# taz.de -- Aus taz FUTURZWEI: Algen sind mein Gemüse | |
> Sie kommt aus dem Meer, sie ist gesund und sie ist sehr lecker: Die Alge | |
> ist die Nutzpflanze der sozialökologischen Wende, das einzig wahre | |
> Superfood. | |
Bild: Grün und lecker: Algen, hier Wakame, gehört die Zukunft | |
Ich möchte mich nicht lange aufhalten, um zu erklären, warum Mais die | |
Pflanze des agroindustriellen Zeitalters ist. Über eine Milliarde Tonnen | |
davon werden jährlich geerntet, das sind mehr als bei Weizen und Reis. Mais | |
ist das Symbol für die Monokultivierung der Äcker, er ist die | |
Begleitpflanze der industriellen Tierhaltung und das Lieblingsgewächs der | |
Gentechnik. | |
Zucker und Stärke lassen sich aus ihm gewinnen – und industriell zu einer | |
Vielfalt von Zutaten verarbeiten, vor allem zu solchen, die der | |
Fast-Food-Sektor braucht. Chicken-Nuggets könnten genauso gut Corn-Nuggets | |
heißen, so viele Mais-Derivate sind in ihnen enthalten. Zu schlechterletzt | |
ist Mais auch noch Symbol für das Wachstumsdenken. Keine Nutzpflanze hat | |
eine so kurze Wachstumsphase und dabei einen so hohen Ertrag. Hierzulande | |
beklagen viele Menschen eine „Vermaisung der Landschaft“, die Kritik greift | |
aber zu kurz, es gibt eine Vermaisung von Denken und Bewusstsein. | |
Was, frage ich mich, könnte die Pflanze der sozialökologischen Wende sein? | |
Der Mais ist es sicher nicht, er bekommt inzwischen lediglich ein Greening | |
verpasst, als Rohstoff für Biodiesel oder kompostierbare Plastiktüten. | |
Neulich schrieb mir ein befreundeter Food-Redakteur aus den USA und fragte, | |
wie es in denn mit Algen in Deutschland aussehe? Naja, geht so, antwortete | |
ich sinngemäß. Algen werden in Restaurants in Deutschland durchaus | |
verwendet, also vor allem bei den Asiaten. Aber in den Küchenschränken | |
seien sie noch selten. | |
## Ein reichhaltiger Garten | |
Ein paar Tage später schrieb ich eilends eine E-Mail, um mich zu | |
korrigieren. Ich war bei der Suche nach einem Glas eingelegter Artischocken | |
in meiner Vorratshaltung auf fünf verschiedene Algen gestoßen – mehr als | |
sich gerade an Nudelsorten in den Schränken fanden. | |
Da lagen auf dem Tisch dicke schwarzgrüne Kombu-Platten – man gibt sie in | |
Brühe. Dann Wakame, die eingeweicht in viele Salate passen, dünne | |
Nori-Blätter, mit denen sich viel mehr machen lässt, als nur Sushi darin | |
einzuwickeln, außerdem frittierte Algen-Brösel, die ich über Nudel- oder | |
Reisgerichte streue und sogar Dulse. Das sind Rotalgen, die man wie | |
Blattgemüse einsetzen soll. Ich hatte nur die Packung bisher noch nicht | |
aufgemacht. | |
So viele unterschiedliche getrocknete Meerespflanzen. Über ein halbes Jahr | |
hatten sie sich eingeschlichen, ohne dass mir bewusst geworden wäre, was | |
für ein reichhaltiger Garten da schon meine Küche befruchtet. Ich kam ins | |
Nachdenken. Denn normalerweise bin ich allergisch auf alles, was heutzutage | |
Superfood genannt wird. Und Algen gehören dazu. | |
Wer sich so erfolgreich in meinen Küchenschränken niederlassen kann, hat | |
meinen höchsten Respekt verdient. Nicht nur deshalb, auch nach einiger | |
Recherche, glaube ich mit großer Wahrscheinlichkeit sagen zu können, es | |
