# taz.de -- Aus taz FUTURZWEI: Das Öko-Update | |
> Die alte Erzählung von Fortschritt und Entwicklung ist überholt. Wir | |
> brauchen eine neue Ökonomie für das 21. Jahrhundert. Ein Entwurf. | |
Bild: Unter „Naturkapital“ fällt diese Landschaft wohl nicht mehr | |
Es gibt Zeiten, da lohnt es sich besonders, Grundsatzfragen zu stellen. | |
Fragen wie: Wo stehen wir in Sachen Nachhaltigkeit eigentlich nach einem | |
halben Jahrhundert Ökologiebewegung? Orientieren wir uns inzwischen an den | |
Grenzen des Wachstums? Oder verfahren wir nach wie vor so, als gäbe es die | |
eigentlich gar nicht? Und falls das so wäre: Was müsste sich denn ändern, | |
damit wir endlich erreichen können, was wir uns vorgenommen haben? | |
Es sind in der Regel Krisenzeiten, die Grundsatzfragen aufwerfen. Schon die | |
ganze Agenda der nachhaltigen Entwicklung ist aus der Diagnose einer tiefen | |
Krise entstanden. Das fossile und extraktive Wirtschaftssystem, das sich | |
seit Mitte des 20. Jahrhunderts über den gesamten Globus ausbreitet, droht | |
seine eigene Basis zu zerstören, bevor es überhaupt alle Menschen | |
ausreichend versorgt. | |
Die Frage danach, worum es also künftig gehen müsse, wurde beim Weltgipfel | |
Umwelt und Entwicklung 1992 ziemlich klar beantwortet: die Bedürfnisse der | |
heutigen Generationen zu befriedigen, ohne die Grundlagen für die | |
Befriedigung der Bedürfnisse zukünftiger Generationen zu zerstören. Auf die | |
Frage, warum das Wirtschaftsmodell die Erde so zerstört, gab es durchaus | |
diverse Antworten, aber eine hat sich durchgesetzt: weil zu wenig effizient | |
produziert wird und weil die technologischen Möglichkeiten zum | |
Herausschieben der Wachstumsgrenzen nicht schnell genug entwickelt und | |
verbreitet werden. | |
Als Vision wurde daher die berühmte Formel der Integration ausgerufen: | |
Soziale und ökologische Belange seien mit ökonomischen Zielen in Einklang | |
zu bringen. Aber: [1][Die ökonomischen Ziele als solche wurden nicht | |
infrage gestellt.] Fortschreitendes maximales wirtschaftliches Wachstum | |
galt als Voraussetzung für die Armutsbekämpfung, Umverteilung von | |
bestehendem Vermögen als politisch nicht opportun. | |
Außerdem schien das auch gar nicht notwendig, denn die Logik der | |
„Kapitalsubstituierbarkeit“, für die der US-Ökonom Robert Solow 1987 den | |
Nobelpreis der Wirtschaftswissenschaften bekam, besagt, dass die Zerstörung | |
von Naturkapital so lange keine Probleme macht, solange das dadurch | |
erzeugte Humankapital (Menschen und ihre Fähigkeiten), Sozialkapital | |
(funktionierende Institutionen) und produzierte Kapital von gleichem Wert | |
sind. | |
## Entscheidend ist nicht die Zusammensetzung | |
Die Summe ist entscheidend, nicht die Zusammensetzung, und Entwicklung | |
erfolgt, solange die Summe steigt. Bis heute misst die Weltbank | |
Naturkapital nicht in Hektar, Biodiversität, Sauberkeit, sondern in Form | |
der Einnahmen aus ihrer Nutzung. | |
Als die Integrationsformel dann auch noch in einem Drei-Säulen-Modell | |
gefasst wurde, konnte eigentlich alles wie zuvor bleiben. Die | |
Wirtschaftsministerien und Konzerne kümmerten sich um das Wachstum, was | |
dankenswerterweise ja auch durch Effizienzmaßnahmen steigt, und die | |
