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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Mit uns wird's nur langsam schlimmer
> Braucht es die SPD noch? Die fetten Jahre sind vorbei, doch die Partei
> bietet statt Lösungen nur ein widersprüchliches Gemischtwarenangebot.
Bild: Zum inbrünstigen Singen von Arbeiterliedern reichte es noch (Archivbild …
„Wollen wir das Grundsatzprogramm an den objektiven Tatbeständen, an den
wirklichen sachlichen Erfordernissen ausrichten … oder wollen wir uns damit
begnügen, nur das zu fordern und zu verlangen, was nun einmal, wie die
Dinge liegen, in den nächsten ein, zwei, drei Jahren Aussicht hat, bei der
Wahl einen guten Effekt zu erzielen?“ Peter von Oertzen auf dem Godesberger
Parteitag 1959
Drei Monate sozialdemokratischer Selbstfindung im Zeitraffer: Sigmar
Gabriel warnt vor einem linken Gerechtigkeitsdiskurs, Martin Schulz fordert
mehr Antikapitalismus, Olaf Scholz mehr Realismus, Schulz will in die
Opposition, Scholz will Neuwahlen. Der Vorsitzende fordert die Urwahl der
Parteispitzen, der Generalsekretär warnt vor zu viel Basis. Andrea Nahles
kritisiert die Sehnsucht nach der Nische, Michael Naumann empfiehlt der
Partei „das Plumeau der großen Koalition“, Matthias Miersch erfindet die
Kooperationskoalition, Gabriel dekonstruiert postmoderne Verirrungen und
plädiert für Heimatgefühl, Scholz gibt zu Protokoll, dass man mit einem
Mindestlohnversprechen von 12 Euro die Wahl hätte gewinnen können, und ist
immer noch für Neuwahlen.
Seit ein paar Wochen hört man aus den Vorstandsetagen „Erst das Land, dann
die Partei“, und die Strategen versuchen herauszufinden, ob
Bürgerversicherung, weniger Bildungsföderalismus, Familiennachzug und ein
wenig Reichensteuer die SPD wieder in Richtung 30 Prozent oder weiter in
den Abgrund führen, aber noch will die Basis in die Opposition. Die
Ex-Juso-Vorsitzende Uekermann stöhnt: „Wir müssen die Frage beantworten:
Wofür braucht es die SPD heute noch?“
Die Frage steht seit 1983 im Raum, als der liberale Soziologe Ralf
Dahrendorf der SPD schon einen schönen Grabstein setzte: „Wir sind (fast)
alle Sozialdemokraten geworden, haben Vorstellungen zur
Selbstverständlichkeit werden lassen, die das Thema des
sozialdemokratischen Jahrhunderts definieren: Wachstum, Gleichheit, Arbeit,
Vernunft, Staat, Internationalismus.“ Aber angesichts der Globalisierung
sei der sozialdemokratische Fortschritt nun leider „ein Thema von gestern“.
## Ein gutes Jahrzehnt
Das sozialdemokratische Jahrhundert? Eigentlich war es nur ein gutes
Jahrzehnt gewesen. Nach drei krachenden Niederlagen hatte die SPD 1959 ihre
Nachkriegsradikalität abgeworfen, die Vergesellschaftung der
Montan-Monopole und Großbanken gegen die sichere Teilhabe am stetig
wachsenden Wohlstand eingetauscht. Die Garantie für das Privateigentum an
den Produktionsmitteln fiel im Godesberger Programm großzügiger aus als im
Grundgesetz, die Begrifflichkeiten wurden auf Wählbarkeit durch die
gesellschaftliche Mitte getrimmt. Nur 16 Unbeugsame stimmten gegen die
Vorstandsvorlagen, und der linke Delegierte Peter von Oertzen warnte davor,
die Allianz von Kapitalismus und Demokratie für das letzte Kapitel der
Geschichte zu halten: Die Verfasser des Programms „glaubten im Grunde nicht
an die Möglichkeit ernsthafter konjunktureller Rückschläge“ und hätten den
Kampf gegen die Entfremdung im Kapitalismus aufgegeben. Derlei
„philosophische Spekulationen“, so die Antwort vom Vorstandstisch, seien
„kalter Kaffee“, denn „wir kennen unseren Weg“.
