuen bürgerlichen Stillleben zu garnieren, der muss keine
Angst vor „Jamaika“ haben.
Wem es dagegen auf dem Feld der Sozial- und Integrationspolitik um konkrete
politische Fortschritte oder auch nur um Schadensbegrenzung geht – etwa den
Familiennachzug für Flüchtlinge zu verteidigen, den Schutz von Mietern oder
den Diskriminierungsschutz von Migranten zu verbessern –, dem bleibt am
Sonntag wenig anderes übrig, als auf die SPD zu setzen. Und zu hoffen, dass
die Große Koalition fortgesetzt wird.
20 Sep 2017
## AUTOREN
Daniel Bax
## TAGS
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