| # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Mit uns wird's nur langsam schlimmer | |
| > Braucht es die SPD noch? Die fetten Jahre sind vorbei, doch die Partei | |
| > bietet statt Lösungen nur ein widersprüchliches Gemischtwarenangebot. | |
| Bild: Zum inbrünstigen Singen von Arbeiterliedern reichte es noch (Archivbild … | |
| „Wollen wir das Grundsatzprogramm an den objektiven Tatbeständen, an den | |
| wirklichen sachlichen Erfordernissen ausrichten … oder wollen wir uns damit | |
| begnügen, nur das zu fordern und zu verlangen, was nun einmal, wie die | |
| Dinge liegen, in den nächsten ein, zwei, drei Jahren Aussicht hat, bei der | |
| Wahl einen guten Effekt zu erzielen?“ Peter von Oertzen auf dem Godesberger | |
| Parteitag 1959 | |
| Drei Monate sozialdemokratischer Selbstfindung im Zeitraffer: Sigmar | |
| Gabriel warnt vor einem linken Gerechtigkeitsdiskurs, Martin Schulz fordert | |
| mehr Antikapitalismus, Olaf Scholz mehr Realismus, Schulz will in die | |
| Opposition, Scholz will Neuwahlen. Der Vorsitzende fordert die Urwahl der | |
| Parteispitzen, der Generalsekretär warnt vor zu viel Basis. Andrea Nahles | |
| kritisiert die Sehnsucht nach der Nische, Michael Naumann empfiehlt der | |
| Partei „das Plumeau der großen Koalition“, Matthias Miersch erfindet die | |
| Kooperationskoalition, Gabriel dekonstruiert postmoderne Verirrungen und | |
| plädiert für Heimatgefühl, Scholz gibt zu Protokoll, dass man mit einem | |
| Mindestlohnversprechen von 12 Euro die Wahl hätte gewinnen können, und ist | |
| immer noch für Neuwahlen. | |
| Seit ein paar Wochen hört man aus den Vorstandsetagen „Erst das Land, dann | |
| die Partei“, und die Strategen versuchen herauszufinden, ob | |
| Bürgerversicherung, weniger Bildungsföderalismus, Familiennachzug und ein | |
| wenig Reichensteuer die SPD wieder in Richtung 30 Prozent oder weiter in | |
| den Abgrund führen, aber noch will die Basis in die Opposition. Die | |
| Ex-Juso-Vorsitzende Uekermann stöhnt: „Wir müssen die Frage beantworten: | |
| Wofür braucht es die SPD heute noch?“ | |
| Die Frage steht seit 1983 im Raum, als der liberale Soziologe Ralf | |
| Dahrendorf der SPD schon einen schönen Grabstein setzte: „Wir sind (fast) | |
| alle Sozialdemokraten geworden, haben Vorstellungen zur | |
| Selbstverständlichkeit werden lassen, die das Thema des | |
| sozialdemokratischen Jahrhunderts definieren: Wachstum, Gleichheit, Arbeit, | |
| Vernunft, Staat, Internationalismus.“ Aber angesichts der Globalisierung | |
| sei der sozialdemokratische Fortschritt nun leider „ein Thema von gestern“. | |
| ## Ein gutes Jahrzehnt | |
| Das sozialdemokratische Jahrhundert? Eigentlich war es nur ein gutes | |
| Jahrzehnt gewesen. Nach drei krachenden Niederlagen hatte die SPD 1959 ihre | |
| Nachkriegsradikalität abgeworfen, die Vergesellschaftung der | |
| Montan-Monopole und Großbanken gegen die sichere Teilhabe am stetig | |
| wachsenden Wohlstand eingetauscht. Die Garantie für das Privateigentum an | |
| den Produktionsmitteln fiel im Godesberger Programm großzügiger aus als im | |
| Grundgesetz, die Begrifflichkeiten wurden auf Wählbarkeit durch die | |
| gesellschaftliche Mitte getrimmt. Nur 16 Unbeugsame stimmten gegen die | |
| Vorstandsvorlagen, und der linke Delegierte Peter von Oertzen warnte davor, | |
| die Allianz von Kapitalismus und Demokratie für das letzte Kapitel der | |
| Geschichte zu halten: Die Verfasser des Programms „glaubten im Grunde nicht | |
| an die Möglichkeit ernsthafter konjunktureller Rückschläge“ und hätten den | |
| Kampf gegen die Entfremdung im Kapitalismus aufgegeben. Derlei | |
