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# taz.de -- Wirtschaftswissenschaften und Ökologie: Die doppelte Ökokrise
> Die Klimakrise braucht ökonomische Lösungen. Doch die Volkswirte
> ignorieren das Thema – das liegt auch am völlig einseitigen Studienfach
> VWL.
Ökonomen sind anders als andere Menschen und wollen es auch sein. Sie
glauben, eine Wissenschaft wie die Physik zu betreiben, die die Welt allein
mit mathematischen Modellen erfassen kann. Ebenso stolz sind die Ökonomen
darauf, „überraschende Antworten auf alltägliche Lebensfragen“ zu geben,
wie das bekannte Buch „Freakonomics“ des Star-Ökonomen Steven Levitt im
Untertitel heißt.
Der Blick der Ökonomen ist also speziell und auch merkwürdig: Sie
beschreiben eine Welt, die unhistorisch, im Gleichgewicht und stabil ist,
während sich die echte Welt dadurch auszeichnet, dass sie dynamisch ist und
zu Krisen neigt. Das führt dazu, dass sich Reformbewegungen in der
Volkswirtschaftslehre oft mit dem Etikett „real world“ versehen. Ihrer
Ansicht nach hat die ökonomische Wissenschaft mit der Realität nichts mehr
zu tun.
Dieser Eindruck einer verirrten Wissenschaft drängt sich auch auf, wenn man
sich anschaut, was die Mehrheit der Ökonomen zur ökologischen Krise sagt:
im Allgemeinen nämlich gar nichts. Die Volkswirte schweigen, obwohl die
Naturwissenschaftler in unzähligen Stellungnahmen davor warnen, dass
ökologische Systeme zusammenbrechen werden, die unsere Lebensgrundlage
bilden. Am bekanntesten sind die Prognosen des Weltklimarates, dass nur
noch ein kleines Zeitfenster bleibt, um die globale Erwärmung auf 2 °C und
damit die Schäden zu begrenzen.
Der Klimawandel ist zudem nicht die einzige ökologische Krise. 2009
veröffentlichten Erdsystem- und Umweltwissenschaftler einen vielbeachteten
Aufsatz über die sogenannten planetaren Grenzen: Unsere Lebensgrundlagen
werden auch durch das Artensterben, die Abholzung der Wälder, die
Verschlechterung von Böden und den übermäßigen Eintrag von Phosphor und
Stickstoff in die Meere akut gefährdet. Zudem häufen sich die
Forschungsbefunde, dass die Gefährdung der Ökosysteme weitaus schneller
voranschreitet als zuvor erwartet. Es gibt aktuelle Studien, dass der
Kollaps von Meeresökosystemen und tropischen Regenwäldern bereits von dem
Jahr 2030 beginnen könnte.
Doch wie sieht die Welt der Ökonomen aus? Von einer ökologischen Krise
erfährt man im normalen Volkwirtschaftsstudium wenig bis nichts. Im ersten
Semester lernen die Studierenden, dass das Wachstum die Grundlage des
Wohlstandes ist und dass Wachstumsunterschiede erklären, warum einige
Länder reich und andere arm sind. Auch den internationalen Handel lernen
die Studierenden als Quelle von Wohlstand für alle Beteiligten kennen.
Dass Wirtschaftswachstum und Handel ökologische Schäden verursachen und
damit langfristig den erreichten Wohlstand in Frage stellen, erfährt man im
Wirtschaftsstudium hingegen normalerweise nicht. Die populären Lehrbücher
der Makroökonomik thematisieren weder den Klimawandel noch andere planetare
Grenzen.
Die sogenannte moderne [1][Wachstumstheorie] ist ein Kind der 1950er Jahre,
in denen es gesellschaftlich um das Verhältnis von Arbeit und Kapital und
den technologischen Fortschritt ging. Für den Westen war es beruhigend, als
der US-Ökonom Robert Solow zeigen konnte, dass die sowjetische
Industrialisierung auf der Basis der Stahlproduktion keinen dauerhaften
Aufschwung erzeugen würde, sondern dass technische Innovationen die Quelle
des Wachstums seien. Dass dem Wachstum Grenzen gesetzt sein könnten, war
und ist kein Thema. Es herrscht der Glaube vor, dass der technische
Fortschritt diese Grenzen überwinden wird.
