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# taz.de -- „Wirtschaftsweiser“ über Regierung: „Trend zum Neoliberalism…
> Peter Bofinger zieht eine überraschend positive Bilanz als
> Regierungsberater. Zum Abschied rät er der Regierung, die Schuldenbremse
> zu lockern und viel zu investieren.
Bild: „Der Mindestlohn lag mir sehr am Herzen“: Mit der Höhe ist Peter Bof…
taz am wochenende: Herr Bofinger, als Wirtschaftsweiser seit 2004 haben Sie
nahezu die komplette Ära von Kanzlerin Angela Merkel begleitet. Akzeptierte
die Regierung Ihren Rat?
Peter Bofinger: Der Mindestlohn lag mir sehr am Herzen. Nun gibt es ihn –
wenngleich er eher 10 Euro betragen sollte als 9,19 Euro. Für eine bessere
staatliche Industriepolitik habe ich mich ebenfalls engagiert.
Wirtschaftsminister Peter Altmaier setzt sie jetzt in Gang. Öffentliche
Förderung sollte ermöglichen, dass Batteriezellen für Elektrofahrzeuge auch
von europäischen Unternehmen hergestellt werden, nicht nur von asiatischen.
Die Gefahr wäre sonst zu groß, dass wir hinter China zurückfallen.
Sehen Sie weitere wirtschaftspolitische Fortschritte in Deutschland?
Der extreme Trend zum Neoliberalismus wurde unter Angela Merkel gestoppt.
Die großen Sünden hatte zuvor die rot-grüne Bundesregierung begangen, indem
sie den Spitzensteuersatz für hohe Einkommen massiv senkte, die Mini-Jobs
ausweitete, die Riesterrente und Hartz IV einführte.
Merkel nahm diese Reformen aber nicht zurück.
Aber es hat keine weiteren substanziellen Einschnitte ins soziale Netz und
zusätzliche Entlastungen für Reiche gegeben. Die Ideologie der niedrigen
Steuern trieb die Kanzlerin auch nicht weiter voran. Jahrelang forderten
meine Kollegen im Sachverständigenrat, den Kündigungsschutz für
Arbeitnehmer einzuschränken. Auch an dieser Front passierte nichts.
Die Ära Merkel wird als Periode der gesellschaftlichen Modernisierung
interpretiert. Die Stichwörter sind Einwanderungsland, Atomausstieg, Ende
der Wehrpflicht und die Anerkennung verschiedener geschlechtlicher
Identitäten. Gab es auch in ökonomischer Hinsicht eine Modernisierung?
Nein, da wurden kaum grundlegende Entscheidungen getroffen. Es war eher ein
Handeln aus der Not. Zum Beispiel in der Eurokrise: Mit dem Europäischen
Stabilitätsmechanismus, der verschuldete Staaten unterstützen kann, haben
wir die Währungsunion stabiler gemacht. Für den Fall künftiger
wirtschaftlicher Schocks besitzt der Euroraum nun ein kraftvolles
Instrument. Aber man hätte sich viel mehr vorstellen können. Es fehlte die
große Idee – in der Klimapolitik etwa eine europaweite Steuer auf den
Ausstoß von Kohlendioxid. Wirtschaftspolitisch waren die vergangenen 15
Jahre geprägt durch das Bewahren des Status Quo.
Die Politik gegen die Finanzkrise während Merkels erster großer Koalition
war nicht schlecht. Hat dieser unideologische Pragmatismus Deutschland
stabiler gemacht?
Wenn man das Wort „alternativlos“ verwenden will, dann hier. Ohne die
Bankenrettung hätten die bundesdeutschen Sparer einen Teil ihrer Guthaben
verloren. Als sehr hilfreich erwies sich auch, dass die Regierung
ausgedehnte Kurzarbeit in Unternehmen ermöglichte. Dadurch ersparte man
vielen Arbeitnehmern die Kündigung.
Mit welchen Vorschlägen haben Sie bei der Regierung auf Granit gebissen?
Mir und meinen Mitstreitern ist es nicht gelungen, die Schuldenbremse zu
verhindern.
Der bundesdeutsche Staat darf sich pro Jahr höchstens mit 0,35 Prozent der
Wirtschaftsleistung verschulden. Das sind augenblicklich etwa 10 Milliarden
Euro. 2009 haben Sie sogar eine Unterschriftenaktion gegen diese Regel
initiiert.
Damals habe ich auch versucht, die SPD-Abgeordneten im Bundestag von ihrer
Zustimmung abzubringen. Ohne Erfolg. Das ist einfach fatal. Wir stecken nun
in einer Zwangsjacke, die die politische Gestaltung verhindert. Viele
wichtige Dinge kosten Geld – Schulen zu renovieren, mehr Lehrer und
Lehrerinnen einzustellen, städtische Schwimmbäder zu sanieren oder den
Bahnverkehr auszubauen. Mit der Schuldenbremse sind solche umfangreichen
Investitionen ziemlich unrealistisch.