| „philosophische Spekulationen“, so die Antwort vom Vorstandstisch, seien | |
| „kalter Kaffee“, denn „wir kennen unseren Weg“. | |
| Die Rechnung schien aufzugehen, die Stimmung der 1960er Jahre trug die SPD | |
| in die Regierung, in den 1970ern modernisierten Sozialdemokraten den | |
| Kapitalismus: Sie reformierten das Familienrecht, humanisierten die | |
| Psychiatrie, demokratisierten das Bildungswesen, setzten etwas mehr | |
| Mitbestimmung durch, bauten die sozialen Dienste aus. In der SPD trafen | |
| sich die Interessen der progressiven Mittelschicht und der Lohnabhängigen, | |
| das trug ihr 400.000 neue Mitglieder ein. Das Wort vom Rheinischen | |
| Kapitalismus ging um die Welt. | |
| Doch mitten im Sozialdemokratischen Jahrzehnt begann die Konjunktur zu | |
| kippen, der Ölpreis stieg, weltweit wurden die Banker von der Leine | |
| gelassen, und die Grenzen des Wachstums tauchten am Horizont auf. Die Zeit | |
| des sozialdemokratischen Schönwetterkonsenses war vorbei. In Deutschland | |
| stürzte die FDP den Kanzler Schmidt, nachdem der wirtschaftsliberale Graf | |
| Lambsdorff einen Leitfaden zur nationalkapitalistischen Aufrüstung der | |
| sozialen Marktwirtschaft für die anstehenden Schlachten auf den Weltmärkten | |
| geschrieben hatte: Zähmung der Gewerkschaften, Lohnzurückhaltung, | |
| Steuersenkungen und „Selbstverantwortung“ – ein Katalog, den die | |
| Kohl-Kabinette in den folgenden Jahrzehnten diskret abarbeiteten. | |
| In den Oppositionsjahren kämpften sich ein paar demokratische Sozialisten | |
| in der Partei nach oben. Das Berliner Programm von 1989 befand: | |
| „Reparaturen am Kapitalismus genügen nicht“, „eine neue Ordnung von | |
| Wirtschaft und Gesellschaft“ sei nötig. Einen Monat nach dem Fall der Mauer | |
| war das ein Anachronismus, es folgte ein weiteres Jahrzehnt Deregulierung | |
| und Verschlankung des Sozialstaats. | |
| 1998 ging eine gespaltene Partei in den Wahlkampf, und das nicht nur wegen | |
| der Grünen. Die Parteilinke um Oskar Lafontaine forderte eine | |
| Wiederherstellung des Sozialstaats, eine ökologische Modernisierung und | |
| eine neue, gerechte Weltwirtschaftsordnung. Alles intellektuell | |
| konsensfähig, aber selbst die Theoretiker hatten kein Konzept, wie das in | |
| einer globalisierten Weltwirtschaft umgesetzt werden könnte, und mit einer | |
| stärkeren Belastung der wohlhabenden Mittelschichten ließen sich keine | |
| Wahlen gewinnen. „Sie werden bluten müssen“, hatte der Grünen-Chef Joschka | |
| Fischer noch 1997 gesagt – der Satz wurde schnell vergessen. | |
| ## Hartz IV und die Koalition der Alternativlosigkeit | |
| So gab es zwei Wahlkampfarenen: Der Autokanzler Schröder versprach, „nicht | |
| alles anders, aber vieles besser zu machen“, und richtete seinen Wahlkampf | |
| auf die neue Mitte aus. Lafontaine band die ewigen Sozialisten und die | |
| Modernisierungsverlierer. Die Wahl wurde gewonnen, aber das Bündnis hielt | |
| keine vier Monate. Lafontaine wollte die internationalen Finanzmärkte | |
| zügeln, ohne deren Umbau soziale Gerechtigkeit nicht herzustellen ist – | |
| aber verpatzte es durch Ungeduld. Nachdem Gerhard Schröder ihn öffentlich | |
| desavouiert hatte, trat er zurück. | |
| Von da an war die Parteilinke ohne Kopf, und die Parlamentsfraktion übte | |
| sich angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse in Loyalität zum Kanzler. | |
| Die „gewaltige Umverteilung von oben nach unten“, verkündete Schröders | |
| Generalsekretär Olaf Scholz, sei nun abgeschlossen, „demokratischer | |
| Sozialismus“ ein Anachronismus. Wirtschaftsminister Wolfgang Clement | |
| befand, wachsende Ungleichheit sei ein „Katalysator für individuelle und | |
| gesellschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten“. Mit Hartz IV und dem „größt… | |
| Steuersenkungsprogramm der Nachkriegsgeschichte“ stagnierten die Löhne und | |
| stiegen die Gewinne; in zehn Jahren verlor die SPD die Hälfte ihrer Wähler | |
| und 250.000 Mitglieder, stieg ab zum Juniorpartner in der großen Koalition | |
| der Alternativlosigkeit, und links von der SPD entstand die dritte | |
| sozialdemokratische Partei. | |
| Im Bundestag sitzen nun vier miteinander koalitionsfähige Parteien, die für | |
| soziale Sicherheit, ökologische Nachhaltigkeit, Lebensqualität und | |
| europäische Integration eintreten – aber im Kleingedruckten ihrer | |
| Programmschriften steht: alles in den Grenzen der Wachstumserfordernisse, | |
| der Förderung der Exportindustrie, der Schonung der Mittelschicht – eine | |
| „90-prozentige gesellschaftliche Großmitte“ (Wolfgang Streeck). Heute sind | |
| wir alle Sozialdemokraten? War’s das endgültig? | |
| Haben wir wirklich gewählt – oder gewürfelt? So fragte Niklas Luhmann schon | |
| 1994, nach der letzten Kohl-Wahl, und entwarf im Gedankenspiel eine | |
| Parteienordnung für die Zeit nach dem Ende des Traums von der | |
| immerwährenden Prosperität. Eigentlich müsste sich einerseits „eine | |
| Partei für Industrie und Arbeit bilden“, deren Aufgabe es sei, die | |
| Wettbewerbsfähigkeit auf dem globalen Markt zu sichern. Eine solche Partei | |
| sei nur „als große Koalition denkbar – ob nun in der Form einer gemeinsamen | |
| Regierung oder in der Form von aufgezwungenen Verständigungen“. Also das, | |
| was wir seit der Jahrhundertwende haben. | |
| Daraus folge, so Luhmann, die Frage nach den „Möglichkeiten einer | |
| politischen Opposition gegen ein solches Regime“. Die nämlich sei nötig, | |
| denn es gebe Sorgen genug, „solche, die in den neuen sozialen Bewegungen | |
| zum Ausdruck kommen, Sorgen um Technikfolgen oder ökologische Probleme oder | |
| Sorgen, die mit Migrationsproblemen, mit zunehmender Gewaltbereitschaft, | |
| mit Ghettobildung in den Städten zu tun haben“. Es gehöre nicht viel | |
| Fantasie dazu, sich vorzustellen, „dass diese Probleme in absehbarer | |
| Zukunft an Dringlichkeit zunehmen werden“, und zwar in einer Größenordnung, | |
| gegen die alle Interessenkonflikte der bürgerlichen Epoche trivial seien, | |
| und mit der uns „fundamentalistische Strömungen verschiedenster Herkunft | |
| ins Haus stehen“. | |
| Luhmann sah die Notwendigkeit einer „organisatorisch gefestigten | |
| Mitgliederpartei“, die ihre Politik an der Blaupause einer, wenn schon | |
| nicht postkapitalistischen, so doch zukunftsfähigen Gesellschaft | |
| ausrichtet. Er war pessimistisch, was ihre Entstehung angeht: „Wenn es uns | |
| weiterhin so gut gehen wird wie bisher“, werde aus diesem Ansatz wohl kaum | |
| eine Oppositionspartei entstehen, „die in der Lage wäre, ein | |
| Alternativprogramm zu entwickeln, das das gesamte Spektrum der jeweils | |
| notwendigen politischen Entscheidungen abdecken könnte“. Die Polarisierung | |
| zwischen einer großen Koalition der Weitermacher und Wachstumsfetischisten | |
| und einer Partei der die Zukunft gestaltenden Vernunft ist sicher eines von | |
| Luhmanns einleuchtenden, dabei abstrakten Gedankenspiele, aber es verweist | |
| auch auf das Integrationsproblem der SPD, in der sich Peter Glotz lange | |
| Jahre beim Versuch aufrieb, die Partei für die neuen sozialen Bewegungen zu | |
| öffnen und die sozialen Aktivisten von der Notwendigkeit parlamentarischer | |
| Politik zu überzeugen. | |
| ## Widersprüchliches Gemischtwarenangebot | |
| Die demoskopische SPD-Euphorie zum Jahresbeginn 2017 war ein Symptom für | |