Interessant und bedenklich ist, dass Güterproduktion und Wachstum in den
VWL-Lehrbüchern weder Energie noch natürliche Rohstoffe benötigen und keine
Abfallprodukte entstehen. Wird der Verlust von Ökosystemen thematisiert,
gehen Ökonomen davon aus, dass man Naturkapital durch Sachkapital ersetzen
kann. Wenn es keine Bäume mehr geben sollte, dann bauen wir eben Apparate,
um CO2 aus der Luft zu holen.
Aber nicht nur das VWL-Studium blendet ökologische Fragen aus. Auch [2][in
den Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der
gesamtwirtschaftlichen Entwicklung] (der fünf Wirtschaftsweisen) liest man
nichts über planetare Grenzen und ökologische Krisen. Den Klimawandel
nehmen die Weisen zwar zur Kenntnis. Aber im vergangenen Jahrzehnt
erweckten sie nicht den Eindruck, dass seine Bekämpfung ein drängendes,
existenzielles Problem wäre. Vielmehr betont der Sachverständigenrat wieder
und wieder, dass die Klimapolitik effizient und international koordiniert
sein müsse. Dazu sei ein global einheitlicher Preis auf CO2-Emissionen das
beste Mittel, damit der Markt das Klimaproblem lösen könne.
In einer idealen Welt ist dies auch nicht falsch, aber die Realität ist
weit entfernt von den abstrakten Modellwelten aus den Lehrbüchern und
Fachjournalen. Trotzdem halten die Ökonomen starr an ihren theoretischen
Optimallösungen fest, was dann zu dem bizarren Ergebnis führt, dass der
Sachverständigenrat [3][die Bemühungen der Bundesregierung kritisiert],
durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz und gezielte Technologieförderung die
Energieproduktion klimaneutraler zu machen. Dies sei planwirtschaftlich,
ineffizient und wirkungslos. Außerdem sollten Deutschland und die EU keine
übermäßig ambitionierte Klimapolitik verfolgen, da sonst die anderen Länder
keinen Anreiz mehr hätten, selbst Klimaschutz zu betreiben.
Für die Sachverständigen steht zudem außer Frage, dass weiteres
Wirtschaftswachstum nötig ist und durch technischen Erfindungsgeist auch
nachhaltig sein kann. Dauerhaftes Wachstum in einer begrenzten Welt setzt
aber voraus, dass die Wirtschaft dematerialisiert wird. Durch welche
Wundertechnologien dies gelingen soll – diese zentrale Frage überlassen die
Ökonomen dann gern den Politikern und Ingenieuren. Man könnte die
Volkswirte in ihrem Elfenbeinturm belassen, wenn ihr Wort in Politik und
Öffentlichkeit nicht so viel Gewicht hätte.
Andere Sozialwissenschaftler blicken mit Neid auf den politischen Einfluss
der Ökonomen. Bundeswirtschaftsminister Altmaier sagte im Juli 2020:
[4][„Mehr als 15 Jahre lang] wurde versucht, den Klimaschutz weltweit in
einer gemeinsamen Kraftanstrengung aller wichtigen Länder zu erreichen.
Dabei haben wir viel Zeit verloren, ohne dass etwas Durchgreifendes
geschehen ist.“ Dies kann man indirekt als Kritik an den ökonomischen
Experten verstehen, die genau diese globale Lösung immer wieder gefordert
haben.