Warum haben die Sozialdemokraten das nicht begriffen?
In der Vergangenheit bestand das Problem der SPD darin, dass sie dem
Rotary-Club gefallen wollte. Aber der wählt sie sowieso nicht.
Während der Finanzkrise stieg die staatliche Kreditaufnahme steil an. Dank
des folgenden Aufschwungs sank der Schuldenstand dann wieder. Jetzt beträgt
er nur noch etwa 60 Prozent der Wirtschaftsleistung. Das gibt der Politik
Handlungsspielraum, wenn die nächste Krise kommt. Ist dies denn kein Erfolg
der Schuldenbremse?
Den Mangel an Investitionen bemerkt man vor allem in den Städten, in denen
die öffentliche Infrastruktur verrottet. Vor den politischen Auswirkungen
darf man nicht die Augen verschließen. Wenn Schwimmbäder geschlossen
werden, bekommen die Bürger das Gefühl, die Politik habe sie vergessen.
Meine Heimatstadt Pforzheim ist so ein Beispiel. Wegen der Abwanderung der
Schmuckindustrie steckt sie in wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen
Problemen. Doch der Verwaltung fehlen die Mittel, um gegenzusteuern. Auch
deshalb ist vermutlich der Anteil der AfD-Wähler dort auf einen Spitzenwert
in Baden-Württemberg gestiegen.
Sie sind dafür, die Schuldenbremse im Grundgesetz zu lockern?
Wir sollten den Schuldenstand im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt
ungefähr da stabilisieren, wo er jetzt liegt. Diese Größenordnung ist
unschädlich, weiter runter muss er nicht. Weil das BIP – von Krisen
abgesehen – regelmäßig zunimmt, bestünde dann jedes Jahr bundesweit ein
zusätzlicher Spielraum von etwa 60 Milliarden Euro. Alle wären glücklich –
auch die Sparer. Denn die größere Nachfrage nach Krediten triebe die Zinsen
nach oben. Die Leute würden endlich wieder etwas verdienen mit ihren
Vermögen.
Sie raten heute, statt Hartz IV die alte Arbeitslosenhilfe wieder
einzuführen, die früher aus Steuermitteln jahrelang gezahlt wurde. Warum?
Weil es dringend geboten erscheint, Beschäftigte, die oft jahrzehntelang
gearbeitet haben, vor dem schnellen sozialen Absturz zu bewahren. Der
Zeitraum, in dem man eine halbwegs akzeptable Sozialleistung erhält, muss
verlängert werden. Das entspricht zutiefst unserem deutschen
Sicherheitsdenken. Ähnliches schlägt ja nun auch die SPD vor.
Die Welt hat sich weitergedreht. Ein bloßes Zurück zum alten System reicht
doch nicht.
Das sehe ich anders. Die Grundzüge des Sozialversicherungssystems waren
richtig und sind es noch immer.
Digitalisierung, Berufsunterbrechungen, ständiger Fortbildungsdruck – so
die neuen Sorgen vieler Bürger*innen. Müssen wir nicht selbst verdienten
Lohn und staatliche Transfers besser kombinieren?
Wir haben ja schon viel Digitalisierung erlebt. Quasi jeder benutzt ein
Smartphone – die Basis zahlreicher neuer Geschäfts- und Arbeitsmodelle.
Trotzdem liegt die Beschäftigung in der Bundesrepublik auf Rekordniveau.
Etwa eine halbe Million neuer Stellen wurden jeweils in den vergangenen
Jahren geschaffen.
Angst vor der nächsten Rationalisierungswelle ist also unnötig?
Bisher haben wir die Digitalökonomie ganz gut verkraftet. Die Behauptung,
die neuen Arbeitsplätze seien überwiegend prekäre, stimmt so pauschal
nicht. Der Anteil der Teilzeit-, Leih- und befristeten Beschäftigung ist
seit 2010 nicht gestiegen. Und noch nie wurden so viele offene Stellen
angeboten wie jetzt.
Ein neues Modell der sozialen Sicherung im digitalen Zeitalter brauchen wir
nicht?
Wenn wir in zehn Jahren feststellen sollten, dass Millionen Menschen
arbeitslos zu werden drohen, kann man neu nachdenken. Aber im Augenblick
sehe ich keinen Grund dafür.
25 Feb 2019
## AUTOREN
Hannes Koch
## TAGS
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Schwerpunkt Angela Merkel
Neoliberalismus
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Investitionen
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