| # taz.de -- Debatte Gespaltenes Prekariat: Traumschiff und Nagelstudio | |
| > Dem Prekariat fehlt eine gemeinsame, jenseits der Arbeit konstruierte | |
| > Identität. Was wäre, wenn die Entrechteten sich ihrer Stärke bewusst | |
| > würden? | |
| Bild: Noch unerschlossen: die Macht des Prekariats | |
| Kein guter Witz: Treffen sich ein Pop-Kritiker und eine Aushilfsverkäuferin | |
| beim Bäcker. Sie wechseln gerade mal ein paar Worte über das Wetter. Im | |
| Hintergrund belegt eine Frau mit Kopftuch die Brötchen, die sich die | |
| arbeitende Bevölkerung zum Coffee-to-Go gönnen soll; sie spricht überhaupt | |
| nicht, sondern reagiert stumm auf Anweisungen. Dann geht jeder wieder in | |
| seine Welt. | |
| Jeder ist überzeugt, dass die der anderen sehr seltsam sein muss. Dabei | |
| wären sie alle drei politisch und ökonomisch dazu durchaus bestimmt, | |
| gemeinsam für ihre Rechte, gegen ihre Ausbeutung, gegen die politische | |
| Ausblendung ihrer Situation zu kämpfen. Wenn sie nämlich ihr Leben ansehen | |
| würden, dann würden sie so viel Gemeinsames erkennen: | |
| Den Blick auf den Kontostand, changierend zwischen zäh erarbeitetem kleinen | |
| Plus und rapide anwachsendem Minus, der blitzrasch eine Spirale der | |
| Verschuldung auslöst, aus der man so leicht nicht mehr herauskommt. Dass | |
| man „schlecht bezahlt“ wird, heißt nicht nur, dass es zu wenig ist, sondern | |
| auch, dass es zu unzuverlässig ist, um die Planung über die eigene | |
| „Erwerbsbiografie“ zu ermöglichen. | |
| Die Sorge, von Behörden, Banken, Versicherungen, Vermietern als „kredit-“ | |
| oder „vertrauenswürdig“ betrachtet zu werden oder eben nicht. Die Angst | |
| davor, dass man nächste Woche durch jüngere, billigere und willigere | |
| Nachfolger ersetzt wird. Die Abhängigkeit von der „Bedarfsgemeinschaft“ (so | |
| heißt im Bürokratensprech die Familie), in der jeder Ausfall eine | |
| Katastrophe bedeutet und in der immer die einen die anderen „mitschleppen“, | |
| die sich ihrerseits dafür schämen. Abhängigkeit aber auch von der Firma, | |
| dem Projekt, die selbst auf Wolkensäulen stehen und auf jede Forderung mit | |
| dem Hinweis auf den eigenen Ruin und damit natürlich auch den Verlust der | |
| Arbeitsplätze von KollegInnen reagieren. | |
| Man ist da, wenn man gebraucht wird, und man ist weg, wenn man nicht mehr | |
| gebraucht wird. Man ist in Wahrheit: niemand. | |
| ## Mit uns kann man alles machen | |
| Die Erfahrung vollkommener Gleichgültigkeit seitens der Politik, der | |
| Regierung und der Parteien, denen unser Leben scheißegal ist, solange wir | |
| uns nur brav verhalten und die Arbeitslosenstatistik nicht belasten. Die | |
| Rechtlosigkeit, die Organisationslosigkeit, die Stimmlosigkeit. Mit uns | |
| kann man so ziemlich alles machen. | |
| Die vagen Hoffnungen, die uns an manchen Tagen aufrechterhalten, darauf, | |
| dass vielleicht doch noch der große Auftrag kommt, ein Lotteriegewinn oder | |
| ein Traumjob. Denn unser Leben ist nicht einfach ein langer, gerader Weg | |
| nach unten, sondern eine bizarre Achterbahn, die immer wieder Ups und Downs | |
| hat. | |
| Die kleine Gier danach, etwas vom Leben zu haben, etwas Gedrängtes und | |
| Spektakuläres; da ist es schnell wieder weg, das Geld, das so mühselig | |
| erworben wurde, und daneben steht der hämische (noch!) lohnarbeitende | |
| Bürger in fester Anstellung, der bemerkt: Die haben offenbar immer noch zu | |
| viel Geld! Sparen jedenfalls macht für uns kaum einen Sinn. Deswegen muss | |
| man sich beeilen, etwas Großes zu erleben. Aber was ist groß? Wer anders | |
| als unsere Medien kann es uns sagen? Was bleibt zwischen Traumschiff und | |
| Nagelstudio? | |
| Der Popkritiker, die Aushilfsverkäuferin und die Küchenhilfe haben davon | |
| gewiss sehr unterschiedliche Vorstellungen. Denn so sehr sie einander durch | |
| ihre ökonomische Situation ähnlich sind und so sehr sie unter derselben | |
| Ignoranz der politischen und gesellschaftlichen Institutionen leiden | |
| (einschließlich der „linken“), so sehr sie also Elemente derselben | |