Sozialministerien und Gewerkschaften verhandelten die Umverteilung der | |
erwirtschafteten Summe, sodass gravierende Missstände korrigiert werden. | |
Die neu entstandenen Umweltorganisationen und NGOs bekamen die weniger | |
dankenswerte Aufgabe, weiter zu beweisen, welche physischen Schäden und | |
Ressourcen nicht substituiert werden können, egal wie viel wir dafür zu | |
bezahlen bereit wären. Zusätzlich versuchten sie, über Bildung und | |
Aufklärung weniger umweltzerstörerische Verhaltensweisen und Produkte zu | |
fördern. Und schließlich fand sich ein kleiner Ausweg noch darin, | |
Schutzgebiete zu definieren und sie damit der Verwertungslogik weitgehend | |
zu entziehen. | |
Ein konsequentes Bezahlen für Umweltverbrauch ist nie erfolgt, weil es | |
schlicht und ergreifend in Konkurrenz zu den beiden länger etablierten | |
ökonomischen und sozialen Zielen steht. Das Bruttoinlandsprodukt braucht | |
steigenden Absatz für weiteres Wachstum und die Umverteilung braucht | |
steigende Profite und Renditen, damit der Inflationsausgleich verhandelt | |
werden kann. | |
## Immer mehr Energie verbraucht | |
Und in ökonomischer Lesart, Muttersprache der einflussreichen Wirtschafts- | |
und Finanzministerien, sind politische Interventionen erst bei | |
Marktversagen angemessen. Das wiederum wird meist erst dann festgestellt, | |
wenn die Schäden als wirtschaftliche Einbußen zu Buche schlagen. | |
Nachdem diese Vision der Integrationsformel für nachhaltige Entwicklung ein | |
Vierteljahrhundert lang die politische Umsetzung angeleitet hat, ist die | |
Bilanz ernüchternd. Von den Umweltzielen wird allein der Ausbau | |
erneuerbarer Energien erreicht, was keineswegs bedeutet, dass die | |
CO2-Emissionen deshalb weiter sinken. Es wird schlicht immer mehr Energie | |
verbraucht. | |
Ähnliches lässt sich für die durchaus eindrucksvollen relativen | |
Effizienzgewinne in der Ressourcennutzung sagen. Pro Produkt oder | |
Dienstleistung verbrauchen wir weniger, aber der Rebound-Effekt sorgt | |
zuverlässig dafür, dass die gesparten Ressourcen dann für andere Produkte | |
verwendet werden. | |
Und selbst das Abschöpfen von Profiten und Renditen für Umverteilung hinkt | |
hinterher. Die Löhne haben sich nicht im Verhältnis zu den | |
Produktivitätsgewinnen entwickelt und die Ungleichheit der | |
Vermögensverteilung wächst in fast allen Ländern, zum Teil rasant. | |
Gleichzeitig steigt die gemessene Lebensqualität mit dem vielen Reichtum | |
nicht weiter an. | |
## Grundsatzfragen nicht gut beantwortet | |
Lebensqualität ist eben genau das, was das Wort ausdrückt: eine Qualität | |
und nicht eine Quantität, abhängig von Faktoren wie Gesundheit, Sicherheit, | |
gelingenden Beziehungen, gesellschaftlicher Teilhabe und relativen wie | |
verlässlichen Einkommen. Sie wird deshalb auch auf Skalen von null bis zehn | |
gemessen und als fluktuierend angenommen. Endlos steigen kann und soll nur | |
das BIP. Das hat es auch getan. Von weltweit 25 Billionen US-Dollar im Jahr | |
1992 auf 75 Billionen Dollar im Jahr 2016. | |
Selbst bei dem starken Bevölkerungswachstum der letzten Jahrzehnte wären | |
das heute gut zehntausend Dollar pro Kopf verglichen mit knapp fünftausend | |