Die Rechnung schien aufzugehen, die Stimmung der 1960er Jahre trug die SPD
in die Regierung, in den 1970ern modernisierten Sozialdemokraten den
Kapitalismus: Sie reformierten das Familienrecht, humanisierten die
Psychiatrie, demokratisierten das Bildungswesen, setzten etwas mehr
Mitbestimmung durch, bauten die sozialen Dienste aus. In der SPD trafen
sich die Interessen der progressiven Mittelschicht und der Lohnabhängigen,
das trug ihr 400.000 neue Mitglieder ein. Das Wort vom Rheinischen
Kapitalismus ging um die Welt.
Doch mitten im Sozialdemokratischen Jahrzehnt begann die Konjunktur zu
kippen, der Ölpreis stieg, weltweit wurden die Banker von der Leine
gelassen, und die Grenzen des Wachstums tauchten am Horizont auf. Die Zeit
des sozialdemokratischen Schönwetterkonsenses war vorbei. In Deutschland
stürzte die FDP den Kanzler Schmidt, nachdem der wirtschaftsliberale Graf
Lambsdorff einen Leitfaden zur nationalkapitalistischen Aufrüstung der
sozialen Marktwirtschaft für die anstehenden Schlachten auf den Weltmärkten
geschrieben hatte: Zähmung der Gewerkschaften, Lohnzurückhaltung,
Steuersenkungen und „Selbstverantwortung“ – ein Katalog, den die
Kohl-Kabinette in den folgenden Jahrzehnten diskret abarbeiteten.
In den Oppositionsjahren kämpften sich ein paar demokratische Sozialisten
in der Partei nach oben. Das Berliner Programm von 1989 befand:
„Reparaturen am Kapitalismus genügen nicht“, „eine neue Ordnung von
Wirtschaft und Gesellschaft“ sei nötig. Einen Monat nach dem Fall der Mauer
war das ein Anachronismus, es folgte ein weiteres Jahrzehnt Deregulierung
und Verschlankung des Sozialstaats.
1998 ging eine gespaltene Partei in den Wahlkampf, und das nicht nur wegen
der Grünen. Die Parteilinke um Oskar Lafontaine forderte eine
Wiederherstellung des Sozialstaats, eine ökologische Modernisierung und
eine neue, gerechte Weltwirtschaftsordnung. Alles intellektuell
konsensfähig, aber selbst die Theoretiker hatten kein Konzept, wie das in
einer globalisierten Weltwirtschaft umgesetzt werden könnte, und mit einer
stärkeren Belastung der wohlhabenden Mittelschichten ließen sich keine
Wahlen gewinnen. „Sie werden bluten müssen“, hatte der Grünen-Chef Joschka
Fischer noch 1997 gesagt – der Satz wurde schnell vergessen.
## Hartz IV und die Koalition der Alternativlosigkeit
So gab es zwei Wahlkampfarenen: Der Autokanzler Schröder versprach, „nicht
alles anders, aber vieles besser zu machen“, und richtete seinen Wahlkampf
auf die neue Mitte aus. Lafontaine band die ewigen Sozialisten und die
Modernisierungsverlierer. Die Wahl wurde gewonnen, aber das Bündnis hielt
keine vier Monate. Lafontaine wollte die internationalen Finanzmärkte
zügeln, ohne deren Umbau soziale Gerechtigkeit nicht herzustellen ist –
aber verpatzte es durch Ungeduld. Nachdem Gerhard Schröder ihn öffentlich
desavouiert hatte, trat er zurück.
Von da an war die Parteilinke ohne Kopf, und die Parlamentsfraktion übte
sich angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse in Loyalität zum Kanzler.
