# taz.de -- Wirtschaftsweiser über die Konjunktur: „Auf Steuergeschenke verz… | |
> Achim Truger sieht keine Rezession aufkommen – dank niedriger Zinsen. Er | |
> warnt vor Steuerentlastungen für Unternehmen. | |
Bild: Achim Truger: „Die Unternehmensteuern sind in Deutschland nicht zu hoch… | |
taz: Herr Truger, kommt es zu einer Wirtschaftskrise? | |
Achim Truger: Wohl nicht. Alle Prognosen gehen davon aus, dass es keine | |
Rezession geben wird. In der Industrie sinken die Umsätze zwar, aber die | |
Konjunktur ist zweigeteilt: Die Dienstleistungen laufen gut, der | |
Arbeitsmarkt ist stabil. Deutschland dürfte daher an einer Rezession | |
vorbeischrammen. | |
Wie kann das sein? Bisher ist die Gesamtwirtschaft immer in eine Krise | |
geraten, wenn die Industrie einbrach. | |
Die Zinsen sind niedrig, so dass der Bausektor boomt. Zudem sind die Löhne | |
deutlich gestiegen, weil der Arbeitsmarkt brummt. Der Konsum läuft und | |
stützt die Konjunktur. | |
Hat EZB-Chef Mario Draghi also alles richtig gemacht, indem er die Zinsen | |
nach unten getrieben hat? | |
Draghis Geldpolitik hat die Konjunktur stark gestützt und den Euro | |
gerettet. Ohne die niedrigen Zinsen würde die Wirtschaft in der Eurozone | |
und auch in Deutschland abstürzen. | |
Aus Deutschland kommt aber häufig der Vorwurf, die Sparer würden | |
„enteignet“. | |
Etwas plakativ formuliert: Die Leute müssen entscheiden, ob sie lieber | |
Zinsen kassieren oder arbeitslos sein wollen. Wenn die Zinsen steigen | |
würden, wären Kredite teurer, und es würde für die Unternehmen schwierig zu | |
investieren. | |
Also ist die deutsche Wirtschaft doch in Gefahr? | |
Nein, die Zinsen bleiben ja niedrig. Im Sachverständigenrat gehen wir davon | |
aus, dass sich die Exporte 2020 spürbar erholen, weil sich die | |
Handelskonflikte nicht verschärfen. | |
Wenn die Lage so wenig dramatisch ist: Muss die Bundesregierung überhaupt | |
etwas tun? | |
Derzeit nicht. Der Staat stützt die Konjunktur schon erheblich: 2020 nehmen | |
die zusätzlichen Ausgaben um acht Milliarden Euro zu; die Steuern werden um | |
gut sechs Milliarden Euro gesenkt. Da besteht erst einmal kein Bedarf für | |
ein Konjunkturpaket obendrauf. | |
Und falls sich die Wirtschaftslage doch eintrübt? | |
Darauf kann man sich vorbereiten und könnte dann zum Beispiel befristet das | |
Kindergeld erhöhen. Wobei wichtig wäre, dass dies nicht auf Hartz IV | |
angerechnet würde, damit jede Familie vom Geldsegen profitiert. | |
Die Union würde bestimmt fordern, auch die Unternehmen steuerlich zu | |
entlasten. Wäre das sinnvoll? | |
Den Betrieben könnte man helfen, indem man die beschleunigte Abschreibung | |
wieder einführt. Dadurch würden die Firmen animiert, ihre Investitionen | |
vorzuziehen. Aber wie gesagt: Bisher gibt es keinen Bedarf für ein | |
Konjunkturpaket. | |
Warum fordern Sie dann trotzdem ein riesiges Investitionsprogramm? | |
Das tun mittlerweile viele Ökonomen. Auch die Industrie und die | |
Gewerkschaften fordern, dass in den nächsten zehn Jahren 450 Milliarden | |
Euro ausgegeben werden. Wir haben enorme Bedarfe: im Klimaschutz, bei der | |
Bildung, in der Infrastruktur, bei der Digitalisierung. Es wurde überall zu | |
wenig investiert durch die jahrelange Sparpolitik | |
Das wären 45 Milliarden Euro pro Jahr. Wie soll das mit der Schuldenbremse | |
vereinbar sein? | |
Es ginge als Extrahaushalt, der die Sachaufgabe hätte, | |
Zukunftsinvestitionen in Deutschland voranzubringen. | |
Böse Zungen würden das einen „Schattenhaushalt“ nennen. | |
Extrahaushalte sind nichts Ungewöhnliches. Die Sozialversicherungen, wie | |
etwa die Rentenkasse, unterliegen auch nicht der Schuldenbremse, sondern | |
sind davon ausgenommen. | |
Die Rentenkasse verschuldet sich aber nicht im großen Stil. | |
Es gäbe ja einen Gegenwert. Wenn der Staat Schulden aufnimmt, um | |
