| # taz.de -- Aus taz FUTURZWEI: Es vibriert in Deutschland | |
| > Wenn Politik jungen Leuten die Perspektiven blockiert, dann wird es | |
| > gefährlich. Die Frage ist, wer diese Vibrationen zu verstärken weiß. | |
| Bild: Die Generationen reden aneinander vorbei: die damalige SPD-Umweltminister… | |
| Es liegt was in der Luft. Man weiß nur nicht, was es ist. | |
| Die Wirklichkeit hat gerade etwas Irreales, mit ihrer somnambulen Politik, | |
| mit Parteiführungen, die sich habituell vom ZK der SED im Endstadium nicht | |
| mehr unterscheiden, mit Rechten, die Geländegewinne ausgerechnet in Zeiten | |
| von Hochkonjunktur verzeichnen, mit Linken, die in Teilen in ihrer | |
| identitätspolitischen Hyperkorrektheit nur noch als stalinistisch | |
| bezeichnet werden können – jedenfalls dort, wo Gedichte überpinselt und | |
| Menschen aus Filmen geschnitten werden. | |
| Und irgendwo dazwischen findet sich die verwirrte und defensive | |
| Anhängerschaft der liberalen Demokratie und der offenen Gesellschaft, die | |
| sich gewiss weder durch einen Innenminister Seehofer noch durch die | |
| Neurechten noch durch die Neulinken repräsentiert sieht und auf seltsame | |
| Weise sprachlos geworden ist. | |
| So sehen wahrscheinlich Umbruchzeiten aus. Ohne Leitbild dümpeln die | |
| Bewohnerinnen und Bewohner des real existierenden Kapitalismus zwischen der | |
| Reklame der Digitalwirtschaft, den hypochondrischen Ängsten vor | |
| Globalisierung und Zuwanderung, der Dummdreistigkeit sogenannter | |
| Entscheidungsträger sogenannter Schlüsselindustrien sowie der dumpfen | |
| Befürchtung vor sich hin, dass der Westen womöglich die besten Zeiten | |
| hinter sich hat. | |
| ## Die Diktatur reiner Gegenwärtigkeit | |
| Keine Zukunft, nirgends? Wenn Klimapolitik vom Symbolischen ins | |
| Nebensächliche abgedrängt ist, Ökologie nicht mehr auf der Tagesordnung | |
| steht und Entwicklungspolitik wieder völlig sach- und fachfremd | |
| verantwortet wird, weiß eine junge Generation, dass sie unter der Diktatur | |
| reiner Gegenwärtigkeit aufzuwachsen hat. | |
| Es birgt, wie Norbert Elias vor langer Zeit in seinen Studien über die | |
| Deutschen beschrieben hat, ungeheuren gesellschaftlichen Sprengstoff, wenn | |
| Gesellschaften ihrer nachrückenden Generation die Perspektive blockieren, | |
| auch noch ein gutes, selbst gestaltetes Leben leben zu dürfen. Symptome für | |
| dieses Gefühl, Zukünftigkeit nicht mehr in ausreichendem Maß zu haben, | |
| zeigen sich etwa im Kampf der Jusos gegen die mumifizierte Führung der SPD, | |
| in repolitisierten Fernsehformaten wie Neo Magazin Royale oder Quer, in all | |
| den Blogs und Plattformen, die sich für anderes Wirtschaften, andere | |
| Politik, einen anderen Alltag engagieren, aber auch dort, wo das reine | |
| Ressentiment parteiförmig und wirkmächtig geworden ist. | |
| Das ist ja das Schlimmste: nicht, dass eine Partei wie die AfD im Bundestag | |
| sitzt. Sondern dass ihr mit der Politik der Angst und der Ausgrenzung ein | |
| Agenda-Setting gelungen ist, das in der Zuwanderungspolitik der nächsten | |
| Bundesregierung ihr getreues Abbild gefunden hat. | |
| Und der stärkste Beleg für diesen Erfolg ist, dass es inzwischen zum | |
| durchschnittlichen Überzeugungsinventar zählt, dass Merkels | |
| Flüchtlingspolitik ein schwerer Fehler war, dass man zu viel über das | |
| Klima, aber zu wenig über die Abgehängten gesprochen habe, dass „Heimat“ | |
| und die Vermittlung damit verbundener Gefühle ein Zentralinhalt von Politik | |
| sei,. Und dass ein sachgerechter Umgang mit Flüchtlingen und Zuwanderern | |
| darin bestehe, sie in Lager in Afrika oder auf dem Grund des Mittelmeers zu | |
| entsorgen. | |
| Ich glaube, dass ein wesentlicher Grund für die wachsende künstliche | |
| Dummheit gegenüber den wirklichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts | |
| darin besteht, dass sich niemand die Mühe gemacht hat, das zivilisatorische | |
| Projekt der Moderne weiterzudenken und weiterzubauen. Es ist klar, dass mit | |
| „zivilisatorischem Projekt“ nicht die Herstellung von materiellem Überfluss | |
| gemeint ist, sondern die immateriellen Güter: Freiheit, Sicherheit, Recht, | |
| Institutionen der Bildung, Gesundheit, Versorgung. | |
| ## Den materiellen Stoffumsatz verändern | |
| Wenn wir das alles erhalten und mit Zukunft versehen wollen, dann müssen | |
| wir unser Naturverhältnis, also unseren materiellen Stoffumsatz verändern. | |
| Das allerdings wäre ein radikales Modernisierungsprojekt, die | |
| Wiedereinführung von Zukunft in die Politik. | |
| Die neue Bundesregierung hat einen Koalitionsvertrag ausgehandelt, der ohne | |
| jede Rechenschaft gegenüber den naturalen Bedingungen unserer | |
| wirtschaftlichen Existenz auskommt – und zwar der gegenwärtigen wie der | |
| künftigen. Die Zukunft von heute ist nicht mehr: weniger Ungleichheit, mehr | |
| Humanität, gerechtere Verteilung, ein befriedetes Naturverhältnis. Sie ist: | |
| eine Konsumhölle im globalen Maßstab. | |
| Die Welt soll bald überall genauso aussehen wie Oberhausen. Dass dieses | |
| Zukunftsbild nicht fürs 21. Jahrhundert taugt, ist klar, es wird gleichwohl | |
| mit aller Macht aufrechterhalten und durchgesetzt. | |
| Dass das nicht gut gehen kann, erzeugt das diffuse, aber drängende | |
| Grundgefühl. Das ist es, was in der Luft liegt. Je neurotischer die Politik | |
| an den Rezepten des 19. (SPD) und 20. Jahrhunderts (CDU) festhält, desto | |
| klarer wird, warum es gegenwärtig vibriert im mentalen Haushalt der | |
| Republik. | |
| Unklar allerdings bleibt, wer am Ende den politischen Resonanzkörper für | |
| diese Vibrationen bauen kann. Die Grüne im Modus ihrer ökosozialen | |
| Neuerfindung? Eine neue Partei? Wer also werden die 2018er gewesen sein? | |
| Noch ist Zeit, die Antwort auf diese Frage mit zu gestalten. | |
| 2 Apr 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Harald Welzer | |
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