Die „gewaltige Umverteilung von oben nach unten“, verkündete Schröders
Generalsekretär Olaf Scholz, sei nun abgeschlossen, „demokratischer
Sozialismus“ ein Anachronismus. Wirtschaftsminister Wolfgang Clement
befand, wachsende Ungleichheit sei ein „Katalysator für individuelle und
gesellschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten“. Mit Hartz IV und dem „größt…
Steuersenkungsprogramm der Nachkriegsgeschichte“ stagnierten die Löhne und
stiegen die Gewinne; in zehn Jahren verlor die SPD die Hälfte ihrer Wähler
und 250.000 Mitglieder, stieg ab zum Juniorpartner in der großen Koalition
der Alternativlosigkeit, und links von der SPD entstand die dritte
sozialdemokratische Partei.
Im Bundestag sitzen nun vier miteinander koalitionsfähige Parteien, die für
soziale Sicherheit, ökologische Nachhaltigkeit, Lebensqualität und
europäische Integration eintreten – aber im Kleingedruckten ihrer
Programmschriften steht: alles in den Grenzen der Wachstumserfordernisse,
der Förderung der Exportindustrie, der Schonung der Mittelschicht – eine
„90-prozentige gesellschaftliche Großmitte“ (Wolfgang Streeck). Heute sind
wir alle Sozialdemokraten? War’s das endgültig?
Haben wir wirklich gewählt – oder gewürfelt? So fragte Niklas Luhmann schon
1994, nach der letzten Kohl-Wahl, und entwarf im Gedankenspiel eine
Parteienordnung für die Zeit nach dem Ende des Traums von der
immerwährenden Prosperität. Eigentlich müsste sich einerseits „eine
Partei für Industrie und Arbeit bilden“, deren Aufgabe es sei, die
Wettbewerbsfähigkeit auf dem globalen Markt zu sichern. Eine solche Partei
sei nur „als große Koalition denkbar – ob nun in der Form einer gemeinsamen
Regierung oder in der Form von aufgezwungenen Verständigungen“. Also das,
was wir seit der Jahrhundertwende haben.
Daraus folge, so Luhmann, die Frage nach den „Möglichkeiten einer
politischen Opposition gegen ein solches Regime“. Die nämlich sei nötig,
denn es gebe Sorgen genug, „solche, die in den neuen sozialen Bewegungen
zum Ausdruck kommen, Sorgen um Technikfolgen oder ökologische Probleme oder
Sorgen, die mit Migrationsproblemen, mit zunehmender Gewaltbereitschaft,
mit Ghettobildung in den Städten zu tun haben“. Es gehöre nicht viel
Fantasie dazu, sich vorzustellen, „dass diese Probleme in absehbarer
Zukunft an Dringlichkeit zunehmen werden“, und zwar in einer Größenordnung,
gegen die alle Interessenkonflikte der bürgerlichen Epoche trivial seien,
und mit der uns „fundamentalistische Strömungen verschiedenster Herkunft
ins Haus stehen“.
Luhmann sah die Notwendigkeit einer „organisatorisch gefestigten
Mitgliederpartei“, die ihre Politik an der Blaupause einer, wenn schon
nicht postkapitalistischen, so doch zukunftsfähigen Gesellschaft
ausrichtet. Er war pessimistisch, was ihre Entstehung angeht: „Wenn es uns
weiterhin so gut gehen wird wie bisher“, werde aus diesem Ansatz wohl kaum
eine Oppositionspartei entstehen, „die in der Lage wäre, ein
Alternativprogramm zu entwickeln, das das gesamte Spektrum der jeweils
notwendigen politischen Entscheidungen abdecken könnte“. Die Polarisierung
zwischen einer großen Koalition der Weitermacher und Wachstumsfetischisten
und einer Partei der die Zukunft gestaltenden Vernunft ist sicher eines von
Luhmanns einleuchtenden, dabei abstrakten Gedankenspiele, aber es verweist
auch auf das Integrationsproblem der SPD, in der sich Peter Glotz lange
Jahre beim Versuch aufrieb, die Partei für die neuen sozialen Bewegungen zu
öffnen und die sozialen Aktivisten von der Notwendigkeit parlamentarischer
Politik zu überzeugen.