im Jahr 1992. Dennoch leben weiter anderthalb Milliarden Menschen in | |
extremer Armut und die reichsten acht Männer besitzen so viel wie | |
dreieinhalb Milliarden Menschen zusammen. | |
Vier bis fünf Jahrzehnte nach der alarmierenden Diagnose drängt sich also | |
der Gedanke auf, dass wir die Grundsatzfragen nicht gut beantwortet haben. | |
Wenn es um die Abschaffung von Armut und die Befriedigung von Bedürfnissen | |
geht, scheint es nicht auszureichen, mehr Wachstum und bessere Technologien | |
zu verfolgen. | |
Und der Kern der Antwort auf die Frage, warum wir die Erde übernutzen, | |
scheint nicht in Ineffizienz und mangelnder Substitution begrenzter | |
Ressourcen zu liegen. Was wäre, wenn die richtige Antwort unsere falsche | |
und daher alle Effizienzsteigerungen auffressende Vorstellung von | |
Fortschritt ist? Wenn es das ökonomische Ziel selbst ist, das es zu | |
hinterfragen gilt? | |
## Radikal wie Newton, Kant und Smith | |
Das würde eine radikal neue Integrationsformel verlangen. Die drei Säulen | |
sollten wir in das Buch der Großen Irrtümer verbannen und den Nobelpreis an | |
Denker vergeben, deren Ausgangsfrage komplett anders formuliert ist. Nicht | |
die Erhaltung des heute vorgefundenen Wirtschaftssystems gibt vor, wie sich | |
Mensch und Natur dafür „entwickeln“ müssen. | |
Die Frage ist, was hohe Lebensqualität für alle bei niedrigem ökologischen | |
Fußabdruck ausmacht und welche ökonomischen Anreize und Instrumente dafür | |
geeignet erscheinen, dass entsprechende Geschäftsmodelle entstehen und | |
florieren können. Dadurch würde sich auch die Gestaltung von Technologien | |
und ihre Verbreitung fundamental verändern und das Geldsystem wohl stark | |
differenzieren. | |
Weniger als das kann im Anspruch Transforming our World aber nicht stecken, | |
der die 2015 wieder bestärkte [2][Nachhaltigkeitsagenda 2030] mit ihren | |
vertraut klingenden 17 Zielen zusammenfasst. Nicht weniger radikal waren | |
übrigens die Physik von Isaac Newton, die Ökonomie von Adam Smith, die | |
Kooperationsvisionen von David Ricardo und die kantische Philosophie im 17. | |
und 18. Jahrhundert. Sie alle waren angetrieben von einem neuen | |
Menschenbild und einer Utopie von Fortschritt und Gesellschaft, die dem | |
feudalistisch-aristokratischen Status quo explizit widersprach. | |
Traditionelle Ökonomen aber haben ihre Theorien in Naturgesetze von Märkten | |
verwandelt. Damit sie funktionieren, muss die menschliche Evolution mit dem | |
Homo oeconomicus beendet werden. Dabei wird jedem historisch interessierten | |
Menschen klar, dass die Art, wie wir die Welt erklären, Anreize schaffen | |
und Institutionen bauen, sich auch auf die Wahrnehmung, die Orientierungen, | |
Identitäten und Wertvorstellungen der Menschen auswirkt. Dieses Potenzial | |
der Reflexion macht die menschliche Existenz so einzigartig. Und die | |
Zukunft zu einem offenen Projekt. | |
## Die Grenzen des Adaptierens sind erreicht | |
Für die Nachhaltigkeitsagenda ist das eine gute Nachricht. Denn heute sind | |
die Grenzen des Adaptierens definitiv erreicht. Zwar wissen wir nicht, wie | |
die Zukunft aussehen wird, und auch nicht, wie krisenhaft der Umbau wird. | |
Aber wir wissen, dass sich die Kapitalformen eben nicht substituieren | |
