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# taz.de -- Grüner zu veränderten Zielen der Partei: „Eine neue Radikalitä…
> Das Grundsatzprogramm der Grünen ist 16 Jahre alt – ein neues soll her.
> Bundesgeschäftsführer Michael Kellner über gezähmten Kapitalismus und
> radikale Umweltziele.
Bild: Die Grünen müssen sich neu definieren: Abstimmung beim Parteitag
taz: Herr Kellner, Ihr Parteichef Robert Habeck sagt, [1][man dürfe den
Begriff „Heimat“ nicht den Rechten überlassen]. Hat er recht?
Michael Kellner: Rechte missbrauchen Heimat als politischen Kampfbegriff
für ihre völkische Ideologie. Trotzdem sollten sich Linke nicht über
Heimatverbundenheit lustig machen. Damit verbinden die meisten Menschen ja
etwas Schönes – ihre Familie, ihre Stadt, ihren Fußballverein, den Bäcker
an der Ecke. Für mich hat Heimat mit Kindheitserinnerungen und Nostalgie zu
tun.
Mich stört an der Debatte ihre Unbestimmtheit. Jeder versteht etwas anderes
unter Heimat. Daraus lässt sich keine politische Richtung ableiten, oder?
Genau das ist das Problem mit solchen Containerbegriffen. Heimat, Freiheit,
solche Worte können sehr unterschiedlich besetzt werden. Eine FDPlerin
meint eine andere Freiheit als ich. Und ein AfDler findet eine Heimat gut,
vor der mir grausen würde – irgendwas mit weißen, deutschen Nachbarn,
Anti-Islam-Gejohle und Mutti hat das Bier zu bringen.
Heimat einfach gut finden, was die Grünen gerade tun, ist also kein
politisches Konzept?
Heimat funktioniert zumindest nicht als Leitmotiv für unser Programm. Wir
Grüne geben uns in den kommenden Jahren ein neues Grundsatzprogramm. Wir
beginnen im April auf einem Konvent mit der Debatte. Was bedeutet die
Digitalisierung für die Gesellschaft? Wie funktioniert Ökologie in einer
von Menschen gemachten Umwelt? Um solche Fragen zu klammern, würde ich mit
anderen Begriffen arbeiten. Wichtiger für mich ist, den Begriff
„Solidarität“ zu entstauben – und grün durchzubuchstabieren.
Warum?
Heimat ist etwas Beschreibendes, Solidarität ist aktiv. Man muss rausgehen
und etwas dafür tun. Wir leben in einer auseinanderfallenden Gesellschaft,
die Risse werden überall sichtbar. Ich sehe die Notwendigkeit, Zusammenhalt
zu beschreiben und politisch einzufordern. Wir brauchen Solidarität
zwischen Reichen und Armen, zwischen Stadt und Land, zwischen Mann und
Frau.
Ist Solidarität als Narrativ nicht arg abgedroschen? Das klingt nach
Internationale und lahmer Gewerkschaftsrhetorik.
Deshalb sage ich ja ganz bewusst „entstauben“. Denn der Begriff beschreibt
etwas sehr Wichtiges, nämlich, dass uns unser Umfeld etwas angeht. Es geht
uns auch etwas an, wie es anderen geht. In heutigen Zeiten heißt
Solidarität für mich zum Beispiel, aktiv Ungleichheit abzubauen. Das ist
sehr modern. Und es brennt ja vielen unter den Nägeln, wenn wir die Debatte
über Armut und die Zukunft von Hartz IV nehmen. Im Grünen-Programm fristete
der Gedanke der Solidarität bisher aber eher ein Schattendasein.
Wie wollen Sie Solidarität in konkrete Konzepte gießen?
Wir haben gute Vorarbeit geleistet, wie sich Hartz IV überwinden lässt: Wir
werben seit Langem für eine sanktionsfreie Grundsicherung und haben ein
detailliertes Konzept für eine Kindergrundsicherung und Garantierente.
Daran können wir anknüpfen. Wir sind in einer Phase, in der die neuen
Zeiten neue Antworten verlangen. Wir brauchen offene Debatten. Wir fragen,
diskutieren, spitzen zu – denn alles, was im Grundsatzprogramm steht, muss
sich natürlich in konkrete Politik übersetzen lassen. Das ist der Anspruch.
Das alte Grundsatzprogramm haben die Grünen 2002 beschlossen. Damals haben
Sie regiert, es war eine andere Zeit. Wo sind die wichtigsten Lücken in dem
Programm?
Ökonomische Macht konzentriert sich immer stärker auf wenige Unternehmen.
Wir leben heute in einem primitiven, digitalen Kapitalismus, der unsere
Demokratie bedroht. Die Datenmacht von Facebook ist Stoff für Manipulation.
Viele Menschen haben deshalb Ohnmachtsgefühle. Wir stehen vor der Aufgabe,
politische Macht besser zu organisieren als das Kapital.
Dann die Digitalisierung, die jede Nische unseres Lebens durchdringt: Sie
erfordert ganz neue Antworten. Und nicht zuletzt die Zukunft der
Europäischen Union. 2002, als das alte Programm beschlossen wurde, standen
wir kurz vor der Osterweiterung der EU und haben uns darauf gefreut. Heute
haben wir den Brexit und beobachten, wie die Rechtsstaatlichkeit in Staaten
wie Polen oder Ungarn unterlaufen wird.
Sie wollen den Kapitalismus zähmen? Vor Kurzem wollten die Grünen noch die
neue Wirtschaftspartei sein.
Das ist kein Widerspruch. Es geht uns darum, sich mit großen Playern
anzulegen. Der Staat ist nicht machtlos. Er kann gegen Facebook wegen
Datenschutzverstößen hohe Strafgelder verhängen. Es gibt keinen Grund,
[2][die Fusion von Bayer und Monsanto] zu genehmigen. Und der
Diesel-Skandal würde anders laufen, wenn Verbraucher ihre Rechte einklagen
könnten. Das sind riesige Aufgaben. Gute Politik muss sie angehen. Der
Vertrauensverlust in Parteien hat viel mit dieser Ohnmacht zu tun.
Der Markenkern der Grünen ist die Ökologie. Wie muss dieses Thema neu
umrissen werden?
Ökologische Fragen spitzen sich mit wahnsinniger Radikalität zu. Die
Klimakrise und das Artensterben beschleunigen sich in einer Weise, wie wir
es 2002 noch nicht ahnen konnten. Diese Trends machen eine neue Radikalität
notwendig. Zumal die anderen Parteien die ökologische Frage ignorieren oder
als Luxusthema diffamieren.
Der Fokus der Medien liegt auf der Koalition, AfD und Linke sind lauter als
die Grünen. Haben Sie eigentlich manchmal Angst, unsichtbar zu werden?
Moment. Uns ist Anfang des Jahres mit der Wahl der beiden neuen
Parteivorsitzenden ein gut gelaunter Aufbruch gelungen. Aber in der Tat
werden wir den Wettbewerb „Wer ist der größte Lautsprecher?“ gegen AfD und
Linke nicht gewinnen. Unser Job ist es, die klügeren Konzepte zu haben.
Deshalb ist das Grundsatzprogramm so wichtig für uns. Es kann wie
Sauerstoff für die Partei wirken – und die Grünen nach außen interessant
machen.
3 Apr 2018
## LINKS
[1] /Gruener-Twitterstreit-um-Heimat/!5450756
[2] /Kommentar-Monsanto-Uebernahme/!5491901
## AUTOREN
Ulrich Schulte
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