Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Linke und ihre Wählerschaft: Früher East Side, jetzt West Sid…
> Seit der „Flüchtlingskrise“ ist die Linke im Osten keine Volkspartei
> mehr, zwei Drittel der Bundestagsfraktion kommt aus dem Westen.
Bild: Michel Brandt, seit 2017 im Bundestag, hat keinen Führerschein, ging geg…
Karlsruhe/Pirna/Dippoldiswalde taz | Nimmt ein älterer Herr in der
Sprechstunde des Bundestagsabgeordneten André Hahn von der Linkspartei im
Wahlkreisbüro in Pirna Platz, einen akkurat gefalteten Zeitungsartikel mit
beiden Händen umklammernd, und legt in reinstem Sächsisch los. Ihn täte da
mal interessieren, was die Linke zur Flüchtlingspolitik sagt.
Genauso stellt man sich das vor in Sachsen, wo die AfD bei der
Bundestagswahl stärkste Partei wurde und die Linke einbrach.
„Wenn jemand bei uns an der Haustür klingelt und um Hilfe bittet“, sagt der
Mann, „aber ich merke, dass der lügt, dann sag ich: Nee. Geht nicht.“ Und:
„Die Linke stellt sich nu aber vor solche Leute und sagt:
Zwangsabschiebungen machen wir nicht.“
Er schaut Hahn fragend an. Hahn kaut an einem Hackepeterbrötchen.
Die neuen Bundesländer, sie waren immer eine Hochburg der Linkspartei, noch
2009 stimmten dort knapp 30 Prozent der WählerInnen für sie. Mittlerweile
hat sich der Anteil der LinkenwählerInnen fast halbiert.
Den PDS-Nachfolgern, einst unangefochten zweitstärkste Kraft hinter der
CDU, droht im Osten das Schicksal der SPD – eine Existenz als
Zehnprozentpartei. Nur ohne Regierungsoption.
Die Genossen wissen, dass die Verluste der Linken im Osten mit der
liberalen Haltung der Partei zu Flüchtlingen zusammenhängen. „Zwar
gestanden viele Personen ein, die Linke gut zu finden, aber auf Grund der
‚Flüchtlingspolitik‘ ihr Kreuz bei der AfD zu machen“, heißt es in einer
parteiinternen Wahlauswertung. Bundesweit wechselten 420.000 WählerInnen
von der Linken zur AfD. Zu keiner anderen Partei wanderten so viele
LinkenwählerInnen ab. Im Wahlkampf, berichtet ein Genosse aus Sachsen,
musste er sich anhören, die Linke mache ja nur noch Politik für Schwule und
Ausländer.
Bundesweit kam die Linkspartei trotzdem auf 9,2 Prozent. Zugewinne im
Westen kompensierten die Verluste im Osten. Von der SPD kamen 700.000
WählerInnen, 330.000 von den Grünen, 590.000 waren ehemalige
NichtwählerInnen. Die Wählerschaft der Linken hat sich verändert. Sie ist
jünger, gebildeter und westlicher als früher. Bestand die
Bundestagsfraktion bisher zur Hälfte aus Abgeordneten aus dem Osten und dem
Westen, kommen nun zwei Drittel aus den alten Bundesländern. Die Ostländer
planen, sich zur Landesgruppe Ost zusammenzuschließen, um ihre Interessen
besser koordinieren zu können.
## Eine Runde Wodka
Die einstige ostdeutsche Regionalpartei verändert sich im elften Jahr ihrer
Gründung gerade gewaltig. In welche Richtung, ist noch nicht ausgemacht.
Ähnlich einer Halbwüchsigen, die halb frohlockend, halb unbehaglich in die
Pubertät eintritt.
Das neue Gesicht der Linken ist jung. Und unprätentiös. Einen Führerschein
besitzt Michel Brandt nicht. Er trägt am liebsten Kapuzenpulli und
Turnschuhe. Brandt, Platz 6 der baden-württembergischen Landesliste, hat
vor zehn Jahren das Abitur abgebrochen, um über eine Begabtenprüfung seinen
Traumberuf zu studieren: Schauspieler. Gerade noch hat er am Badischen
Staatstheater den Werther gegeben, jetzt lässt er den Beruf ruhen.
