# taz.de -- Ökonom über Verteilungsgerechtigkeit: „Zunehmende Schieflage“ | |
> Der neue Wirtschaftsweise Achim Truger kritisiert, dass die Steuerpolitik | |
> die Einkommensungleichheit verstärkt habe. Außerdem lehnt er die | |
> Abschaffung des Soli ab. | |
Bild: „Ich sicher auf der linken Seite, wenn es um Wohlstand für alle geht.�… | |
taz: Herr Truger, Sie sind neues Mitglied im Sachverständigenrat für | |
Wirtschaftsfragen, und schon im Vorfeld haben zwei Ihrer KollegInnen im | |
Gremium Ihre Qualifikation über Twitter angezweifelt. Sie stellten in | |
Frage, ob Sie genug in „angesehenen internationalen Fachzeitschriften“ | |
veröffentlicht hätten. [1][Wie war denn so die Stimmung] auf der ersten | |
gemeinsamen Sitzung? | |
Achim Truger: Ich lasse mich davon nicht beeinträchtigen und blicke in die | |
Zukunft. Die Äußerungen haben sich auch nicht wiederholt. Ich fühle mich im | |
Sachverständigenrat tatsächlich freundlich aufgenommen, damit ist die Sache | |
für mich erledigt. | |
Der VWL-Professor [2][Justus Haucap] hat Ihre Berufung in der „FAZ“ so | |
eingeschätzt: Es wäre so, als wenn der Fußball-Bundestrainer den Kapitän | |
des Zweitligisten MSV Duisburg berufen würde. Sind das die Blutgrätschen | |
unter Volkswirten? | |
Es ist nicht richtig, dass Herr Haucap so auf den Traditionsverein aus | |
Duisburg herabblickt. Aber er stellt sich auch als Fan des FC St. Pauli | |
dar. Das macht ihn dann wieder total sympathisch. | |
Was wollen Sie in den Sachverständigenrat einbringen? | |
Mir kommt es darauf an zu betonen, dass die moderne Volkswirtschaftslehre | |
wirtschaftspolitisch nicht festgelegt ist. Es geht ja nicht um die | |
Entscheidung zwischen sozialistischer Revolution oder unbeschränktem | |
Kapitalismus. Trotzdem ist das Spektrum groß: Ist bei einer Krise | |
staatliches Gegensteuern nötig oder macht der Markt das von allein? | |
Ich sehe die Aufgabe im Gremium nicht darin, detaillierte spezielle | |
Empfehlungen auszusprechen, sondern verschiedene Annahmen zu diskutieren | |
und durchzuspielen, um der Politik verschiedene Optionen anzubieten. | |
Wirtschaftswissenschaft ist keine Naturwissenschaft, das Spektrum kann bunt | |
ausfallen. | |
Sie sind erklärter Keynesianer und stehen der heterodoxen Ökonomie nahe. | |
Was ist denn das? | |
Ich würde eher von Pluralismus in der Ökonomie sprechen. Man muss zwischen | |
methodischem und wirtschaftspolitischem Pluralismus unterscheiden. Was die | |
Wirtschaftspolitik angeht, hilft ein weiter Horizont natürlich. Aber man | |
kann auch einfach in die Lehrbücher schauen. Da wird man schnell | |
feststellen, dass die wirtschaftspolitisch schon sehr plural sind. | |
Die US-Amerikaner nehmen bewusst wirtschaftspolitische Kontroversen auf: | |
Sollte die Staatsverschuldung reduziert werden oder lieber zur Ankurbelung | |
der Wirtschaft verwendet werden? Schadet eine gleichmäßigere | |
Einkommensverteilung der Wirtschaft? Ist Freihandel immer | |
wohlfahrtsteigernd? Da findet man keine einheitliche Position und das ist | |
gut so, denn diese Dinge können demokratisch diskutiert und entschieden | |
werden. | |
Sind Sie ein linker Ökonom? | |
Dass sind so Etiketten. Je nachdem, wer das aufschnappt, ist es schnell ein | |
Schimpfwort (lacht). Innerhalb der wissenschaftlichen Analyse gilt | |
natürlich das Wahrheitskriterium. Aber wenn es um die Ziele geht, die man | |
den Analysen zugrunde legt, dann bin ich sicher auf der linken Seite, wenn | |
es um Verteilungsgerechtigkeit, gute Arbeitsbedingungen und Wohlstand für | |
alle geht. | |
[3][Peter Bofinger], Ihr Vorgänger als eher linkes Mitglied im Rat, hat | |