| den Wunsch nach einer solchen Partei. Die großkoalitionären Aktivitäten von | |
| Schulz in Straßburg, seine Unterstützung des Schäuble’schen | |
| Austeritätsdiktats gegen Griechenland dürften nicht der Grund gewesen sein. | |
| Eher schon sein dröhnendes Gerechtigkeitspathos und die Ansage, es gehe nun | |
| um „eine grundsätzliche Entscheidung darüber, in welcher Gesellschaft wir | |
| leben wollen“. | |
| Was dann im „Regierungsprogramm 2017“ folgte, war allerdings keine große | |
| Antwort auf die großen Herausforderungen Erderwärmung, Automatisierung, | |
| Internetmonopole, Digitalisierung, Migration, Pflegenotstand, | |
| Europazerfall, Verteilungsunrecht, sondern ein Gemischtwarenangebot, von | |
| allen nur denkbaren Interessengruppen und Arbeitsgemeinschaften | |
| zusammengeklebt: noch bessere Schulen, noch bessere Pflege, bezahlbare | |
| Mieten, Zahnersatz für alle. Und weiter und widersprüchlich: Ausbau der | |
| Fernbusnetze, aber auch der Bahn und der Radwege, konventionelle und | |
| biologische Landwirtschaft, tierfreundliche Massentierhaltung. Bizarr auch | |
| das vollmundige Bekenntnis zum Asylrecht auf europäischem Boden – bei | |
| gleichzeitiger Einrichtung von Beratungsstellen entlang der Fluchtrouten, | |
| um den Flüchtenden „Alternativen aufzuzeigen“. Alles kam vor, aber kein | |
| zündendes Bild des Ganzen stellte sich ein. Dafür 20 Prozent – fast schon | |
| erstaunlich. | |
| Selten in ihrer 150-jährigen Geschichte war die SPD so weit entfernt vom | |
| Zeitgeist wie in den letzten 15 Jahren. Während in Davos der Kapitalismus | |
| infrage gestellt wurde und die CDU nach links rückte, während mehr als die | |
| Hälfte der unter 30-Jährigen glaubt, dass der Kapitalismus die Welt | |
| zugrunde richtet, während Sahra Wagenknecht und Heiner Geißler die | |
| Gemeinsamkeiten von christlicher Soziallehre und Sozialismus beschworen und | |
| die Krisenbotschaften sich überschlugen, lautete die implizite Botschaft | |
| der Partei: Mit uns wird es nur langsam schlimmer. | |
| Sicher, 3 Prozent mehr Spitzensteuersatz, zwei Jahre weniger arbeiten, 2 | |
| Euro mehr Mindestlohn: weiter unten spürt man das. Aber das Schicksal der | |
| holländischen und französischen Genossen zeigt, wohin das führt. Denn wenn | |
| nicht alles trügt, haben die meisten Bürger zumindest eine Ahnung davon, | |
| dass wir am Beginn einer neuen Epoche leben, dass die alten Strukturen | |
| nicht mehr tragen, die fetten Jahre vorbei sind. Dieser Ahnung Wort zu | |
| geben, wäre der erste Schritt aus der angstbesetzten Erstarrung und der | |
| gedankendürren Alternativlosigkeit. | |
| ## Es fehlt die politische Speerspitze | |
| „In der Wahrheit leben“, so nannte der Dissident Václav Havel im | |
| verrottenden Sowjetsystem die Verpflichtung von Politikern. In der Wahrheit | |
| leben, das heißt heute: die Erkenntnis aussprechen, dass alle | |
| Dopingspritzen (weltweit inzwischen 12 Billionen Dollar) keine neue | |
| Wachstumswelle zurückbringen, dass es ebenso teuer wird, die | |
| „Fluchtursachen an ihrem Ursprung“ zu bekämpfen wie das Mittelmeer | |
| militärisch dicht zu machen, dass „grüner Kapitalismus“ ein Widerspruch in | |
| sich ist, die Klimakatastrophe nicht mit Verschmutzungszertifikaten | |
| verhindert wird und dass einschneidende Veränderungen unserer Lebensweise | |
| und unserer Wohlstandserwartungen anstehen – und das nicht nur bei dem | |
| einen Prozent. | |
| In der Wahrheit leben: eine Partei, die sich solchermaßen intellektuell | |
| ehrlich machte, hätte wohl nicht erst auf mittlere Sicht Erfolg. Denn | |
| unsere Gesellschaft ist an humanitären, ökologischen, sozialen Initiativen, | |
