| # taz.de -- Aus taz FUTURZWEI: Was der Dreijährige weiß | |
| > Abstraktion kann helfen, Zusammenhänge zu begreifen. Aber sie darf nie | |
| > der einzige Blick auf die Gesellschaft sein. Ein Plädoyer für | |
| > Menschlichkeit. | |
| Bild: Wir müssen die Menschen sehen, nicht die Zahlen | |
| Mein Sohn streckt sich nach oben – hoch zu Baba – und zeigt stolz seinen | |
| neuen blauen Sticker. „Safe the Passage“ steht darauf. Den hatte er am Tag | |
| zuvor geschenkt bekommen, als wir die Hamburger Mahnwache für die Seebrücke | |
| besucht hatten. Vor Ort hatten wir uns die Bilder von Schlauchbooten | |
| angeschaut und ich hatte versucht, ihm zu erklären, weshalb sich Menschen | |
| hier versammelt hatten und wofür sie protestierten. | |
| Nun setzt mein Sohn an und erklärt seinem Baba, was es mit dem Sticker auf | |
| sich hat. Überrascht blicke ich auf, als ich seine Worte höre. „Wenn die | |
| Menschen ins Wasser fallen, dann müssen wir helfen. Sonst sterben sie“, | |
| sagt er. Und fügt hinzu: „Die Feuerwehr muss kommen.“ Er ist drei Jahre | |
| alt. | |
| Keines der Worte, die mein Sohn sprach, hatte ich am Vortag so formuliert. | |
| Verklausuliert und beschämt hatte ich versucht, ihm etwas Unerklärliches | |
| verständlich zu machen. Und nun sprach er in einer Klarheit, | |
| Selbstverständlichkeit und mit einem Selbstbewusstsein, die mir vor Augen | |
| führten, wie verroht unsere Gesellschaft inzwischen ist. | |
| Anscheinend verklärt sich unser Blick mit den Jahren. Wir sind da, hier, | |
| auf dieser Welt und aber auch irgendwie nicht da. In einer Art Trance. Wir | |
| schaffen es, Menschen und Menschengruppen derart zu abstrahieren durch | |
| Bilder, Szenarien und Zahlen, dass wir in ihnen keine Menschen mehr | |
| erkennen können. Wir blicken, aber wir sehen nicht mehr. | |
| ## 69 Abschiebungen am 69. Geburtstag | |
| Vielleicht ist es das, was in unserer Gesellschaft zwischen 3 und 69 Jahren | |
| passiert, sodass ein Minister es in diesem Sommer fertigbringt, zum | |
| Abschluss seines 69. Lebensjahrs [1][freudig und vergnügt der | |
| Öffentlichkeit mitzuteilen], dass exakt 69 Menschen raus aus Deutschland, | |
| hinein in eine Krisenregion abgeschoben worden seien. Ohne Ironie. | |
| Lächelnd. | |
| Unsere Schulen und Universitäten sind Orte, an denen junge Menschen | |
| Pluralität nicht als abstraktes Szenario, sondern als gelebte Realität | |
| erleben. Es sind keineswegs Orte, die frei wären von Rassismus oder | |
| Antisemitismus, aber Orte mit Hürden, die sich einer Abstraktion in den Weg | |
| stellen: mit den zu abstrahierenden Menschen selbst. | |
| So erzählte mir eine Freundin kürzlich von ihrer Schulzeit in den | |
| Achtzigern in Norddeutschland. Davon, dass der Sohn eines stadtbekannten | |
| Nazis in ihrer Schulklasse war. Eines Tages stand er mit seiner Clique am | |
| Tor der Schule und teilte die Schüler auf – „Ausländer“ nach links und | |
| „Deutsche“ nach rechts. Als meine Freundin vor ihm stand, damals noch ein | |
| kleines schmächtiges schwarzes Mädchen, schickte er sie nach rechts, zu den | |
| Deutschen. | |
| „Warum hast du mich nicht nach links, zu den Ausländern, geschickt“, fragte | |
| sie ihn am nächsten Morgen in der Klasse und zeigte auf ihre Haut – so als | |
| müsste sie ihn daran erinnern. „Ach“, sagte er und winkte ab, „dich kenn | |
| ich doch.“ | |
| ## Wen man kennt, kann man nicht abstrahieren | |
| Er kann sie nicht abstrahieren. Denn er sieht sie, jeden Tag, auf der | |
| gleichen Schulbank. Jeden Tag ist er gezwungen, ihr auf Augenhöhe zu | |
| begegnen. Und irgendwann kann er sie nicht mehr abstrahieren. Er kann, wenn | |
| er zu ihr blickt, sie nicht mehr nicht sehen. | |
| Deshalb überrascht es nicht, dass junge Menschen in Deutschland tendenziell | |
| toleranter und offener sind als Ältere. Das zeigt auch [2][die Studie | |
| Deutschland postmigrantisch II] des Berliner Instituts für empirische | |