sich zuletzt ziemlich zahm gezeigt. Kann man mehr von Ihnen erwarten? | |
Was soll das bedeuten? Es stehen ja nicht alle fünf Mitglieder hinter jedem | |
Satz im Jahresgutachten. Man muss mit Minderheitsvoten [Gegenmeinung, die | |
jeder Wirtschaftsweise in das Gutachten hineinschreiben kann, d. Red.] | |
haushalten und nur in zentralen Punkten und bei großem Dissens abweichen. | |
Die Wirtschaftsweisen fordern im aktuellen Jahresgutachten mehr Wettbewerb | |
im Gesundheitswesen und lehnen die Mietpreisbremse als nicht wirksam ab. | |
Bofinger hat im Gutachten in beiden Fällen kein Minderheitsvotum abgegeben. | |
Die Wohnungspolitik ist vermutlich die soziale Frage der Gegenwart. | |
Ja, ich halte sie auch für ganz wichtig. Und es dürfte eigentlich | |
unstrittig sein, dass beim Wohnen der freie Markt nicht funktioniert. Da | |
lässt sich in vielen Fällen Marktversagen wegen Marktmacht und zeitlichen | |
Verzögerungen zwischen Nachfrage und Angebot feststellen. Also kann man | |
sicher vielfältige staatliche Eingriffe – auch eine Mietpreisbremse – | |
rechtfertigen. Aber konkrete, schnell wirkende Maßnahmen vorzuschlagen, ist | |
kompliziert. | |
Der Bundeshaushalt ist in den vergangenen Jahren deutlich angestiegen, | |
parallel zu den hohen Steuereinnahmen. Eigentlich müssten Sie ja doch | |
dagegen sein: Keynesianer denken antizyklisch und fordern höhere staatliche | |
Ausgaben in der Krise, aber nicht, wenn die Wirtschaft läuft. | |
Das stimmt. Die Politik der schwarzen Null ist eine Schönwetterstrategie. | |
Das fing schon unter Wolfgang Schäuble als Finanzminister an, zog sich | |
durch alle Koalitionsverhandlungen und hält an. Weil man immer wieder | |
zusätzliche Steuereinnahmen zur Verfügung hatte, wurden die sofort als | |
Dispositionsmasse verplant. Eigentlich ist das auch verständlich, es gibt | |
nun mal einen enormen Nachholbedarf: in der Infrastruktur, bei der | |
ökologischen Sanierung, bei Bildung, Gesundheit, sozialer Sicherung. | |
Wo liegt dann das Problem? | |
Es ist nicht dauerhaft finanziert. Die Strategie geht nur so lange gut, wie | |
der Einnahmesegen anhält. Sollte die Konjunktur abstürzen, sacken auch die | |
Steuereinnahmen ab. Dann hat der Staat Zusagen gemacht und kann sie nicht | |
einlösen. Höhere Schulden scheiden wegen der Schuldenbremse aus. | |
Sie lehnen die [4][Schuldenbremse] weiter ab? | |
Ich bleibe bei meiner Kritik an der Schuldenbremse. Ich plädiere | |
grundsätzlich für kreditfinanzierte Investitionen – aber das verbietet die | |
Schuldenbremse. Außerdem bin ich in Sorge, was passiert, wenn die | |
Konjunktur abstürzt. Dann erst muss sich zeigen, ob die Schuldenbremse | |
genug Spielräume lässt, um auf einen Abschwung zu reagieren. Wenn der Staat | |
stattdessen aber kürzt, wird das die Konjunktur noch weiter belasten. | |
In den Nullerjahren wurde die Riester-Rente als Allheilmittel gepriesen und | |
die gesetzliche Rente geschwächt, jetzt wird wieder viel Geld in die | |
gesetzliche Rente gepumpt. Beides ist teuer – sollte man sich nicht endlich | |
von der Riester-Rente verabschieden und das Geld in die gesetzliche Rente | |
geben? | |
Das stimmt. In der wirtschaftspolitischen Szene hat es eine unglaubliche | |
Verengung auf marktradikale Lösungen gegeben. Jetzt zeigt sich, dass die | |
gesetzliche Rente wegen des guten Arbeitsmarkts doch bessere Renditen als | |
die Riester-Rente bringt. Diese marktradikale Mode ist zum Glück vorbei. | |
Die Leute machen ja aber mit. Der Soziologe Oliver Nachtwey schreibt, die | |
Versicherten haben sich durch die Riester-Rente zu Komplizen des | |
Neoliberalismus machen lassen. | |
