# taz.de -- Kolumne Schlagloch: Der A-Faktor | |
> Manche Leute achten nur auf den eigenen Vorteil und missbrauchen unser | |
> Vertrauen. Wie setzt man sich zur Wehr, ohne zum Ekel zu werden? | |
Bild: Es könnte sogar sein, dass das Arschloch zum Ideal wird | |
Im richtigen Leben erkennt man sie sofort: Der Typ, der dich auf der | |
Autobahn mit Aufblendlicht bedrängt, obwohl du keine Ausweichmöglichkeit | |
hast, die Frau, die es pädagogisch wertvoll findet, dass ihr Kind seine | |
Kleckerhände an deinem Hemd abwischt, der Teenager, der eine gehbehinderte | |
Seniorin zur Seite stößt, um den letzten freien Sitzplatz im Zug zu | |
bekommen, die Nachbarin, die beim Gassigehen mit dem Hund geflissentlich | |
die Dog Station übersieht … | |
Es gibt nur ein Wort, was einem dann sofort einfällt: Arschloch! Meistens | |
denkt man das Wort nur, weil es nicht ganz ungefährlich ist, ein Arschloch | |
laut ein Arschloch zu nennen. Woran erkennt man ein Arschloch, und wie | |
misst man die Arschlöchigkeit bei seinen Mitmenschen und womöglich sogar | |
bei sich selbst? | |
Es gibt erst einmal ein sehr einfaches Modell. Wenn jemand für einen | |
kleinen Vorteil für sich selbst einen großen Nachteil bei anderen Menschen | |
in Kauf nimmt, ist das schon eine ziemliche Arschlöchigkeit. Je kleiner der | |
eigene Vorteil im Verhältnis zum Nachteil anderer, desto höher der | |
A-Faktor. | |
Der anständige Mensch beginnt, wo man einen kleinen eigenen Nachteil | |
zugunsten eines größeren Vorteils für andere in Kauf nimmt. Wenn man | |
allerdings einen großen eigenen Nachteil zugunsten eines kleinen Vorteils | |
anderer in Kauf nimmt, ist man entweder scharf auf einen Heiligenschein | |
oder hat ein kleines Problem mit dem „Helfersyndrom“. Und gerät schon | |
wieder in Arschloch-Gefahr. | |
## Ich bin toll, oder was? | |
Ein zweites Modell für den A-Faktor mag das Füttern des eigenen | |
Geltungsbedürfnisses gegenüber einem ähnlich gelagerten Impuls seiner | |
Mitmenschen sein: Wer unentwegt redet, so dass niemand anderes zu Worte | |
kommt, wer nur von sich selbst spricht und einen Splitter im eigenen Finger | |
für wesentlich bedeutender hält als den Blasenkrebs eines anderen, wer sich | |
selbst so toll findet, wie es Donald Trump tut, wer in einem Lokal laut in | |
sein Smartphone über die Beziehungsprobleme seiner Schwägerin | |
schwadroniert, die er schon immer kommen hat sehen, wer es wichtiger | |
findet, ein Selfie vor dem Unfallort zu machen, als Rettungskräfte zu den | |
Verletzten zu lassen … So etwas kann nur bedeuten: Wir haben es mit einem | |
[1][echten Arschloch] zu tun. | |
Der A-Faktor kommt auch zum Tragen in Verhältnis zu dem, was man Vertrauen | |
nennt. Wenn dein Nachbar sich hartnäckig weigert, das geliehene Werkzeug | |
zurückzugeben, aber beleidigt ist, wenn du den letzten | |
Kreuzschlitzschraubenzieher nicht herausrückst, wenn einer zum hundertsten | |
Mal sein Versprechen bricht und trotzdem wieder treuherzig das Blaue vom | |
Himmel erzählt, wenn einer einen im guten Glauben an Freundschaft einen | |
Vertrag unterzeichnen lässt, der einem die letzten Spargroschen kostet, | |
wenn einer dir freundschaftlich ins Gesicht lacht, nachdem er dich beim | |
Vorgesetzten denunziert hat, wenn jemand bei jedem noch so trivialen Anlass | |