## Widersprüchliches Gemischtwarenangebot
Die demoskopische SPD-Euphorie zum Jahresbeginn 2017 war ein Symptom für
den Wunsch nach einer solchen Partei. Die großkoalitionären Aktivitäten von
Schulz in Straßburg, seine Unterstützung des Schäuble’schen
Austeritätsdiktats gegen Griechenland dürften nicht der Grund gewesen sein.
Eher schon sein dröhnendes Gerechtigkeitspathos und die Ansage, es gehe nun
um „eine grundsätzliche Entscheidung darüber, in welcher Gesellschaft wir
leben wollen“.
Was dann im „Regierungsprogramm 2017“ folgte, war allerdings keine große
Antwort auf die großen Herausforderungen Erderwärmung, Automatisierung,
Internetmonopole, Digitalisierung, Migration, Pflegenotstand,
Europazerfall, Verteilungsunrecht, sondern ein Gemischtwarenangebot, von
allen nur denkbaren Interessengruppen und Arbeitsgemeinschaften
zusammengeklebt: noch bessere Schulen, noch bessere Pflege, bezahlbare
Mieten, Zahnersatz für alle. Und weiter und widersprüchlich: Ausbau der
Fernbusnetze, aber auch der Bahn und der Radwege, konventionelle und
biologische Landwirtschaft, tierfreundliche Massentierhaltung. Bizarr auch
das vollmundige Bekenntnis zum Asylrecht auf europäischem Boden – bei
gleichzeitiger Einrichtung von Beratungsstellen entlang der Fluchtrouten,
um den Flüchtenden „Alternativen aufzuzeigen“. Alles kam vor, aber kein
zündendes Bild des Ganzen stellte sich ein. Dafür 20 Prozent – fast schon
erstaunlich.
Selten in ihrer 150-jährigen Geschichte war die SPD so weit entfernt vom
Zeitgeist wie in den letzten 15 Jahren. Während in Davos der Kapitalismus
infrage gestellt wurde und die CDU nach links rückte, während mehr als die
Hälfte der unter 30-Jährigen glaubt, dass der Kapitalismus die Welt
zugrunde richtet, während Sahra Wagenknecht und Heiner Geißler die
Gemeinsamkeiten von christlicher Soziallehre und Sozialismus beschworen und
die Krisenbotschaften sich überschlugen, lautete die implizite Botschaft
der Partei: Mit uns wird es nur langsam schlimmer.
Sicher, 3 Prozent mehr Spitzensteuersatz, zwei Jahre weniger arbeiten, 2
Euro mehr Mindestlohn: weiter unten spürt man das. Aber das Schicksal der
holländischen und französischen Genossen zeigt, wohin das führt. Denn wenn
nicht alles trügt, haben die meisten Bürger zumindest eine Ahnung davon,
dass wir am Beginn einer neuen Epoche leben, dass die alten Strukturen
nicht mehr tragen, die fetten Jahre vorbei sind. Dieser Ahnung Wort zu
geben, wäre der erste Schritt aus der angstbesetzten Erstarrung und der
gedankendürren Alternativlosigkeit.
## Es fehlt die politische Speerspitze
„In der Wahrheit leben“, so nannte der Dissident Václav Havel im
verrottenden Sowjetsystem die Verpflichtung von Politikern. In der Wahrheit
leben, das heißt heute: die Erkenntnis aussprechen, dass alle
Dopingspritzen (weltweit inzwischen 12 Billionen Dollar) keine neue
Wachstumswelle zurückbringen, dass es ebenso teuer wird, die
„Fluchtursachen an ihrem Ursprung“ zu bekämpfen wie das Mittelmeer
militärisch dicht zu machen, dass „grüner Kapitalismus“ ein Widerspruch in
sich ist, die Klimakatastrophe nicht mit Verschmutzungszertifikaten
verhindert wird und dass einschneidende Veränderungen unserer Lebensweise
und unserer Wohlstandserwartungen anstehen – und das nicht nur bei dem
einen Prozent.