Wenn die gesetzliche Rente durch gesetzliche Weichenstellungen geschwächt | |
und eine private Rente staatlich gefördert wird, ist es logisch, dass die | |
Versicherten das Angebot annehmen. Sie müssen die Lücke, die in der | |
gesetzlichen Rente entstanden ist, ja irgendwie schließen. Das Problem ist, | |
dass diejenigen, die eine magere Rente bekommen werden, heute auch kein | |
Geld haben, um mittels Riester-Rente vorzusorgen. | |
Was raten Sie der Bundesregierung in Sachen Steuern? | |
Der Solidaritätszuschlag sollte nicht komplett abgeschafft werden. Der | |
Staat braucht langfristig das Geld, nicht mehr unbedingt für den Aufbau | |
Ost, aber für andere Felder, wo es Investitionsbedarf gibt: beim | |
sozialökologischen Umbau oder bei der Bekämpfung regionaler Ungleichheiten | |
etwa. Der Staat verzichtet auf Geld, das in schlechten Lagen fehlen wird. | |
Wir beobachten in Deutschland eine zunehmende Schieflage in der | |
Einkommensverteilung, und das hat auch mit der Steuerpolitik der letzten 20 | |
Jahre zu tun. Die Steuerlast hat sich massiv von oben nach unten | |
verschoben. Die oberen 30 Prozent konnten von Entlastungen profitieren, | |
während der Rest belastet wurde. Der Soli ist die progressivste Steuer, die | |
wir haben. Ein Wegfall würde die oberen Einkommen noch stärker entlasten. | |
Ich rate dringend von einer kompletten Streichung ab. | |
Und noch? | |
Bei der Erbschaftsteuer können Unternehmen trotz der letzten Reform beim | |
Vererben oder Schenken durch die vielen Ausnahmeregeln ihre Steuerlast fast | |
auf Null drücken. Mein Vorschlag: Man sollte die Ausnahmeregeln kombinieren | |
mit einer Mindestbesteuerung von 10 oder 15 Prozent. Es herrschte damals | |
bei den Verhandlungen Konsens, dass Betriebe diesen Prozentsatz problemlos | |
schultern können. Dadurch könnten sich die Einnahmen aus der Steuer | |
mittelfristig verdoppeln. | |
Ist der Keynesianismus nicht selbst schuld daran, dass er gegenüber dem | |
Marktliberalismus in die Defensive geraten ist? In den 70er Jahren hat der | |
Staat viele Schulden gemacht, die Arbeitslosigkeit stieg aber trotzdem | |
stark an. | |
Der unglaubliche Steuerungsoptimismus des Staates und die Idee, dass man | |
jede Konjunkturschwankung durch Feintuning ausbügeln kann, waren Fehler. | |
Aber es gibt offenbar in der Wirtschaftspolitik gewisse Moden. | |
Ironischerweise hat man 30 Jahre später denselben Fehler gemacht, nur eben | |
mit anderen Instrumenten: Da hat man geglaubt, dass man durch Zinspolitik | |
Feinsteuerung betreiben kann. US-Notenbankchef Alan Greenspan wurde mit | |
seinen Zinssetzungen als „Magier der Märkte“ angehimmelt. Und kaum wog man | |
sich in Sicherheit, kam die Finanzkrise. | |
Die Marktliberalen haben unter anderem durch eine geschickte Sprache | |
dominiert. „Wir dürfen nicht auf Kosten unserer Kinder Schulden machen“, | |
hieß es immer. Fehlt es linken Ökonomen an rhetorischem Geschick? „Mehr | |
öffentliche Ausgaben“ ist wenig sexy. | |
Na ja, das kann man aber doch einfach umformulieren: Wir dürfen keinesfalls | |
auf Kosten unser Kinder die Umwelt, die Infrastruktur und den sozialen | |
Zusammenhalt vernachlässigen. | |
Aber das zündete nicht. | |
Politische Sprache, neudeutsch: Framing, ist wichtig, aber nicht alles. Da | |
gab es offenbar andere Gründe, dass das eine zündete und das andere nicht. | |
Man hat den Menschen wegen der Staatsverschuldung enorm Angst gemacht, so | |
dass sie sich nicht mehr getraut haben, überhaupt Bedarfe an den Staat zu | |
formulieren. | |
19 Mar 2019 | |
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## AUTOREN | |
Gunnar Hinck | |
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