# taz.de -- Essay Flüchtlingspolitik: Geständnis eines Linken | |
> Wer links fühlt, muss die neue Abschottungspolitik von Bundeskanzlerin | |
> Angela Merkel kritisieren. Oder doch nicht? | |
Bild: Hier wird gerade Merkels Politik exerziert: Ein Flüchtling wird in die T… | |
Ich muss ein Geständnis ablegen. Irgendwo, ganz hinten rechts im Kopf, | |
steckt dieser Zweifel. Er piekst, nervt, ist aber leider nicht | |
totzukriegen, seit Monaten schon. Zweifel sind anstrengend, wenn man | |
Parlamentskorrespondent einer kleinen, linken und sehr meinungsfreudigen | |
Zeitung ist. | |
Wieder mal muss ein Kommentar geschrieben werden über Angela Merkels | |
Flüchtlingspolitik. Klar, scharf und pointiert versteht sich. Wie Merkel | |
zum Beispiel die Abschottung Europas still und leise organisiert hat, das | |
kann nicht gut finden, wer sich linksliberal, progressiv und weltoffen | |
fühlt. Was ist die Vereinbarung der EU mit der Türkei anders als schäbig, | |
schließlich lagert die EU ihr moralisches Dilemma in einen Staat aus, der | |
Menschenrechte mit Füßen tritt. | |
Oder? | |
Jetzt flüstert der Zweifel im Kopf, mit einem feinen, hohen Stimmchen. | |
Weißt du es besser, du Schlaumeier? Willst du offene Grenzen? Möchtest du, | |
dass noch viele Millionen Flüchtlinge kommen? All die Müden, Armen und | |
Heimatlosen, die Ausgebombten und Verzweifelten aus dem Nahen Osten? | |
Es schmerzt, das zuzugeben. Aber die Antwort auf diese Fragen ist: Nein, | |
lieber nicht. Ich würde ja gern behaupten, dass dieses Land problemlos | |
fünf, zehn oder fünfzehn Millionen Geflüchtete aufnehmen könnte. Aber ich | |
glaube nicht daran. | |
Die aufgeheizte Stimmung in der Republik spricht dagegen. Schon jetzt, mit | |
einer überschaubaren Zahl Geflüchteter, in einer luxuriösen Haushalts- und | |
Wirtschaftssituation, trieft die Hetze aus allen Ecken. Was wäre hier los, | |
wenn es Massenarbeitslosigkeit gäbe – und fünf Millionen Flüchtlinge in den | |
Sozialsystemen? Man will es sich nicht ausmalen. | |
Außerdem meldet sich mein kleiner deutscher Egoismus. Jener fürchtet, etwas | |
könne mit diesem liberalen, sicheren und reichen Land passieren, wenn zu | |
schnell zu viele Fremde aus völlig anderen Kulturkreisen dazukommen. Das | |
ist eine diffuse, wahrscheinlich unbegründete Befürchtung, ich weiß. | |
Trotzdem, der Zweifel bleibt. | |
## „Die Zahlen mussten runter“ | |
Dies ist mein schmutziges Geheimnis. Die Flüchtlingszahlen müssen sinken. | |
Da ist diese beschämte Erleichterung, wenn der Innenminister stolz bekannt | |
gibt, dass nur noch wenige kommen. Ich sage das nur nicht allzu laut. Wer | |
sich im weitesten Sinne dem rot-grünen Milieu zugehörig fühlt, wer von sich | |
denkt, europäisch zu denken, gibt ungern zu, ein Problem mit | |
unkontrollierter Einwanderung zu haben. | |
Schließlich heißt das, ein lange gepflegtes Selbstbild zu hinterfragen. Und | |
den Konservativen recht zu geben, zu denen man nie gehören wollte. Nicht | |
schön, das alles. Die sogenannte Flüchtlingskrise, die in Wirklichkeit eine | |
Krise für die geflüchteten Menschen ist, aber nicht für die verwöhnte | |
deutsche Mittelschicht, stellt linke Denkschemata auf den Kopf. | |