wird die Veralgung des Denkens sein, die die allgemeine Vermaisung im Kopf | |
ablösen wird und auch muss. | |
## Die Menschheit wächst, die Landfläche nicht | |
Nicht lachen, das ist mein voller Ernst. Ausschlaggebend ist: Mit Algen | |
verschiebt sich die Perspektive. Denn die Menschheit wächst, das Land aber | |
wird nicht mehr, im Gegenteil. Gut also, dass das Zeug aus dem Meer kommt. | |
Ein völlig neues Terrain für die Agrarwirtschaft. Eine Umgebung, die | |
bislang vollkommen unbeackert ist, in die sich aber auch nicht so einfach | |
mit Mähdreschern hineinfahren lässt. | |
Es gibt Schätzungen, dass nur zwei Prozent der Meeresfläche ausreichen | |
könnten, um zehn Milliarden Menschen zu ernähren. Denn Algen wachsen zehn- | |
bis dreißigmal schneller als Landpflanzen. Sie binden dabei eine ungeheure | |
Menge an CO2, ungefähr die gleiche Menge wie von Landpflanzen gebunden | |
wird. Deshalb gab es schon die monströse Idee, die Ozeane zu düngen und zu | |
riesigen Klimagasspeichern umzubauen. So kann nur denken, wer zum Leben | |
eine Scholle unter den Füßen braucht. | |
Was Algen von dem anderen Gemüse unterscheidet, was uns gerade als | |
besonders schmackhaft und gesund angepriesen wird: Es gibt eine große | |
Vielfalt davon. Das Sortiment in meinem Küchenschrank ist nur ein kleines | |
Abbild davon. Es gibt Mikroalgen, die getrocknet als Pulver verkauft werden | |
und sich Menschen dann in ihre Smoothies rühren oder als Eiersatz in ihre | |
Kuchen. Oder Makroalgen, die wie Gemüse zubereitet werden. | |
## Das Lieblingsgewächs der Biotechnologie | |
Und darüber hinaus gibt es Pflanzen, die gar nicht so sehr für die | |
Ernährung interessant sind. Wenn man sich ein bisschen umschaut, kann man | |
sagen, Algen sind inzwischen zum Lieblingsgewächs der Biotechnologie | |
geworden. Ob neuartige Treibstoffe, Biokunststoffe, Energiegewinnung in | |
Biosolarreaktoren oder neue Arzneimittel – in vielen Forschungsbereichen | |
wird mit Algen experimentiert. | |
Überall entstehen schon Algenfarmen, in Deutschland sind es noch sehr | |
wenige. Man nutzt das Meer gar nicht dafür, es reichen ein paar große | |
Wassertanks. Das ist für mich der Grund, warum es höchste Zeit ist, | |
aquatischer zu denken. Weil die Wasserpflanzen viele Schwermetalle | |
aufnehmen, haben die aus dem Meer oft einen viel zu hohen Gehalt von | |
Quecksilber, Kadmium, Arsen oder Blei. | |
Das Grünzeug wird zwar nicht alle Weltprobleme lösen helfen, aber wenn es | |
ein Grünzeug gäbe, das ich mir wünschen dürfte, dann Algen. Das hat | |
Geschmacksgründe. Das Zeug ist nämlich wirklich lecker. | |
Warum, hat ein japanischer Chemiker vor über hundert Jahren herausgefunden, | |
der sich mit Algen beschäftigte. Ikeda Kikunae entdeckte einen weiteren | |
menschlichen Geschmackssinn: auf Japanisch Umami, auf Deutsch herzhaft. | |
Verantwortlich dafür ist Glutaminsäure, gegen die so viele Menschen in | |
ihrer künstlichen Form, nämlich als Mononatriumglutamat, Vorbehalte haben. | |
Aber sie kommt auch in natürlicher Form vor, in Tomaten, Pilzen, Käse – | |
oder eben in Algen. | |
3 Jul 2018 | |
## AUTOREN | |
Jörn Kabisch | |
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