Es ist eine Krise der neoklassischen Ökonomik, dass sie die Welt durch ihre
theoretischen und mathematischen Filter betrachtet und dabei ökologische,
politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen des ökonomischen
Handelns übersieht. Die Welt entwickelt sich in realer Zeit und nicht in
abstrakter Modellzeit. Die wichtigsten ökologischen Systeme könnten in
naher Zukunft kollabieren, und sie warten nicht darauf, dass sich die
gesamte Menschheit auf effiziente Lösungen geeinigt hat. Daher sollten die
Ökonomen drängen und nicht bremsen bei der Suche nach gangbaren Lösungen,
auch wenn sie nicht dem theoretischen Ideal entsprechen.
Damit die Volkswirtschaftslehre eine Wissenschaft über die reale Welt
werden kann, muss sie sich öffnen, also pluraler und interdisziplinärer
werden, und zur Kenntnis nehmen, was Naturwissenschaftler und
Sozialwissenschaftler zu sagen haben. Das herrschende Selbstverständnis der
Ökonomen ist, dass sie den optimalen Einsatz knapper Mittel erforschen.
Doch diese Definition ist zu eng. Es ist auch ein ökonomisches Thema, wie
der Mitteleinsatz in der echten Welt durch Institutionen und Macht bestimmt
wird. Die Volkswirtschaftslehre muss wieder mehr zur Politischen Ökonomie
werden.
Angesichts des mittlerweile spürbaren Klimawandels fordert die junge
Generation Änderungen von der Ökonomik ein. Die
Fridays-for-Future-Studierenden stellen berechtigte Fragen. Sie wollen
wissen, warum sie in den Wirtschaftsvorlesungen nichts über die
ökologischen Krisen hören, vor denen die Naturwissenschaftler so
eindringlich warnen. Sie fragen, wie nachhaltiges Wachstum konkret
funktionieren soll und warum wir auf den technischen Fortschritt und die
Genialität unserer Ingenieure vertrauen sollen. Hat nicht der technische
Fortschritt die ökologischen Probleme erst verursacht? Sie bezweifeln, dass
wir noch genug Zeit für eine effiziente Klimapolitik haben, die über den
Markt geregelt wird. Es bleibt abzuwarten, ob sie von ihren Professoren
Antworten bekommen.
## Vorlesungen ohne Öko-Themen
Viele junge Menschen spüren bereits, ohne dass sie es in ökonomischen
Vorlesungen gesagt bekämen, dass dauerhaftes materielles Wachstum und
planetare Grenzen unvereinbar sind. So bequem eine rein technische Lösung
der Nachhaltigkeitsprobleme wäre, so unwahrscheinlich ist sie. Natürlich
brauchen wir effizientere Technik, die Ressourcen einspart, aber es hilft
nichts, wenn wir mit sparsameren Autos mehr fahren oder häufiger nachhaltig
produzierte Kleidung kaufen. Auch unser Verhalten muss dazu beitragen, den
ökologischen Kollaps zu vermeiden. Dies ist aber keine rein individuelle
Angelegenheit, sondern eine gesellschaftliche.
Der Philosoph Edward Skidelsky und sein Vater, der Wirtschaftshistoriker
Robert Skidelsky, weisen in ihrem Buch „Wie viel ist genug?“ darauf hin,
dass der Sinn des Wirtschaftens ist, ein gutes Leben zu ermöglichen. Das
gute Leben hängt aber nicht nur vom persönlichen materiellen Konsum ab,
sondern noch wichtiger sind die Erfüllung sozialer Bedürfnisse und die
Entfaltungsmöglichkeiten in der Gesellschaft. Die Bewältigung der
ökologischen Krise ist also eine soziale Aufgabe, keine technische. Eine
Volkswirtschaftslehre, die sich auf ihre philosophischen Wurzeln
rückbesinnt, kann dazu viel beitragen.
10 Oct 2020
## LINKS
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Wachstumstheorie
[2] /Personalwechsel-im-Sachverstaendigenrat/!5541296
[3] /Ausstoss-von-Treibhausgasen/!5587850
[4] https://www.zdf.de/nachrichten/wirtschaft/klimawandel-altmaier-100.html
## AUTOREN
Michael Roos
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