| ökonomischen Klasse sind, so unterschiedlich, so weltenfern voneinander | |
| sind ihre kulturellen Schnittstellen, ist die jenseits der Arbeit | |
| konstruierte Identität. | |
| Das Klischee ist ganz einfach. Der Popkritiker schwadroniert über The XX, | |
| die Aushilfsverkäuferin hört Helene Fischer, und die Frau mit dem Kopftuch | |
| nur Nostalgisches aus der Heimat. Aber vielleicht ist ja alles ganz anders, | |
| und die Aushilfsverkäuferin spielt in einer New-Wave-of-New-Wave-Band, die | |
| Frau mit Kopftuch übersetzt aktuelle Lyrik und unser Popkritiker hängt | |
| heillos in einer 80er-Jahre-Schleife fest. Als Wahrheit bleibt nur: Wir | |
| wissen zu wenig voneinander. Und die zweite Wahrheit ist: Das ist kein | |
| Zufall, dass wir so leicht zu keiner gemeinsamen Sprache kommen. | |
| ## Eine Klasse ohne Bewusstsein | |
| Das Prekariat ist die Sphäre der entwerteten Arbeit und der entrechteten | |
| Menschen. Es ist eine Klasse, die keine Partei und keine Organisation, kein | |
| Projekt und kein Bewusstsein hat. Es ist die Klasse der nachhaltig | |
| Vereinzelten. Es gibt das akademisch-kulturelle Prekariat, es gibt das | |
| Dienstleistungsprekariat, es gibt das digital-„kreative“ Prekariat, das | |
| „Kognitariat“, es gibt das industrielle und postindustrielle Prekariat, und | |
| nicht zuletzt gibt es ein landwirtschaftliches Prekariat (das indes in | |
| Mitteleuropa besonders gern der Migration und den „Illegalen“ überlassen | |
| wird: der hier gnadenlos Ausgebeutete muss anderswo noch eine Familie | |
| miternähren). | |
| Wir sind alle unterbezahlt, unsicher beschäftigt, vom Überlebenskampf | |
| ermattet und zugleich gierig nach Spektakel und Sensation; aber zur selben | |
| Zeit leben wir sowohl in der Arbeit als auch jenseits von ihr in solch | |
| unterschiedlichen kulturellen, körperlichen und ästhetischen Umständen, | |
| dass uns der Gedanke von Solidarität und Gemeinschaft gar nicht kommt. | |
| Was aber wäre, wenn sich das Prekariat, statt sich in seinen Segmenten | |
| gegenseitig zu bekämpfen, zu verachten und zu misstrauen (eines der Pfunde, | |
| mit denen der Rechtspopulismus wuchern kann), als Klasse zu betrachten | |
| begänne, als eine, die mit dem Sklavenstatus so viel wie mit dem | |
| klassischen Proletariat und einiges mit der analogen wie digitalen Bohème | |
| zu tun hat? Wenn die Klasse, die nicht eine ist, zu einem gemeinsamen | |
| Bewusstsein, einer gemeinsamen Organisation, einem gemeinsamen Stolz finden | |
| würde? Was wäre, wenn das Prekariat sich seiner Stärke bewusst und sich als | |
| politisches Subjekt erkennen würde? | |
| 4 Jan 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Georg Seeßlen | |
| ## TAGS | |
| Prekariat | |
| Klasse | |
| Proletariat | |
| Rechtspopulismus | |
| Verkehr | |
| Rechtspopulismus | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Schlagloch | |
| Lesestück Meinung und Analyse | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kolumne Schlagloch: Der A-Faktor | |
| Manche Leute achten nur auf den eigenen Vorteil und missbrauchen unser | |
| Vertrauen. Wie setzt man sich zur Wehr, ohne zum Ekel zu werden? | |
| Historiker über Rechtspopulismus: „Vielleicht ist das Schlimmste vorbei“ | |
| Der Historiker Ian Kershaw spricht über die Stärke westlicher Demokratien, | |
| Europa und Rechtspopulisten im Vergleich zu den Zeiten vor 1945. | |
| Debatte gescheiterte Regierungsbildung: Wie wär's mit Casting statt Wahlen? | |
| Bei „Deutschland sucht die Superregierung“ würden FDP und AfD gewinnen. Das | |
| wäre das Ende der Sozialromantik, Verlierer würden recycelt. | |
| Bericht zur Lage der Nation: Weiter, immer weiter! | |
| Sicher ist: Die Bundeskanzlerin macht weiter, der „Tatort“ auch, ebenso die | |
| „Apotheken Umschau“. Die FDP ist wieder da, genauso wie die Bügelfalte. | |
| Debatte Zivilgesellschaft und Rassisten: Das Rechte gegen rechts | |
| AfD, NPD oder Ku-Klux-Klan: Die grundlegenden Werte sind bei allen Rechten | |
| gleich. Die demokratische Zivilgesellschaft muss sich dagegenstellen. |