| an genossenschaftlichen Experimenten und postkapitalistischen Enklaven | |
| ebenso reich wie an innovativen Energieingenieuren, erfolgreichen | |
| Ökobauern, Bildungsreformern und konzeptioneller Intelligenz. Aber all | |
| diesen Aufbrüchen fehlt eine politische Speerspitze. Genau das wäre die | |
| Aufgabe einer wirklich modernen Sozialdemokratie: diese Aufbruchsenergien | |
| zu bündeln und politisch zuzuspitzen. Ziele zu definieren, die allen | |
| einleuchten, die auch nur einen Funken Interesse an Zukunft haben. Die | |
| „unten“ erkämpften Freiräume durch Gesetze und Institutionen abzusichern | |
| und so die Grundlagen für eine postkapitalistische Gesellschaft zu legen. | |
| Es müsste eine konservative Sozialdemokratie sein – konservativ im Sinne | |
| des sizilianischen Grafen Tommaso di Lampedusa: Man muss sehr viele Regeln | |
| und Institutionen ändern, wenn das europäische Zivilisationsmodell – nach | |
| Bourdieu so unwahrscheinlich und kostbar wie Kant, Mozart oder Beethoven – | |
| noch eine Zukunft haben soll. Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert: Das | |
| hieße, langfristige gesellschaftliche Projekte zu propagieren, die auf | |
| absehbare Notlagen nicht mit kleinen Korrekturen reagieren und damit die | |
| alten Strukturen am Leben erhalten, sondern neue Institutionen zu | |
| entwerfen, die das gesellschaftliche Gewebe verändern – im Interesse der | |
| vielen, wenn nicht der meisten Bürger. | |
| Studien schätzen, dass in den nächsten Jahrzehnten zwischen 30 und 50 | |
| Prozent der Arbeitsplätze wegautomatisierbar werden. Der kapitalistischen | |
| Logik überlassen, wird das die Gesellschaften immer weiter in Höchstleister | |
| und Überflüssige polarisieren. Aber eine radikale Verkürzung der | |
| Normalarbeitszeit und eine Bildungsrevolution, die für die notwendigen | |
| Qualifikationen sorgt, könnte eine der ältesten Forderungen der | |
| Arbeiterbewegung und des aufgeklärten Liberalismus möglich machen: eine | |
| Dreizeitgesellschaft, mit guter Arbeit für alle und mehr Zeit für Familie | |
| und soziales Engagement. Fortschritt besteht schließlich nicht nur darin, | |
| falsche Ideen vom Sockel zu stoßen, sondern auch, zu Unrecht gestürzte | |
| wieder draufzustellen. | |
| ## Öffentliche Aufgaben für alle | |
| Die Versorgung einer steigenden Zahl von Pflegebedürftigen, Dementen und | |
| Psychotikern kollidiert mit der Menschenwürde, wenn Krankenhäuser und | |
| Pflegeheime rentabel sein müssen. Die Pflege muss der Gewinnorientierung | |
| entzogen und zur öffentlichen Aufgabe werden. Dezentrale kommunale | |
| Einrichtungen in den Wohnvierteln wären nicht nur menschlicher, sondern | |
| wahrscheinlich sogar billiger als die Pflegesilos am Stadtrand. Und warum | |
| sollte eine Gesellschaft, deren Zusammenhalt schwindet, nicht über ein | |
| anständig bezahltes allgemeines Sozialjahr für Jugendliche nachdenken – | |
| nicht nur für die Pflege, sondern für alle sozialen, kulturellen und | |
| pädagogischen Gemeinschaftsaufgaben, als letztes Schuljahr gleichsam, | |
| Praktikum zur Berufsfindung und Einübung in Gesellschaftlichkeit – auch | |
| wenn das gegen alle liberalen Impfungen verstößt. | |
| Das Privateigentum am (nach Kant) öffentlichen Gut Boden hat zu | |
| Spekulation, unbezahlbaren Mieten und sozialen Wüsten in den Städten und | |
| zur Zerstörung bäuerlicher Existenzen auf dem Land geführt. Die | |
| Privatisierung von Sozialwohnungen wie die von Elektrizität und Wasser | |
| muss schnell verboten, Bodenpreise, Pachtzins und Mieten gedeckelt werden. | |
| Eine angstfreie Renaissance des Wörtchens Volkseigentum könnte solche, | |