In der Wahrheit leben: eine Partei, die sich solchermaßen intellektuell
ehrlich machte, hätte wohl nicht erst auf mittlere Sicht Erfolg. Denn
unsere Gesellschaft ist an humanitären, ökologischen, sozialen Initiativen,
an genossenschaftlichen Experimenten und postkapitalistischen Enklaven
ebenso reich wie an innovativen Energieingenieuren, erfolgreichen
Ökobauern, Bildungsreformern und konzeptioneller Intelligenz. Aber all
diesen Aufbrüchen fehlt eine politische Speerspitze. Genau das wäre die
Aufgabe einer wirklich modernen Sozialdemokratie: diese Aufbruchsenergien
zu bündeln und politisch zuzuspitzen. Ziele zu definieren, die allen
einleuchten, die auch nur einen Funken Interesse an Zukunft haben. Die
„unten“ erkämpften Freiräume durch Gesetze und Institutionen abzusichern
und so die Grundlagen für eine postkapitalistische Gesellschaft zu legen.
Es müsste eine konservative Sozialdemokratie sein – konservativ im Sinne
des sizilianischen Grafen Tommaso di Lampedusa: Man muss sehr viele Regeln
und Institutionen ändern, wenn das europäische Zivilisationsmodell – nach
Bourdieu so unwahrscheinlich und kostbar wie Kant, Mozart oder Beethoven –
noch eine Zukunft haben soll. Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert: Das
hieße, langfristige gesellschaftliche Projekte zu propagieren, die auf
absehbare Notlagen nicht mit kleinen Korrekturen reagieren und damit die
alten Strukturen am Leben erhalten, sondern neue Institutionen zu
entwerfen, die das gesellschaftliche Gewebe verändern – im Interesse der
vielen, wenn nicht der meisten Bürger.
Studien schätzen, dass in den nächsten Jahrzehnten zwischen 30 und 50
Prozent der Arbeitsplätze wegautomatisierbar werden. Der kapitalistischen
Logik überlassen, wird das die Gesellschaften immer weiter in Höchstleister
und Überflüssige polarisieren. Aber eine radikale Verkürzung der
Normalarbeitszeit und eine Bildungsrevolution, die für die notwendigen
Qualifikationen sorgt, könnte eine der ältesten Forderungen der
Arbeiterbewegung und des aufgeklärten Liberalismus möglich machen: eine
Dreizeitgesellschaft, mit guter Arbeit für alle und mehr Zeit für Familie
und soziales Engagement. Fortschritt besteht schließlich nicht nur darin,
falsche Ideen vom Sockel zu stoßen, sondern auch, zu Unrecht gestürzte
wieder draufzustellen.
## Öffentliche Aufgaben für alle
Die Versorgung einer steigenden Zahl von Pflegebedürftigen, Dementen und
Psychotikern kollidiert mit der Menschenwürde, wenn Krankenhäuser und
Pflegeheime rentabel sein müssen. Die Pflege muss der Gewinnorientierung
entzogen und zur öffentlichen Aufgabe werden. Dezentrale kommunale
Einrichtungen in den Wohnvierteln wären nicht nur menschlicher, sondern
wahrscheinlich sogar billiger als die Pflegesilos am Stadtrand. Und warum
sollte eine Gesellschaft, deren Zusammenhalt schwindet, nicht über ein
anständig bezahltes allgemeines Sozialjahr für Jugendliche nachdenken –
nicht nur für die Pflege, sondern für alle sozialen, kulturellen und
pädagogischen Gemeinschaftsaufgaben, als letztes Schuljahr gleichsam,
Praktikum zur Berufsfindung und Einübung in Gesellschaftlichkeit – auch
wenn das gegen alle liberalen Impfungen verstößt.
Das Privateigentum am (nach Kant) öffentlichen Gut Boden hat zu
Spekulation, unbezahlbaren Mieten und sozialen Wüsten in den Städten und
zur Zerstörung bäuerlicher Existenzen auf dem Land geführt. Die
Privatisierung von Sozialwohnungen wie die von Elektrizität und Wasser
muss schnell verboten, Bodenpreise, Pachtzins und Mieten gedeckelt werden.