Den Wahlabend verbrachte Brandt mit 170 Linken-Anhängern in einer
alternativen Bar in Karlsruhe, wo er gebannt die Hochrechnungen verfolgte.
Erst um fünf Uhr morgens war klar: Die Linke in Baden-Württemberg entsendet
sechs Abgeordnete in den Bundestag. Brandt war drin. Er bestellte eine
Runde Wodka. Dann legte er sich eine Stunde hin, packte seine Sachen und
nahm den Zug nach Berlin. Zu seiner ersten Fraktionssitzung.
In seinem Wahlkreisbüro in Karlsruhe lächelt Brandt immer noch, wenn er
daran denkt, was sie da gewuppt haben: Die absolute Zahl der Zweitstimmen
hat sich gegenüber der letzten Bundestagswahl fast verdoppelt. Wie das
ging? Mit einem Verband, der sich im Wahlkampf anschickte, die Linke in
Karlsruhe omnipräsent zu machen: Sie standen vormittags vor dem Arbeitsamt,
nach Feierabend vor Netto und Alnatura, und gingen nachts zu den Menschen
in die Kneipen. Und präsentieren eine klare Haltung in der
Flüchtlingspolitik: „Ich habe selbst unterm Bus gelegen und Abschiebungen
blockiert. Die Leute wissen, wofür ich stehe“, sagt Brandt.
## Bockwurst-Esser und Bionade-Trinker
In Pirna, 600 Kilometer von Karlsruhe entfernt, muss André Hahn seine
Haltung in der Flüchtlingspolitik verteidigen. Hahn schluckt das
Hackepeterbrötchen herunter und hebt an, sie dem Besucher mit der
gefalteten Zeitung zu erläutern. Die Flüchtlinge seien ja nun mal da, und
überhaupt: „Mir ist das zu einfach, zu sagen: Raus, raus, raus.“ Seit 1990
habe Sachsen 800.000 Einwohner verloren, „und da sollen wir nicht in der
Lage sein, 80.000 Flüchtlinge aufzunehmen?“ Sachsen habe einen
Ausländeranteil von knapp 3 Prozent. „Mir fällt es wirklich schwer, zu
verstehen, woher eigentlich die Angst vor Überfremdung kommt.“
Hahn kann man sich gut in einem Klassenzimmer vorstellen. In den späten
achtziger Jahren studierte er Lehramt für Deutsch und Geschichte an der
Berliner Humboldt-Universität, trat damals auch in die SED ein, die später
zur PDS wurde. Seit 2013 ist er Bundestagsabgeordneter, er saß im
NSA-Untersuchungsausschuss.
Der Besucher antwortet: „Aber ich kann doch nicht erst Einfluss nehmen,
wenn es zu spät ist.“ Er wolle nicht in einem Deutschland leben, in dem 25
Prozent eine andere Herkunft haben. Dass die AfD stärkste Partei geworden
sei, gefalle ihm auch nicht. Wen er gewählt hat, verrät er nicht.
Während die Linke mit ihrer „Offene Grenzen für alle“-Haltung die einen
verschreckt, zieht sie andere damit an. Kann die Linke die einen Wähler
ansprechen, ohne die anderen zu verlieren? Es geht auch um auch die Frage,
welche Milieus die Partei bedienen will. „Wir wollen beide – die
Bockwurstesser und die Bionadetrinker“, meint Parteichefin Katja Kipping.
Aber geht das?
## Arbeit für alle oder Recht auf Faulheit?
Wenn die Partei über ihren Kurs diskutiert, ist die Lage unübersichtlich
geworden. Traditionell verliefen die Konflikte zwischen Ost und West,
zwischen Reformern und Fundamentalisten. Sie kreisten um die Frage: Wollen
wir mitregieren oder wollen wir strikt opponieren? Immer bereit zum
Regieren waren die Genossen im Osten, wo man seit der Wende in Kreis- und
Landtagen präsent war. Auf keinen Fall regieren wir, warnten die Genossen
im Westen, schon gar nicht mit den Sozen. Denn dann verlieren wir unsere
Glaubwürdigkeit.
