Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Debatte Zukunft der Demokratie: Das beste Deutschland aller Zeiten
> Schluss mit der Larmoyanz! Wenn wir etwas bewegen wollen, müssen wir
> akzeptieren, was wir erreicht haben. Denn früher war das meiste
> schlechter.
Bild: Mit revolutionären Gesten lässt sich die Gesellschaft nicht mehr weiter…
Ist es nicht an der Zeit, all das zu feiern, was wir sind? Nun, da es genug
Feinde unserer freien Gesellschaft gibt, genug Widersacher der Demokratie
und Verächter der Vielfalt? Wenn Neurechte Europa als untergehendes
Abendland verpönen und Rassisten unsere Regierung als Zerstörerin des
deutschen Volkes ausrufen; wenn Marine Le Pen Liberalität und französische
Toleranz [1][als den dünkelhaften Habitus einer intellektuellen Elite
präsentiert]: Müssen wir dann nicht für diese offene Gesellschaft Partei
ergreifen – und zwar wortwörtlich?
Wenn die Revolutionsphrasen von jenen beschworen werden, die Anderssein
hassen und Pluralität zerstören wollen, dann lasst uns auf diese Rhetorik
verzichten. Die radikale Systemkritik haben die anderen übernommen. Und
zwar zu Recht. Rassisten haben allen Grund, sich unwohl zu fühlen,
Liebhaber patriarchalischer Strukturen wollen diese Welt nicht mehr.
Denn stark sind die Feministen, die Kämpferinnen für Frieden und Toleranz,
die Regenbogenkinder, die Freunde der Freiheit. Trump als Symbol für die
alten Welten und als Polarstern in den Seelenlandschaften weißer
Hassprediger hat uns in Erinnerung gerufen, wie weit wir eigentlich
gekommen sind. Denn tatsächlich gab es früher nicht weniger seinesgleichen.
Doch anders als früher sind solche Figuren für jede anständige Bürgerin zum
Skandal geworden.
## Systemfrage ohne Gedöns
Lange genug haben wir geklagt. Es war eine Lust, den Untergang zu
beschwören, Trübsal zu blasen und antibürgerlichen Strafpredigten zu
lauschen. Jede Kritik barg den Hinweis auf die Apokalypse, der Verfall
lauerte überall: im Freihandel, im Nationalen, im Globalen, in Europa, im
Grenzregime; im Chlorhühnchen ebenso wie in der Kindererziehung, der
Kleidung und im Staatsapparat sowieso.
Let’s face it: Es sind Gesellschaften entstanden, die gut sind, besser als
alles, was wir je zuvor hatten; nicht nur in Deutschland. Die Frage kann
natürlich nicht sein, ob wir den Zustand der Glückseligkeit bereits
erreicht haben. Das ist nicht der Fall; noch immer gibt es [2][zu viel
Antisemitismus], zu viel Rassismus, zu viel Armut, Menschen mit anderer
Hautfarbe haben weniger Chancen, wir tun nicht genug für die Umwelt,
verkaufen zu viele Waffen und investieren zu wenig in den Frieden. Die
Frage ist, ob die Richtung stimmt.
Eine Person, die das „System“ kritisiert, muss logischerweise eine
Untergangsgeschichte erzählen. Sie muss nachweisen, dass es früher besser
war und heute schlechter ist. Und das ist ausgesprochen schwierig. Die
Konturen vergangener Glorie verschwimmen bei genauerem Hinsehen. Wer
beispielsweise meint, unsere Demokratie sei nur noch eine
Scheinveranstaltung, behauptet, sie sei früher echter und besser gewesen.
Doch wann soll das gewesen sein? Als in den USA noch Apartheid herrschte?
Als in Europa toughe Jungs das Presseleben und das Parlament allein unter
sich ausmachten? Als Altnazis in Deutschland hohe Posten innehatten und
Generäle mit kolonialem Prunk in Frankreich und Großbritannien ungestört
verehrt wurden? Als die Gesetzgeber schlicht nicht verstanden, was denn das
bitte schön für ein Straftatbestand sein solle: Vergewaltigung in der Ehe.
Als liebende Eltern ihre Kinder unter freundlichem Nicken der Nachbarn
durchprügelten? Als ein Hausmann noch nicht als Held und Verheißung galt,
sondern als ein Unglück und Störfall?