Eine angstfreie Renaissance des Wörtchens Volkseigentum könnte solche,
vermeintlich radikalen Forderungen begleiten.
Die neofeudale Zuteilung von Chancen wird zunehmend über die Privatisierung
des Bildungswesens angebahnt. Die Spaltung in verwahrlosende öffentliche
Schulen für die vielen und staatlich subventionierte, aber privat
betriebene Bildungsoasen für die wenigen muss gestoppt werden. Der
diskriminierende, mobilitätsfeindliche Bildungsföderalismus muss aufhören.
Kleiner Hinweis auf die Größenordnungen: Mit einer 0,5-prozentigen Steuer
auf Vermögen könnte die Zahl der Lehrer auf das Niveau von Finnland oder
Luxemburg gebracht werden.
Mietbremse, Konzentrationskontrolle, kommunaler Wohnungsbau,
Bodenrechtsreform, Agrarwende, Bildungsexpansion – es wären
systemüberwindende Reformen, die den Raum der öffentlichen Güter und der
Daseinsfürsorge erweitern und alles, was ein gutes Leben sichert, dem Markt
entziehen würden. Ein investierender, aktiver Staat wäre die epochale
Antwort auf eine Wirtschaft, deren Dynamik das Leben der Einzelnen
zunehmend unsicher macht und die Grundlagen des Wohlstands zerstört.
## Der Zukunftsstaat
Den Zukunftsstaat schaffen, so hieß die Parole der alten Sozialdemokratie
zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und nicht irgendwelche Spinner, sondern
Parlamentarier wie August Bebel haben diese Vision sehr konkret
ausgepinselt, als motivierenden Horizont ihres täglichen Handelns und
Hinweis auf ein Ziel, das nicht in soundso vielen Legislaturperioden
erreicht werden kann, aber den Polarstern der sozialistischen Politik
abgibt. Zukunftsstaat – das ist ein Wort, das auch heute wieder
verheißungsvoll klingen könnte, denn wenn nicht alles täuscht, hat die
„Verunglimpfung des öffentlichen Sektors“ (Paul Krugman) an Popularität
verloren, und die Idee, dass „Staat eine Kraft des Guten“ sei (Thomas
Friedman), gewinnt an Boden.
Aber ein Bebel des 21. Jahrhunderts wird noch gesucht.
Zukunftsstaat – das heißt heute natürlich: mehr Europa. Ohne europäische
Steuergesetze werden Google, Amazon, Facebook und Apple weiterhin von
Steuerdumping profitieren. Ohne europäische Beschäftigungsinitiativen wird
die Jugendarbeitslosigkeit auf Dauer gestellt. Ohne eine Europäisierung von
Arbeitsrecht und Sozialpolitik werden alle nationalen Reformen an Grenzen
stoßen.
Für die SPD hieße das: alles unterstützen, was die demokratischen
Mechanismen der Union und der Eurozone vertieft, und gleichzeitig mit allen
noch vitalen Sozialdemokratien kooperieren, als da sind: Podemos, Syriza,
die portugiesischen Sozialisten – und die erneuerte Labour Party. Den
wirtschaftsliberalen Impuls Emmanuel Macrons aufnehmend, müsste eine
europäische Sozialdemokratie große, transnationale Investitionsprogramme
fordern – für erneuerbare Energien oder transnationale Verkehrsnetze. Die
Chancen für diese Vision eines „Grand European Left Designs“ sind derzeit
hoch unwahrscheinlich. Im nächsten Schritt geht es darum (vor allem in
Deutschland, Italien, Frankreich), regierungstaugliche linke Koalitionen zu
schmieden, die diese Perspektive nicht ausschließen.