Diese Debatten gibt es immer noch, doch die Argumentation verläuft
inzwischen anders. Es geht nicht mehr um die Frage „Pragmatismus oder
Fundamentalismus“, sondern um die offene oder die geschlossene
Gesellschaft. Während Fraktionschefin Sahra Wagenknecht vom linken Flügel
für den Sozialismus in nationalen Grenzen kämpft, steht Parteichefin Katja
Kipping, die rechts von Wagenknecht als Reformerin verortet wird, für ein
klares Bekenntnis zu grenzenloser Bewegungsfreiheit. Kipping wirbt für ein
Einwanderungsgesetz, Wagenknecht ist dagegen, Kipping setzt auf mehr
Europa, Wagenknecht will weniger. Die Konflikte ziehen sich quer durch die
traditionellen Lager, die sich langsam neu sortieren.
Die Frage, vor der die Linkspartei in der kommenden Legislaturperiode
steht, ist: Wen sprechen wir eigentlich an? Hipster oder Kleinbürger? Wie
stellen wir uns die Gesellschaft von morgen vor? Fordern wir ein
bedingungsloses Grundeinkommen oder die 30-Stunden-Woche bei vollem
Lohnausgleich? Arbeit für alle oder Recht auf Faulheit? Aufbruch oder
Verteidigung alter Errungenschaften?
## Die Neuen halten sich raus
Wagenknecht hat sich mit ihrem Co-Fraktionschef, dem Reformer Dietmar
Bartsch, verbündet, und zwischen Parteichefin Kipping und den zweiten
Vorsitzenden Bernd Riexinger, einst vom linken Flügel aufgestellt, passt
kein Blatt. Die Atmosphäre unter den Spitzenduos ist angespannt.
Nicht mal einen Monat nach der Bundestagswahl rumst es gewaltig.
Mitte Oktober steigt André Hahn in seinen grauen Audi und Michel Brandt in
den ICE. In Potsdam treffen sich die Abgeordneten der neuen Linksfraktion.
27 von 69 sind zum ersten Mal im Bundestag. Brandt und Hahn schütteln sich
kurz die Hände, reden ein paar Worte. Bis heute kann der eine über den
anderen wenig berichten. Denn die Vorstellungsrunde in dem tanzsaalgroßen
Sitzungsraum muss ausfallen. Stattdessen erheben sich nacheinander die
beiden Fraktionschefs Bartsch und Wagenknecht und die Parteichefs Kipping
und Riexinger und referieren.
Es gibt Streit, es geht um die Verteilung der Vorstandsposten, um das
Rederecht im Bundestag. Es ist ein Kampf der Parteiführung gegen die
Fraktionsführung. Sahra Wagenknecht droht mit ihrem Rücktritt als
Fraktionsvorsitzende. Die neuen Abgeordneten halten sich raus. In der Pause
bilden sich Grüppchen, sie stehen zusammen und pumpen den Filterkaffee aus
den Thermoskannen vor dem Saal. Die Stimmung ist gedrückt.
## „Von Galionsfiguren halte ich nichts“
Wagenknecht hat am Morgen eine E-Mail an alle Fraktionsmitglieder
verschickt, in der sie die beiden Parteivorsitzenden Kipping und Riexinger
beschuldigt, sie „wegmobben“ zu wollen. Der Ton des Briefes ist in Teilen
gehässig, ungewohnt deftig für die sonst so kontrollierte Wagenknecht. Das
Führungsquartett trifft sich spätabends noch zum Mediationsgespräch. Man
einigt sich auf einen Kompromiss, der die Verwerfungen schlecht kaschiert.
In seinem Pirnaer Bürgerbüro sagt Hahn, der sich äußerst ungern zu
fraktionsinternen Angelegenheiten äußert, unfruchtbare Personaldebatten
gebe es ja leider immer wieder in seiner Partei. „Aber daran will ich mich
nicht gewöhnen.“ An der Basis habe blankes Unverständnis geherrscht. „Und
ich habe mich die ganze Zeit gefragt: Was denken jetzt wohl die neuen
Abgeordneten?“
Michel Brandt ärgert sich über den Stil der Auseinandersetzung. „Ich lasse
mich nicht erpressen, das habe ich auch am Theater nicht getan“, sagt er
über die Rücktrittsdrohungen Wagenknechts. „Von Galionsfiguren halte ich
nichts.“ Auf der anderen Seite sehe er sehr viel Positives in der Fraktion.