| Integrations- und Migrationsforschung von 2015. Die Studie verzeichnet eine | |
| größere Offenheit im Umgang mit Pluralität unter Jugendlichen und ein | |
| offeneres Verständnis vom Deutschsein. Die Studie zeigt nämlich auch: Sie | |
| bauen personalisiertes Wissen auf, so beziehen sie beispielsweise ihr | |
| Wissen über Muslime mehrheitlich durch den direkten Kontakt statt über die | |
| Medien. | |
| Es ist kein abstraktes Wissen, das sie über irgendwelche abstrakten | |
| Menschengruppen besitzen, sondern konkretes Wissen über Menschen. | |
| Und doch frage ich mich immer wieder: Die Pluralität in deutschen | |
| Klassenzimmern ist nicht neu, sie besteht seit Jahrzehnten – wenn auch | |
| nicht überall, wie in Stadt und Land, in reichen und benachteiligten | |
| Vierteln gleichermaßen. Es sollte uns, also jenen, die durch diese Schulen | |
| und Universitäten gehen, doch irgendwann gelingen, unsere erlebte Realität | |
| in die Welt außerhalb dieser Mauern zu übertragen. | |
| Stattdessen nehmen wir mit einigen Jahren Abstand nahezu widerstandslos | |
| hin, dass unsere Gleichwertigkeit, die Existenz von Menschengruppen infrage | |
| gestellt wird. Klar, wer sich korrumpieren lässt, kann ganz früh ganz groß | |
| Karriere machen – Gesundheitsminister werden oder gar Kanzler. | |
| ## Die letzten Orte der Pluralität | |
| Mich wundert es, wie leichtfertig wir diese gelebten | |
| Selbstverständlichkeiten aufgeben. Kann es wirklich sein, dass Schulen und | |
| Universitäten die letzten Orte sind, an denen wir unser Leben an unseren | |
| Idealen messen dürfen? Die letzten Orte, an denen viele Menschen in dieser | |
| Gesellschaft Pluralität noch als Realität erleben – bevor sie sich in ihre | |
| homogeneren Gruppen zurückziehen? | |
| Und dann auf in eine Gesellschaft, in der sich die Helfenden verteidigen | |
| müssen – und nicht jene, die ihre Hilfe verweigern. Auf auf, in eine | |
| Gesellschaft, in der es als kindlich, naiv und realitätsfern gilt, | |
| menschlich zu handeln. | |
| Mich ärgert nicht, dass Rechtspopulisten Helfende, Engagierte in der | |
| Geflüchtetenhilfe oder linke, grüne Aktivisten als „links-grün versiffte | |
| Gutmenschen“ bezeichnen. Mich ärgert die Verunsicherung der Menschen aus | |
| dem links-grünen Spektrum angesichts dieser Bezeichnung. | |
| Ihre übertriebene Härte und Kälte, mit der sie das ihnen vorgeworfene | |
| Gutmenschentum kompensieren möchten, geboren aus der Angst, man könnte | |
| ihnen noch einmal Naivität oder Realitätsferne vorwerfen. Der Verlust der | |
| Selbstverständlichkeit macht mich wütend. Der Drang nach Konformität, die | |
| Sehnsucht, denen zu gefallen, deren Gunst einzig durch Selbstaufgabe zu | |
| erreichen sein wird. Wie sie entnervt mit den Augen rollen, wenn jemand es | |
| wagt, über Werte, Moral und Ethik zu sprechen. | |
| ## Wehe, es könnte Mitgefühl aufkommen | |
| Nein nein, wir dürfen nicht über einzelne Menschen, Individuen menschlich | |
| diskutieren. Nur über abstrakte Konstrukte. Über Zahlen. Und Grenzen. Aber | |
| niemals, unter keinen Umständen, konkret werden. Es könnte, wehe wehe, es | |
| könnte Mitgefühl aufkommen. | |
| Der abstrakte Blick kann uns helfen, Zusammenhänge zu begreifen, | |
| vorausschauend zu denken, einzuordnen, zu verstehen. Aber er darf niemals | |
| unser einziger Blick auf die Gesellschaft werden. Er muss ergänzt werden – | |
| durch den menschlichen Blick. | |
| Sonst werden wir irgendwann einmal zu Menschen, die eine Zahl sehen und | |
| denken: „Oh krass, wie lustig. So alt bin ja auch ich. 69. Hey, schaut mal | |
| alle her. Ihr werdet es nicht glauben!“ | |
| 11 Sep 2018 | |
| ## LINKS | |
| [1] /!5517643/ | |
| [2] https://www.projekte.hu-berlin.de/de/junited/deutschland-postmigrantisch-2 | |
| ## AUTOREN | |
| Kübra Gümüsay | |
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