Da ist der Freund, zweifacher Vater, Großstädter, hilfsbereit wie kein | |
anderer, der nach dem zweiten Bier sagt: „Die Zahlen mussten runter. Das | |
wusste doch jeder.“ | |
Da ist die kluge, weit gereiste Journalistin, Schwerpunkt Außenpolitik, die | |
gesteht: „Merkel in die Pfanne hauen? Ich weiß doch auch keine | |
Alternative.“ | |
Da ist der grüne Spitzenpolitiker, der nach der Klausurtagung an der | |
Hotelbar offen redet. „Für viele Grünen-Wähler hört der Spaß auf, wenn | |
neben ihrer Tochter in der Grundschule zehn Arabisch sprechende Kinder | |
sitzen.“ | |
Ich fürchte, die drei liegen richtig, jeder auf seine Weise. Die | |
Flüchtlinge waren für die „Linke“ – wenn man von ihr noch sprechen will… | |
eine intellektuelle Überforderung. Es fehlte im deutschen Diskurs ein | |
modernes, weltoffenes, aber auch Schutz suggerierendes Konzept links von | |
der Kanzlerin. | |
Es ist nicht so, als hätten Linke keine guten Antworten für | |
Migrationsfragen. Sie fordern seit Jahrzehnten Flüchtlingskontingente, die | |
das reiche Europa aufnehmen müsse. Sie warben immer dafür, dass eine | |
moderne Gesellschaft Einwanderung braucht. Fluchtursachen bekämpfen, die | |
Forderung, die jetzt in aller Munde ist, ist ein linkes Konzept. | |
Benachteiligten Ländern helfen, verantwortungsvoll konsumieren, Klimawandel | |
bekämpfen – alles richtig. | |
Doch das linksliberale Milieu hatte keine Antwort auf entscheidende Fragen, | |
die menschliche Urängste berühren. Was passiert, wenn viele Fremde in meine | |
Heimat kommen? Was, wenn sich die innere Verfasstheit einer Gesellschaft | |
schnell ändert? | |
## Offene Grenzen – eine schöne Utopie | |
Natürlich gibt es Argumente für das Konzept offener Grenzen und weltweiter | |
Freizügigkeit, eine Idee, in der sich ironischerweise radikale Linke und | |
marktliberale Wirtschaftsverbände treffen. Wer aber – wie ich – glaubt, | |
dass offene Grenzen angesichts der Ungleichheit eine schöne Utopie sind, | |
der musste sich an einem bestimmten Punkt eingestehen, ratlos zu sein. | |
Viele Linke stürzte die Flüchtlingsdebatte in einen inneren, nicht | |
auflösbaren Widerspruch. Sicher, der Staat möge möglichst viel Leid | |
lindern, aber bitte schön nicht alle Leute in die Turnhalle um die Ecke | |
stecken. Dieser paradoxe Wunsch markiert die linksliberale Leerstelle im | |
Diskurs. Denn das Perfide an der Flüchtlingspolitik ist ja, dass Regierende | |
gar nicht darumherum kommen, sich die Finger schmutzig zu machen. Jede | |
Familie, die nicht nach Deutschland darf, bleibt momentan im Schlamm im | |
griechischen Camp Idomeni sitzen. | |
Aus Ideenlosigkeit entsteht manchmal Überanpassung. Dies haben die Grünen | |
prototypisch vorgeführt. Die Oppositionspartei duckte sich über weite | |
Strecken in den Windschatten der Kanzlerin, weil ihr insgeheim klar war, in | |
welchem Dilemma ihre Wähler steckten. In dem Wahlsieg von Winfried | |
Kretschmann, der bekanntlich für Merkel betete, verbirgt sich auch das | |
Hin-und-her-gerissen-Sein grüner Milieus. Gut sein wollen alle, aber zu | |
viel des Guten will niemand. | |
Auch der linke Flügel der SPD oder die Linkspartei standen ratlos neben | |