in den Konkurrenz-Modus schaltet und unbedingt gewinnen muss, und sei’s | |
beim Minigolf-Spielen, dann ist der Arschloch-Faktor gewiss nicht | |
unerheblich. Auch hat die deutsche Nationaleigenschaft des lauthalsen | |
Besserwissens definitiv [2][Arschloch-Potenzial]. | |
Die extremste Form des Arschloch-Verhaltens ist der schiere Spaß daran, dem | |
Mitmenschen das Leben so schwer wie möglich zu machen, dessen Eigentum zu | |
verschandeln, dessen Ruhe zu stören, dessen Freiheit zu begrenzen, dessen | |
Selbstwertgefühl zu verletzen. Einfach so. | |
## A-Verhalten ist berechenbar | |
Eigentlich wäre es also ganz leicht, Arschloch-Verhalten, gebildetere | |
Menschen nennen es auch „soziophobisch“, zu bestimmen und zu unterbinden. | |
Der A-Faktor ist beschreib- und berechenbar und keinesfalls ein | |
willkürliches, subjektives Urteil. Die Welt wäre ein angenehmerer Ort ohne | |
Arschloch-Verhalten, gewiss doch. | |
Es ist aber nicht so einfach, denn der A-Faktor hat einen doppelten Haken. | |
Zum einen muss man in aller Regel, um Arschloch-Verhalten anderer Menschen | |
zu kennzeichnen oder zu unterbinden, selbst zu Arschloch-Methoden greifen. | |
So wird das Arschloch-Verhalten toxisch, denn wenn es eine Legitimation | |
dafür gibt, dann besteht sie darin, dass die anderen genau so große | |
Arschlöcher sind wie man selbst, wenn nicht noch größere. Zum Zweiten aber | |
ist allein schon die Benutzung des Begriffs als Ausdruck von moralischer | |
oder kultureller Überlegenheit eine [3][Arschloch-Geste]. | |
Es gibt indes ein weit verbreitetes Gefühl, das den Autor Richard Sutton | |
schon zu zwei Büchern zum Thema getrieben hat: Die Arschlöcher werden immer | |
mehr. Ja, schlimmer: Die Arschlöcher haben die Macht ergriffen. Die | |
Arschlöcher sind in die höchsten Stellen gelangt! Wir leben in einer | |
Arschloch-Welt. | |
Zum Arschloch-Faktor gibt es zwei Grundauffassungen. Die eine könnte man | |
die ethnologische Theorie nennen. Nach ihr ist Arschloch-Verhalten ein | |
menschliches Fehlverhalten, das mit einer gewissen Regelmäßigkeit | |
aufscheint wie Farbenblindheit oder Musikalität. | |
## Konkurrenz der Theorien | |
Die soziologische Arschloch-Theorie dagegen geht davon aus, dass es | |
Verhältnisse in Ökonomie, Politik und Kommunikation gibt, die | |
Arschloch-Verhalten ermöglichen oder sogar begünstigen. Man könnte, | |
schlecht gelaunt wie man dieser Tage nun einmal sein darf, den | |
Neoliberalismus unter anderem als System zur Erzeugung von Arschlöchern und | |
Arschloch-Verhalten beschreiben. Es könnte sogar sein, dass das Arschloch | |
zum Ideal wird, was an etlichen Prominenten, aber auch an gewissen | |
Werbekampagnen abzulesen wäre. | |
Was uns also fehlt, ist eine Beziehung zwischen der alltäglichen, der | |
medialen und der politischen Arschloch-Erfahrung. Eine Theorie zur | |
politischen Ökonomie des Arschlochs muss her. Die Bestimmung des A-Faktors | |
nach den oben skizzierten Methoden kann vielleicht dabei helfen, einen | |
semantischen Durchbruch zu ermöglichen: Arschlöcher mit guten Begründungen | |
Arschlöcher zu nennen, wäre das nicht ein Stück Befreiung? Bitte schön, | |
gern geschehen, nichts zu danken. | |
10 Sep 2018 | |
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## AUTOREN | |
Georg Seeßlen | |
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