„Es gibt viele neue Leute, die frischen Wind reinbringen.“
## Zu stark aufs Regieren fixiert
Die neuen Linksparteiabgeordneten halten wenig von straffen
Führungsstrukturen. Aus Strömungskämpfen halten sie sich raus. Mit ihnen
wächst auch die Gruppe derer in der Partei, die keine Lust aufs Regieren
haben.
Lange bevor er Parteimitglied wurde, ging Michel Brandt gegen
Castortransporte und Stuttgart 21 auf die Straße, er ließ im Sitzungssaal
des Rathauses Luftballons steigen gegen Kürzungen im Kultur- und
Sozialhaushalt. Gesellschaftliche Verhältnisse verändert man von unten her,
ist seine Überzeugung. Im Osten nimmt er die Partei dagegen als zu stark
aufs Regieren fixiert wahr.
„Es ist ein Unterschied, ob man um die 5-Prozent-Hürde kämpft oder eine
30-Prozent-Partei ist“, sagt André Hahn, der seit 24 Jahren Mitglied des
Kreistages Sächsische Schweiz ist und fast zwanzig Jahre im sächsischen
Landtag saß. „Wir mussten immer eine größere Klientel ansprechen. Im Osten
brauchst du im Wahlkampf so etwas wie ein Regierungsprogramm.“
Beide Positionen schließen sich nicht aus, können aber für harte
Auseinandersetzungen sorgen, wenn es etwa darum geht, wie weit man in einer
Regierung vom Grundsatzprogramm abrückt. Es ist ein Glück für die Linke,
dass es derzeit im Bundestag keine Mehrheit mit SPD und Grünen gibt.
In André Hahns Büro klingelt das Telefon. Die SPD ist dran. Für den Abend
ist eine Sitzung des Kreistags auf dem Pirnaer Schlossberg angekündigt.
Zusammen mit SPD und Grünen hat man einen Antrag aufgesetzt, um Kürzungen
im Jugendhilfebereich abzuschmettern. Doch am Telefon erfährt Hahn, dass
sich die SPD zurückzieht. Sie schließt sich stattdessen einem
Kompromissvorschlag der Landkreisverwaltung an. Hahn legt auf und reagiert
sauer: „Da brauchen sie sich nicht zu wundern, wenn immer weniger Menschen
sie wählen.“
## „Weg von der Stammtischmentalität“
Grundsätzlich stehe er mit vielen SPD-Kollegen in engem Austausch, sagt
Hahn. Mit dem sächsischen SPD-Vorsitzenden ist er befreundet. „Wenn wir
gemeinsam mit SPD und Grünen etwas verändern wollen, muss sich jeder ein
Stückchen auf den anderen zubewegen“, sagt Hahn.
Mit der SPD verbinde ihn derzeit gar nichts, meint dagegen Brandt, und die
baden-württembergischen Grünen würde er am liebsten gründlich
durchschütteln. Zu einem Treffen mit Abgeordneten von SPD und Grünen, wie
sie in der vergangenen Legislaturperiode im Bundestag stattfanden, würde er
nicht gehen. „Da treffe ich mich lieber mit Sea-Watch.“
Die Basis scheint ihm recht zu geben. Aktuell ist Karlsruhe der am
schnellsten wachsende Kreisverband der Partei in Baden-Württemberg – 80
Mitglieder kamen allein im vergangenen Jahr dazu. Als Michel Brandt 2013
die Geschäftsstelle betrat, war alles noch ein wenig verschlafen. Alle zwei
Monate traf man sich in einer Kneipe, erzählt er. Oder es waren offizielle
Treffen, Kreisparteitage etwa. „Wir haben dann angefangen, Filmabende zu
machen, politische Stadtrundgänge und Fahrradtouren. Wir wollten weg von
dieser Stammtischmentalität und versuchen, das breiter aufzustellen.“ Man
sei jetzt so eine Mitgliedermitmachpartei, sagt der Schatzmeister, der
schon PDS-Mitglied war. „Die Jungen, die können sich ja nicht oft genug
treffen.“ Er lacht. „Sollen sie machen, ich zieh mich da ein bisschen
zurück.“ 64 Jahre ist er alt.