lassen und ein kurzfristiger Wachstumszwang soziale und ökologische Kosten | |
externalisiert und nicht integriert. | |
Wir brauchen eine neue Utopie und Ökonomie für das 21. Jahrhundert, die das | |
Verhältnis zwischen sieben bis zehn Milliarden Menschen und ihrer | |
inzwischen von der Ökologie und Erdsystemwissenschaft gut verstandenen | |
Umwelt in neue Bahnen lenkt. Drei Aspekte scheinen besonders relevant, wenn | |
wir die Grundsatzfragen auf einer tieferen Ebene beantworten wollen. | |
1. Unsere Architektur der Aufmerksamkeit de-ökonomisieren und Klarsicht | |
schaffen. Wachsende Geldwerte können nicht weiter als Äquivalent für | |
positive Entwicklung und erfolgreiches Leben stehen. Wertschöpfungist viel | |
mehr als das, und die Frage der Zukunft lautet: welche Werte wollen wir | |
erhalten, welche zukünftig schöpfen, wie Lebenschancen verteilen? Und | |
welche Indikatorik und welche ökonomischen Konzepte drücken das aus? Bisher | |
scheiterten alle größer angelegten Projekte zur differenzierten Messung von | |
Wohlstand, Wachstum und Lebensqualität – warum? | |
2. Die Entwicklungsnarrative dem menschlichen Potenzial anpassen und | |
Freiheit erhalten. Menschen haben genauso viel Potenzial zum Egoismus wie | |
zum Teilen, werden jedoch in der Homo-oeconomicus-Kultur einseitig | |
trainiert. Lebensqualität und sozialer Zusammenhalt leiden unter zu viel | |
Konkurrenzdruck und unersättlichen Erfolgsdefinitionen. Die Frage der | |
Zukunft lautet: Wie können Bildung, Karrierewege und Marktstrukturen einem | |
Homo vitalis Chancengleichheit einräumen? Bisher ist eine Vision des Genug | |
oder der Suffizienz kulturell nicht erwünscht oder scheint strukturell | |
nicht möglich – warum? | |
3. Ökonomische und technologische Lösungen mit Natur und Mensch | |
rückkoppeln. Die Vision, das BIP-Wachstum vom Umweltverbrauch zu | |
entkoppeln, belässt die strategische Aufmerksamkeit weiter auf dem Mittel, | |
anstatt sie auf den Zweck zu lenken. Systemische Innovationen denken | |
soziale, ökologische, kulturelle, ökonomische, technische und politische | |
Entwicklungen in ihrer Interaktion zusammen, womit die Frage der Zukunft | |
lautet: Wie können ökonomische, politische und technologische Lösungen mit | |
menschlichen Bedürfnissen und Naturgesetzen gekoppelt werden, und welche | |
Anreize und Koordinationstechniken ermöglichen das? | |
Utopien sind keine Blaupausen. Sie beschreiben Möglichkeitsräume. Sie | |
versprechen nicht, dass die Zukunft bringen wird, was sie skizzieren. Für | |
ihre Umsetzung braucht es saubere Wissenschaft und gelingende Kooperation. | |
Doch ohne den Mut, sich schließende Möglichkeitsräume konsequent zu | |
verlassen, können sich neue schlecht entfalten. | |
Daher lautet der Appell, eine vergangene Erzählung von Fortschritt und | |
Entwicklung abzuwickeln und ökonomische Strukturzwänge als sozio-politische | |
Aushandlungsprozesse zu definieren. Dann können wir Zukunft auch nachhaltig | |
gestalten. | |
13 Jun 2018 | |
## LINKS | |
[1] /Weltwirtschaftskrise/!5168015 | |
[2] http://www.bmz.de/de/ministerium/ziele/2030_agenda/index.html | |
## AUTOREN | |
Maja Göpel | |
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