| vermeintlich radikalen Forderungen begleiten. | |
| Die neofeudale Zuteilung von Chancen wird zunehmend über die Privatisierung | |
| des Bildungswesens angebahnt. Die Spaltung in verwahrlosende öffentliche | |
| Schulen für die vielen und staatlich subventionierte, aber privat | |
| betriebene Bildungsoasen für die wenigen muss gestoppt werden. Der | |
| diskriminierende, mobilitätsfeindliche Bildungsföderalismus muss aufhören. | |
| Kleiner Hinweis auf die Größenordnungen: Mit einer 0,5-prozentigen Steuer | |
| auf Vermögen könnte die Zahl der Lehrer auf das Niveau von Finnland oder | |
| Luxemburg gebracht werden. | |
| Mietbremse, Konzentrationskontrolle, kommunaler Wohnungsbau, | |
| Bodenrechtsreform, Agrarwende, Bildungsexpansion – es wären | |
| systemüberwindende Reformen, die den Raum der öffentlichen Güter und der | |
| Daseinsfürsorge erweitern und alles, was ein gutes Leben sichert, dem Markt | |
| entziehen würden. Ein investierender, aktiver Staat wäre die epochale | |
| Antwort auf eine Wirtschaft, deren Dynamik das Leben der Einzelnen | |
| zunehmend unsicher macht und die Grundlagen des Wohlstands zerstört. | |
| ## Der Zukunftsstaat | |
| Den Zukunftsstaat schaffen, so hieß die Parole der alten Sozialdemokratie | |
| zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und nicht irgendwelche Spinner, sondern | |
| Parlamentarier wie August Bebel haben diese Vision sehr konkret | |
| ausgepinselt, als motivierenden Horizont ihres täglichen Handelns und | |
| Hinweis auf ein Ziel, das nicht in soundso vielen Legislaturperioden | |
| erreicht werden kann, aber den Polarstern der sozialistischen Politik | |
| abgibt. Zukunftsstaat – das ist ein Wort, das auch heute wieder | |
| verheißungsvoll klingen könnte, denn wenn nicht alles täuscht, hat die | |
| „Verunglimpfung des öffentlichen Sektors“ (Paul Krugman) an Popularität | |
| verloren, und die Idee, dass „Staat eine Kraft des Guten“ sei (Thomas | |
| Friedman), gewinnt an Boden. | |
| Aber ein Bebel des 21. Jahrhunderts wird noch gesucht. | |
| Zukunftsstaat – das heißt heute natürlich: mehr Europa. Ohne europäische | |
| Steuergesetze werden Google, Amazon, Facebook und Apple weiterhin von | |
| Steuerdumping profitieren. Ohne europäische Beschäftigungsinitiativen wird | |
| die Jugendarbeitslosigkeit auf Dauer gestellt. Ohne eine Europäisierung von | |
| Arbeitsrecht und Sozialpolitik werden alle nationalen Reformen an Grenzen | |
| stoßen. | |
| Für die SPD hieße das: alles unterstützen, was die demokratischen | |
| Mechanismen der Union und der Eurozone vertieft, und gleichzeitig mit allen | |
| noch vitalen Sozialdemokratien kooperieren, als da sind: Podemos, Syriza, | |
| die portugiesischen Sozialisten – und die erneuerte Labour Party. Den | |
| wirtschaftsliberalen Impuls Emmanuel Macrons aufnehmend, müsste eine | |
| europäische Sozialdemokratie große, transnationale Investitionsprogramme | |
| fordern – für erneuerbare Energien oder transnationale Verkehrsnetze. Die | |
| Chancen für diese Vision eines „Grand European Left Designs“ sind derzeit | |
| hoch unwahrscheinlich. Im nächsten Schritt geht es darum (vor allem in | |
| Deutschland, Italien, Frankreich), regierungstaugliche linke Koalitionen zu | |
| schmieden, die diese Perspektive nicht ausschließen. | |
| Bleibt die Frage nach dem Personal. Die SPD hat nur noch 400.000 | |
| eingetragene Mitglieder. Ihr Kern sind nur rund 80.000 ämterorientierte | |
| Aktive: Funktionäre von Partei, Gewerkschaften, Verbänden; Kommunalbeamte, | |
| Sparkassendirektoren, Landräte, Schulräte, Bauamtsabteilungsleiter – kurz | |