Die Linke im Westen erlebt gerade einen Generationenwechsel. Die
gewerkschaftsnahen WASGler, die K-Gruppen-Veteranen und Ex-DKPler, die im
Westen lange die Basis bildeten, treten in den Hintergrund, die Neuen
bringen andere Biografien und Themen mit. Die Linke ist offener geworden.
Sie rückt näher an soziale Bewegungen.
## Das „Team Sahra“
Zum Vortrag über „Bedingungsloses Grundeinkommen“ kommen an diesem
Mittwochabend im Spätherbst etwa 30 Menschen in die Karlsruher
Linken-Zentrale. Viele sind gerade erst in die Partei eingetreten. Da ist
der Schüler mit lila Iro, der die Linke mit Ihrer Haltung zum
Freihandelsabkommen viel glaubwürdiger findet als die Grünen. Da ist die
Lehramtsanwärterin mit sorgfältig lackierten Fingernägeln und
Pelzkragenkapuze, die einfach das Gefühl hatte, „was tun zu müssen“. Da i…
der türkischstämmige Zimmermann aus einer SPD-Familie, der sagt: „Hartz IV
müssen wir weit hinter uns lassen.“
Die Stimmung in der Karlsruher Geschäftsstelle ist freundlich, fast brav.
Diszipliniert lauschen die Genoss_innen dem eineinhalbstündigen Vortrag und
stellen Fragen. Anschließend macht sich ein Grüppchen noch auf in eine Bar.
Ein Parteikollege Brandts, ein Pädagoge, erzählt von seiner Arbeit mit
Flüchtlingskindern.
Wie er denn die Äußerungen der Fraktionschefin Wagenknecht finde, die
neulich erst in einem Interview sagte, wirtschaftlich motivierte
Migration müsse verhindert werden?
Er winkt ab. Ach, das interessiere ihn nicht, er kümmere sich lieber um die
Sachen vor Ort. Sein Nachbar mischt sich ein: Da würde ja auch viel aus dem
Zusammenhang gerissen von den Medien. Michel Brandt kann nicht mehr an sich
halten. Sein Kopf ruckt nach rechts, er spricht leise: „Das Team Sahra
postet gezielt solche Botschaften.“ „Team Sahra“ ist der Newsletter von
Sahra Wagenknecht. „Das sind immer wieder kleine Attacken auf unser
Parteiprogramm.“ Schweigen macht sich breit.
## Glückwunschkarten statt Blumensträuße
Die Partei hat bisher keinen Weg gefunden, wie sie mit der unberechenbaren
und populären Fraktionschefin umgehen soll. Ignorieren? Kleinreden?
Parteiprogramm ändern? Wir geben unsere Position zur Flüchtlingspolitik
nicht auf, sagen sie im Westen.
Er sehe keine Veranlassung zu größeren Änderungen, sagt auch André Hahn in
Pirna. Allerdings dürfe man auch die Schwierigkeiten nicht verschweigen,
bei der Integration und bei der finanziellen Überlastung vieler Kommunen,
die von Bund und Ländern unzureichend unterstützt werden. Tatsache ist:
Auch Teile der Wähler und Mitglieder der Linken konnten sich nie so recht
mit der per Parteiprogramm verordneten Flüchtlingspolitik identifizieren.
Von den 13.000 sächsischen Mitgliedern im Jahr 2007 sind derzeit noch knapp
8.000 am Leben. Die jungen Leute, die vor allem in den Großstädten neu zur
Linken stoßen, mildern den Schwund nur ab. In mancher Kleinstadt gibt es
gerade noch eine Handvoll Genossen, in manchem Dorf nur noch einen Aktiven.
Lutz Richter kann davon erzählen. Er ist Kreisverbandsvorsitzender der
Linken Sächsische Schweiz Osterzgebirge und sagt: „Wir haben in den letzten
Jahren nur noch gespart.“ Für die Mitglieder gibt es seit zwei Jahren zu
runden Geburtstagen keine Blumensträuße mehr, sondern nur noch
Glückwunschkarten.
Jugendliche, die sich in Dippoldiswalde, Altenburg, Pirna oder Freital bei
der Linken engagieren wollen, weist die Partei auf den solid-Jugendverband
hin. Als kürzlich mal wieder ein junger Mann zum Treffen des Ortsverbands
Dippoldiswalde gekommen sei, hätten hinterher alle Genossen gefragt: Wieso
läuft der mit lackierten Fingernägeln rum?