## Die Gewalt nimmt ab
Auch wenn es nicht in unsere Metaerzählung passt und sich der Gestus der
Larmoyanz so schwer verabschiedet: Die Zeiten werden besser. Der Oxforder
Ökonom Max Roser sammelt auf seiner [3][Homepage „Our World in Data“] ein
erstaunliches Wissen über den globalen Aufwärtstrend – und kritisiert die
Ignoranz der Medien gegenüber diesen Prozessen. Nicht nur im
nordatlantischen Raum, sondern überall entwickeln sich die Dinge zum Guten:
Die Gewalt nimmt ab (aller intensiven Berichterstattung über jeden Konflikt
zum Trotz), die Alphabetisierung expandiert, die Zahl der Armen ist
weltweit gesunken, sowohl proportional als auch absolut.
Wenn wir der Ansicht sind, dass abnehmende Kindersterblichkeit gut ist und
Hunger schlecht, wenn wir die Ausbreitung von Frauenrechten und die
Eindämmung von Krankheiten begrüßen: Müssen wir dann nicht akzeptieren,
dass die Systemfrage nicht mit revolutionärem Gedöns gestellt werden
sollte? Unsere Demokratien verdienen unser zupackendes Wohlwollen, nicht
weil sie das Paradies bedeuten, sondern weil ihre Logik Kritik ermuntert
und für Verbesserungen offen ist.
## Wir müssen tapfer sein
Ja, die Ungleichheit nimmt innerhalb einzelner Länder zu, aber sie sinkt im
globalen Maßstab – und die Tatsache, dass immer mehr der Ärmsten in Würde
leben können, ist wesentlich wichtiger als der Umstand, dass die
Superreichen sich immer mehr Jachten und Juwelen leisten können. Auch die
Umweltzerstörung ist ein gewaltiges Problem, aber effektive Änderungen
werden durch demokratische Reformprozesse erzielt, nicht durch
apokalyptische Blockade-Mentalitäten.
Wir müssen für diesen Gesinnungswandel tapfer sein. Zustimmung ist nun mal
unattraktiv – so wie all die braven Parteien mit ihrem biederen Personal.
Sie gilt es zu wählen, um die Rechtsextremen zu schwächen und unsere
Vielfalt zu stärken. Die moralisch versnobte Wahlabstinenz ist sinnlos wie
eh und je. (Und sitzen wir in Sachen Spießigkeit nicht ohnehin immer alle
irgendwie im Glashaus?)
Der vermummte junge Mann, der ausholt, um den Stein zu werfen, um
anzuklagen und um zu zerstören – er war lang genug die globale Ikone der
Linken. Die neue Welt ist weiblicher: Die neue Ikone zeigt die junge Frau,
die sich lesend über ihr Tablet beugt: ein Mädchen mit Kopftuch, mit Afro,
mit Zöpfen, however; sie soll die Welt erobern, ohne Gewalt, ohne
narzisstische Coolness und ohne eitle Freude an der Revolution. Wir sollten
sie unterstützen. Sie hat unsere Gesellschaft mit ihrer Klugheit schon in
weiten Teilen übernommen, aber sie hat noch viel zu tun.
19 Sep 2017
## LINKS
[1] /Kommentar-Parlamentswahl-Frankreich/!5421864
[2] /Antisemitismus-in-Berlin/!5445092
[3] https://ourworldindata.org
## AUTOREN
Hedwig Richter
## TAGS
Schwerpunkt AfD
Revolution
Demokratie
Zukunft
Ehe für alle
Krise der Demokratie
Rhetorik
Deutsche Politik
## ARTIKEL ZUM THEMA
Am 1. Oktober tritt das Gesetz zur Ehe für alle in Kraft: Segen von Hamburgs o…
Trotz arbeitsfreien Sonntags dürfen in Hamburg die ersten lesbischen und
schwulen Paare heiraten – und zwar ausnahmsweise im Rathaus.
Debatte Repräsentative Demokratie: Würfeln statt wählen
Unsere Demokratie hat ein Problem mit Gewaltenteilung und Repräsentation.
Da hilft nur eins: Der Rückblick in die Antike.
Serie: Wie weiter, Germans? (2): Die Zukunft bleibt unsichtbar
Schulz moralisiert, Merkel verzieht keine Miene. Welche Geschichte unserer
Zeit erzählen die Volksparteien – und was bleibt außen vor?
Aus dem Magazin taz.FUTURZWEI: Wie weiter, Germans?
Im Wahlkampf 2017 wird über zentrale Zukunftsfragen nicht gesprochen. Doch
damit dürfen wir die Politik nicht durchkommen lassen. Ein Aufruf.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.