Bleibt die Frage nach dem Personal. Die SPD hat nur noch 400.000
eingetragene Mitglieder. Ihr Kern sind nur rund 80.000 ämterorientierte
Aktive: Funktionäre von Partei, Gewerkschaften, Verbänden; Kommunalbeamte,
Sparkassendirektoren, Landräte, Schulräte, Bauamtsabteilungsleiter – kurz
und nicht ganz gerecht gesagt: akademisch gebildete Mittelschichtler, die
auf allen Ebenen das Rückgrat des Staates bilden, ohne die nichts läuft,
die von ihm leben, eine Schicht, aus der sich fast die Hälfte der
Bundestagsabgeordneten rekrutiert.
## Mehr als ein paar Klicks bei Campact
Grundsätzliche Richtungsänderungen sind von ihnen nicht zu erwarten,
solange die Generation Schröder nicht in Rente geht. Das heißt aber auch:
80.000 Bürger, denen es nicht mehr reicht, ab und zu ein mit ein paar
Klicks bei Campact wirksam zu sein, könnten sehr schnell für eine
Erneuerung des Personals sorgen – wie in den 1970er Jahren schon einmal.
Irreal? In England hat die Bewegung Momentum es geschafft, innerhalb eines
Jahres die Mitgliedschaft von Labour auf 600.000 zu verdreifachen. For the
many, not the few – so lautet das neue Mantra der Labour Partei. Das klingt
auf Deutsch nicht ganz so knackig; aber die SPD könnte es ja vorerst mal
mit T-Shirts versuchen, auf denen vorne 14,2 GG steht und hinten „Eigentum
verpflichtet“.
Bleibt noch die Frage am Ende aller Küchengespräche: Warum sind wir so
resigniert und politikmüde? Warum erobern nicht die 18- bis 35-Jährigen
diesen immer noch intakten Apparat? Dafür gibt es viele Gründe und alle
paar Monate eine neue soziologische Deutung: Der Wohlstand hat uns mit
Konsumindividualismus imprägniert; die Singularitätsgesellschaft verhindert
Solidarität; die Abstiegsgesellschaft zerreibt die Motivation;
Institutionen mit Mitgliedschaft und Verbindlichkeit sind den Kindern der
Erlebnisgesellschaft nicht cool genug; die Gier der Mittelschicht ist
märchenhaft; die Medien der Aufmerksamkeitsgesellschaft zerstreuen die Wut.
Außerdem geht es den meisten immer noch besser als anderswo, und wenn es
bei den Jungen finanziell klemmt, helfen die Eltern mit dem Erbe der fetten
Jahre.
So viel zum subjektiven Faktor. All das spielt eine Rolle. Aber darunter
liegt ein harter Grund für das anhaltende Einverständnis mit unhaltbaren
und unmoralischen Zuständen. Insgeheim wissen doch alle: Die Herstellung
von mehr Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft wäre eine Herkulesaufgabe,
aber eine lächerlich kleine Anstrengung verglichen mit einer Bearbeitung
der globalen Probleme. Die anbrechende Warmzeit, die
Armutsvölkerwanderungen, die Verwüstung der Restnatur, die Gewalt, die aus
Armut und Unterdrückung kommt – all das wäre nur zu verhindern oder auch
nur zu lindern, wenn wir im Westen unsere „imperiale Lebensweise“ radikal
ändern, und das heißt, trotz aller Beschönigungen über „grünes Wachstum�…
Verzicht.
Offenbar aber hält die parlamentarische Klasse ein Leben ohne easyjet,
Nackensteaks für 2,99, Verbrauchstextilien, frisches Obst im Winter und
alle Jahre neue Smartphones nicht für mehrheitsfähig. Das ist nichts
anderes als Elitenversagen: eine zynische Unterschätzung der
intellektuellen und der moralischen Ressourcen derjenigen, die hart
arbeiten und wissen, dass wir neue Regeln brauchen.
Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert: Das wäre der Versuch, die Erfahrung zu
widerlegen, dass Institutionen und Mentalitäten sich nur nach Katastrophen
oder Kriegen umbauen lassen. Dagegen allerdings steht Bertolt Brechts
fatalistische Einsicht, dass Umwälzungen nur in Sackgassen stattfinden.
11 Jan 2018
## AUTOREN
Mathias Greffrath
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