## Immer das gleiche Schema
In Ostsachsen trifft man sich zur weihnachtlichen Brecht-Lesung im Gasthof,
begrüßt russische Gäste zum Tag der Befreiung oder fährt im Januar
gemeinsam zur Liebknecht-Luxemburg-Demo zum Friedhof der Sozialisten in
Berlin.
Knapp 600 Kilometer liegen zwischen Karlsruhe und Ostsachsen. Kulturell
scheinen bisweilen Welten dazwischen zu liegen. Die altgedienten Genossen
im Osten, vor allem auf dem Land, sind kleinbürgerlich geprägt, sie denken
konservativ. Sozialismus – ja, aber ohne dieses „Yeah, yeah, yeah“.
André Hahn, der viel im Westen unterwegs ist, hat es noch nie nach
Karlsruhe geschafft. Er freue sich natürlich, dass es so viele
Neumitglieder gebe. Aber, ja, es werde schwieriger, Ostinteressen in der
Fraktion durchzusetzen. „Die Diskussion, ob man die DDR als einen
Unrechtsstaat bezeichnen soll, interessiert viele Westler überhaupt nicht.“
Aber die meisten Mitglieder im Osten sähen mit einer solchen Zuschreibung
ihre Biografie entwertet.
Michael Brandt war bisher einmal im Osten, in Leipzig. Mit den Ostverbänden
habe er kaum zu tun, sagt er, das sei so weit weg.
In André Hahns Pirnaer Büro steht der Besucher mit der gefalteten Zeitung
auf. Er sagt Hahn zum Abschied, er finde die Linke prinzipiell gut. „Dass
sie die Reichen besteuern und für mehr Gerechtigkeit sorgen will – das
gefällt mir ja.“ Kurze Pause. „Aber wählen würde ich sie jetzt nicht.“
Wegen der Flüchtlinge.
Hahn nickt. Er kennt solche Gespräche. Sie verlaufen immer nach dem
gleichen Schema. Und das wird sich so schnell nicht ändern.
13 Jan 2018
## AUTOREN
Anna Lehmann
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt AfD
Die Linke
Sahra Wagenknecht
André Hahn
Die Linke
Lesestück Interview
Die Linke
SPD
Bündnis 90/Die Grünen
SPD
taz FUTURZWEI
## ARTIKEL ZUM THEMA
Landesgruppe Ost gegründet: Die Linke fusioniert den Osten
Die ostdeutschen Abgeordneten der Linksfraktion haben eine gemeinsame
Landesgruppe gegründet. Grund sind die Verluste bei der Wahl.
Politiker Jan Korte über Linkspartei: „Die Spaltung wäre eine Katastrophe“
Die Linkspartei nerve zwar manchmal, sagt Jan Korte. Aber sie sei das
einzig erfolgreiche Projekt links von der SPD in den letzten 60 Jahren.
Neue linke Volkspartei: Die rätselhafte Frau W.
Was will die Linke-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht – ihre Partei stärken
oder spalten? GenossInnen aus allen Flügeln fordern Antworten.
Kommentar Linke Sammlungsbewegung: Linke Politik mal ohne Merkel
Einwände gegen Wagenknechts Idee einer linken Volkspartei gäbe es genug.
Trotzdem ist ihr Ansatz der richtige: Es muss sich was ändern.
Anja Piel über Positionen der Grünen: „Linkssein steckt in der grünen DNA�…
Die Niedersächsin will Parteivorsitzende werden. Ein Gespräch über erhobene
Zeigefinger, nötige Umverteilung und die verzagte Inklusionsdebatte.
Aus Le Monde diplomatique: Mit uns wird's nur langsam schlimmer
Braucht es die SPD noch? Die fetten Jahre sind vorbei, doch die Partei
bietet statt Lösungen nur ein widersprüchliches Gemischtwarenangebot.
Aus taz FUTURZWEI: Die linke Sklerose
Was zum Teufel ist heute eigentlich noch „progressiv“? Die Linke jedenfalls
nicht, findet Harald Welzer. Wir müssen wieder nach vorne denken.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.