| und nicht ganz gerecht gesagt: akademisch gebildete Mittelschichtler, die | |
| auf allen Ebenen das Rückgrat des Staates bilden, ohne die nichts läuft, | |
| die von ihm leben, eine Schicht, aus der sich fast die Hälfte der | |
| Bundestagsabgeordneten rekrutiert. | |
| ## Mehr als ein paar Klicks bei Campact | |
| Grundsätzliche Richtungsänderungen sind von ihnen nicht zu erwarten, | |
| solange die Generation Schröder nicht in Rente geht. Das heißt aber auch: | |
| 80.000 Bürger, denen es nicht mehr reicht, ab und zu ein mit ein paar | |
| Klicks bei Campact wirksam zu sein, könnten sehr schnell für eine | |
| Erneuerung des Personals sorgen – wie in den 1970er Jahren schon einmal. | |
| Irreal? In England hat die Bewegung Momentum es geschafft, innerhalb eines | |
| Jahres die Mitgliedschaft von Labour auf 600.000 zu verdreifachen. For the | |
| many, not the few – so lautet das neue Mantra der Labour Partei. Das klingt | |
| auf Deutsch nicht ganz so knackig; aber die SPD könnte es ja vorerst mal | |
| mit T-Shirts versuchen, auf denen vorne 14,2 GG steht und hinten „Eigentum | |
| verpflichtet“. | |
| Bleibt noch die Frage am Ende aller Küchengespräche: Warum sind wir so | |
| resigniert und politikmüde? Warum erobern nicht die 18- bis 35-Jährigen | |
| diesen immer noch intakten Apparat? Dafür gibt es viele Gründe und alle | |
| paar Monate eine neue soziologische Deutung: Der Wohlstand hat uns mit | |
| Konsumindividualismus imprägniert; die Singularitätsgesellschaft verhindert | |
| Solidarität; die Abstiegsgesellschaft zerreibt die Motivation; | |
| Institutionen mit Mitgliedschaft und Verbindlichkeit sind den Kindern der | |
| Erlebnisgesellschaft nicht cool genug; die Gier der Mittelschicht ist | |
| märchenhaft; die Medien der Aufmerksamkeitsgesellschaft zerstreuen die Wut. | |
| Außerdem geht es den meisten immer noch besser als anderswo, und wenn es | |
| bei den Jungen finanziell klemmt, helfen die Eltern mit dem Erbe der fetten | |
| Jahre. | |
| So viel zum subjektiven Faktor. All das spielt eine Rolle. Aber darunter | |
| liegt ein harter Grund für das anhaltende Einverständnis mit unhaltbaren | |
| und unmoralischen Zuständen. Insgeheim wissen doch alle: Die Herstellung | |
| von mehr Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft wäre eine Herkulesaufgabe, | |
| aber eine lächerlich kleine Anstrengung verglichen mit einer Bearbeitung | |
| der globalen Probleme. Die anbrechende Warmzeit, die | |
| Armutsvölkerwanderungen, die Verwüstung der Restnatur, die Gewalt, die aus | |
| Armut und Unterdrückung kommt – all das wäre nur zu verhindern oder auch | |
| nur zu lindern, wenn wir im Westen unsere „imperiale Lebensweise“ radikal | |
| ändern, und das heißt, trotz aller Beschönigungen über „grünes Wachstum�… | |
| Verzicht. | |
| Offenbar aber hält die parlamentarische Klasse ein Leben ohne easyjet, | |
| Nackensteaks für 2,99, Verbrauchstextilien, frisches Obst im Winter und | |
| alle Jahre neue Smartphones nicht für mehrheitsfähig. Das ist nichts | |
| anderes als Elitenversagen: eine zynische Unterschätzung der | |
| intellektuellen und der moralischen Ressourcen derjenigen, die hart | |
| arbeiten und wissen, dass wir neue Regeln brauchen. | |
| Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert: Das wäre der Versuch, die Erfahrung zu | |
| widerlegen, dass Institutionen und Mentalitäten sich nur nach Katastrophen | |
| oder Kriegen umbauen lassen. Dagegen allerdings steht Bertolt Brechts | |
| fatalistische Einsicht, dass Umwälzungen nur in Sackgassen stattfinden. | |
| 11 Jan 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Mathias Greffrath | |
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