Merkel. Die einen schwiegen aus Regierungsräson, die anderen schwankten | |
zwischen rechtslastigem Populismus à la Sarah Wagenknecht und einem | |
realitätsfremden Programm. Die Performance der Parteien links der Mitte | |
war, freundlich gesagt, schlecht sortiert. Die Konzepte der Konservativen | |
schienen angreifbar, aber wenigstens hatten sie welche. | |
Neben dem nationalistischen Gebrüll der CSU – wer will schon die Mauer | |
wieder? – wirkte Merkels Weg angenehmer, sanfter, europäischer. Dabei will | |
die Kanzlerin im Kern das Gleiche wie Seehofer, nämlich den deutschen | |
Reichtum vor zu vielen Fremden schützen. Merkel hat früh betont, die | |
EU-Außengrenzen „sichern“ zu wollen. Was dieser Euphemismus bedeutet, läs… | |
sich jetzt an den griechischen Küsten und in der Türkei besichtigen. | |
Trotzdem – oder gerade deshalb – bildete Merkel für die Skepsis vieler | |
Linksliberaler eine ideale Projektionsfläche. Merkel gut finden, das | |
bedeutete beides. Selbst human sein, aber auch die eigene kleine | |
Befindlichkeit vor dem Elend der Welt schützen. | |
Wegen der Ratlosigkeit der Linken verlegten sie sich auf Abwehrkämpfe, der | |
Autor schließt sich ausdrücklich ein. Ich habe zum Beispiel alle | |
Asylrechtsverschärfungen scharf kritisiert – als das schikanöse Werk | |
engherziger Bürokraten. Ich fand es peinlich, wie schnell die angeblich | |
humanen Grünen im Bundesrat zu Duckmäusern mutierten. Aber, wenn ich | |
ehrlich bin, waren das Nebenpfade, die an dem entscheidenden Punkt | |
vorbeiführten. Sollen wirklich alle kommen? | |
Der Spiegel-Autor Nils Minkmar hat vor einigen Wochen geschrieben: „Es gibt | |
kein Recht auf ein von der Geschichte unbelästigtes Leben.“ Diese Wahrheit | |
hätten Merkel, aber auch SPD, Grüne oder Linkspartei ihren Wählern ehrlich | |
ins Gesicht sagen müssen. Sie hätten hinzufügen können, dass die | |
angeblichen Zumutungen durch Flüchtlinge keine Zumutungen sind. | |
## Kein Recht auf ein unbelästigtes Leben | |
Es ist keine Katastrophe, wenn Sohn oder Tochter ein paar Monate keinen | |
Sportunterricht bekommt. Es ist rassistisch, die arabischen Männer in der | |
Fußgängerzone per se für gefährlich zu halten. Und wäre es bitte schön | |
wirklich ein Problem, wenn ein gut verdienender Facharbeiter oder Architekt | |
ein paar hundert Euro mehr Steuern im Jahr zahlen müsste? | |
Ich hätte es großartig gefunden, wenn das offizielle Deutschland seine | |
Hilfsbereitschaft länger und mutiger gegen die Angst verteidigt hätte. Wenn | |
wir nicht eine, sondern ein paar Millionen Menschen aufnehmen würden. Wenn | |
die meisten Parteien und Medien nicht so getan hätten, als drohe ein nicht | |
zu bewältigender Ausnahmezustand. | |
Aber, um noch einmal die Kollegin zu zitieren: Soll man Merkel jetzt in die | |
Pfanne hauen? Jene Merkel, die immerhin die Europäische Union | |
zusammengehalten hat, die auseinanderzubrechen drohte? Die den | |
klammheimlichen Wunsch vieler Linksliberaler jetzt durch einen brutalen | |
Deal der Europäischen Union mit der Türkei erfüllt hat? | |
Die Grünen meckern neuerdings wieder. Ich tue mich schwer. | |
11 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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