Klimaschutz zu betreiben oder in die Digitalisierung zu investieren, dann | |
entstehen Vermögenswerte. Niemand würde dadurch ärmer, sondern alle würden | |
reicher. | |
Würde das zusätzliche Geld überhaupt abfließen? Die Deutsche Bahn sagt, | |
dass sie weitere Milliarden gar nicht gebrauchen kann – weil ihr unter | |
anderem die Bauingenieure fehlen, um noch mehr Projekte zu betreuen. | |
Ähnliche Klagen kommen von den Bauämtern. | |
Dies sind die Fehler der Vergangenheit, die sich jetzt rächen. In den | |
kommunalen Bauämtern wurde bis 2015 in großem Maßstab Personal abgebaut. | |
Deswegen ist es so wichtig, dass sich der Staat verpflichtet, in den | |
nächsten zehn Jahren stetig zu investieren. Nur wenn Bauämter und | |
Bauindustrie einen langfristigen Planungshorizont haben, werden sie neues | |
Personal einstellen und die Kapazitäten erweitern. | |
Wie wahrscheinlich ist es denn, dass die Große Koalition tatsächlich | |
[1][ein Investitionsprogramm von 450 Milliarden Euro auflegt]? | |
Die Chancen stehen so gut wie nie. BDI und DGB setzen sich gemeinsam dafür | |
ein. Denn die Bedarfe sind enorm, ob beim Klimaschutz oder bei der | |
Digitalisierung, und gleichzeitig sind die Kosten so niedrig, weil die | |
Zinsen im Keller sind. | |
Die Union scheint aber ein eigenes Lieblingsthema zu verfolgen: Kanzlerin | |
Merkel hat angekündigt, dass die Unternehmensteuern dauerhaft sinken | |
müssen. | |
Die Unternehmensteuern sind in Deutschland nicht zu hoch. Das Problem der | |
Firmen sind nicht die Steuern, sondern eher die fehlenden Fachkräfte. | |
Und warum wird dann über die Steuern geredet? | |
Das ist ein Projekt der Unternehmensverbände, die ihre Existenz | |
rechtfertigen müssen. Es gibt auch eine psychologische Komponente: | |
Vielleicht haben die Unternehmer das Gefühl, dass die Politik seit 2017 vor | |
allem soziale Schwerpunkte gesetzt hat. Jetzt möchten sie auch etwas | |
bekommen. | |
Die neuen SPD-Chefs Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans haben bereits | |
signalisiert, dass sie bereit wären, über eine Reform der Unternehmensteuer | |
zu sprechen. | |
Sie haben aber auch gesagt, dass es eine Gegenfinanzierung geben muss, die | |
die höheren Einkommensgruppen belasten soll. Das finde ich richtig. | |
Wohlhabende und Unternehmen sind seit 1998 bereits stark auf Kosten der | |
unteren 70 Prozent der Bevölkerung entlastet worden. Zudem gibt es für | |
Steuergeschenke gar keinen Spielraum: Das Wachstum ist so schwach, dass die | |
Steuereinnahmen kaum steigen, und der Soli wird ab 2021 zur Hälfte | |
gestrichen, was bereits zehn Milliarden Euro pro Jahr kostet. | |
Aber es scheint genug Geld vorhanden zu sein, damit Finanzminister Olaf | |
Scholz vorschlagen kann, [2][2.500 deutsche Kommunen von ihren Schulden zu | |
befreien]. Was halten Sie davon? | |
Das halte ich für richtig und wichtig. Die überschuldeten Kommunen liegen | |
meist in wirtschaftsschwachen Regionen und leiden unter einem | |
Strukturwandel, für den sie nicht verantwortlich sind. Diese Kommunen | |
sparen schon seit Jahrzehnten, können also nicht in die Zukunft investieren | |
und werden ihre Schulden trotzdem nicht los. Ein Teufelskreis. Die Kosten | |
dieser Entschuldung sind für Bund und Länder überschaubar, fallen | |
größtenteils nur einmal an und müssten selbst im Rahmen der Schuldenbremse | |
finanzierbar sein. | |
Sie sind Berater der Bundesregierung. Was wäre Ihre Empfehlung für dieses | |
neue Jahr? | |
Auf weitere Steuergeschenke verzichten – und ein großes langfristiges | |
Investitionsprogramm starten. Zukunftsprojekte gibt es genug. | |
6 Jan 2020 | |
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## AUTOREN | |
Ulrike Herrmann | |
Stefan Reinecke | |
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