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# taz.de -- Debatte Flüchtlingspolitik: Geht fürs Asyl auf die Straße!
> Wer eine humanitäre Flüchtlingspolitik will, muss Druck auf Kanzlerin
> Angela Merkel machen. Nur so löst sie ihr Versprechen ein.
Bild: Abschiebung abgelehnter Asybewerber in Rheinmünster, Baden-Württemberg
Es kommen jetzt deutlich weniger Flüchtlinge nach Deutschland als noch vor
einigen Wochen. Das ist ein guter Moment, um sich Gedanken zu machen, wie
es weitergehen soll.
Ulrich Schulte [1][bekannte jüngst in der taz] seine Erleichterung darüber,
dass weniger Flüchtlinge kommen, und gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass das
auch so bleibt. Bernd Pickert [2][hielt dagegen,] die deutschen Grenzen
dürften „nicht geschlossen bleiben“.
Dabei sind sie das gar nicht. Dass so viele Flüchtlinge jetzt in Idomeni
festsitzen, weil die Grenze zu Mazedonien zu ist, liegt an den Staaten der
Balkan-Route. Selbst wenn Deutschland wollte, könnte es an deren Haltung
wenig ändern. Was also kann es tun, was können wir tun?
Solchen konkreten Fragen stellen sich beide Kollegen leider nicht. Der eine
klingt wie der Passagier einer Kreuzfahrtjacht, der sich ziert, weitere
Schiffbrüchige an Bord zu nehmen, weil dann die Schlange am Büffet länger
und die Biobrötchen knapp würden. Der andere meint, man müsse jeden an Bord
nehmen, der vorbeisegelt, ohne auf berechtigte Einwände einzugehen: Sind
wirklich alle in Not, die um Hilfe suchen? Wie viel Schiffbrüchige kann und
will man aufnehmen? Und was, wenn sich darunter auch Terroristen gemischt
hätten?
## Alles nur Show
Viele Journalisten machen es sich in der Flüchtlingsfrage zu einfach: Erst
kritisierten sie, Merkel habe eine „unkontrollierte Massenzuwanderung“
zugelassen und, durch Selfies mit Flüchtlingen, sogar noch befördert. So
musste man die Titel von Spiegel und Zeit („Weiß sie, was sie tut?“) im
September verstehen. Jetzt halten sie ihr vor, das sei alles nur Show
gewesen, und in Idomeni zeige sich ihr wahres, hässliches Gesicht.
Tatsächlich agiert Angela Merkel teilweise opportunistisch. Aber sie hat
einen anderen Plan als Populisten wie Viktor Orbán und Horst Seehofer, die
sich hinter Mauern und Zäunen verbarrikadieren wollen. Wie weit sie eine
Alternative umsetzen kann, hängt auch davon ab, wie die Stimmung im Lande
ist – und wie klug die linke Kritik an ihrer Politik ausfällt. Es braucht
kein „Konzept links von der Kanzlerin“, wie es Ulrich Schulte fordert. Es
reichte schon, wenn sich eine humanitär orientierte Öffentlichkeit sich für
jene Teile ihrer Politik starkmachen würde, die unterstützenswert sind.
Ja, das Abkommen mit der Türkei dient auch der Abschreckung. Aber ist es
wirklich so falsch, Flüchtlinge, die in Europa ohnehin kein Asyl erhalten
würden, wieder in die Türkei zurückzuschicken? Was ist besser daran, sie
erst über den Balkan bis nach Deutschland oder Schweden reisen zu lassen,
um sie dann – nach abgelehnten Asylantrag – in ihr Heimatland
zurückzuschicken?
Kürzlich wurden Flüchtlinge aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben,
ohne dass sich nennenswerter Protest dagegen regte. Warum war es so viel
schlimmer, als jüngst die ersten Flüchtlinge aus Griechenland wieder in die
Türkei zurückgeschickt wurden? Sie hatten kein Asyl in Europa beantragt und
sind in der Türkei nicht an Leib und Leben bedroht.
## Eine humane Asylpolitik
Im Gegenzug hat sich Europa verpflichtet, eine gewisse Zahl syrischer
Flüchtlinge direkt aus der Türkei zu übernehmen. Die ersten davon sind
bereits in Deutschland, Finnland und den Niederlanden angekommen. Das ist
ein Fortschritt, der kaum bemerkt wird. Denn bislang mussten syrische
Familien, die in Deutschland Asyl beantragen wollten, erst bei der
Überfahrt übers Mittelmeer ihr Leben riskieren. Eine humanitär orientierte
Öffentlichkeit sollte sich dafür starkmachen, dass Deutschland aus Ländern
wie der Türkei, Jordanien und dem Libanon per Kontingent eine möglichst
große Zahl von Flüchtlingen aufnimmt – möglichst mehrere Hunderttausende!
Andere europäische Länder könnten dabei mithelfen oder nachziehen, je
nachdem. Aber Deutschland hat, als bevölkerungsreichstes und wirtschaftlich
potentestes Land Europas, ohne Zweifel die Kapazitäten, hier der Vorreiter
zu sein. Erfahrungen mit der Aufnahme einer so großen Zahl von Flüchtlingen
hat es auch: Es hat in den Neunzigerjahren mehr als zweieinhalb Millionen
Aussiedler aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion integriert, von den
viele Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien ganz
abgesehen. Umso kleinmütiger und irrationaler wirkt die
„Überforderungs“-Rhetorik von heute.
Die Gewährung großzügiger Kontingente hat den Vorteil, dass man dabei auf
die besonders Schutzbedürftigen Rücksicht nehmen kann, auf Frauen, Alte und
Kinder – und nicht „nur junge Männer“ nach Deutschland kämen, die von i…
Familien vorgeschickt werden. Außerdem lässt sich so besser kontrollieren,
dass keine Terroristen darunter sind – der IS hat einen oder zwei der
Attentäter von Paris und Brüssel ja bewusst unter den Flüchtlingstreck
gemischt, um die verhasste Willkommenskultur zu sabotieren und Misstrauen
zu säen. Eine humane Asylpolitik, die nicht zwischen muslimischen und
christlichen Flüchtlingen unterscheidet, ist das beste Mittel gegen den IS
und seine Propaganda.
## Großzügig Kontingente schaffen
Eine liberale Öffentlichkeit sollte Druck auf Merkel machen, dass sie ihr
Versprechen einlöst, möglichst viele Flüchtlinge auf direktem Weg
aufzunehmen, und dass sie den Familiennachzug nicht einschränkt, weil dies
eine rasche Integration der Flüchtlinge nur behindert. Denn wer kann hier
Wurzeln schlagen, wenn er seine Liebsten nicht in Sicherheit weiß?
Dafür würde es sich lohnen, auf die Straße zu gehen und den Slogan
„Refugees Welcome“ mit konkreten Forderungen zu füllen. Falsch wäre es,
larmoyant die Hände in den Schoss zu legen und darüber zu klagen, dass die
Verhältnisse eben so sind, wie sie sind. Oder sich in trügerischer
Sicherheit zu wiegen, weil im Moment weniger Flüchtlinge nach Deutschland
kommen.
Denn das Problem löst sich nicht in Luft auf, nur weil die Flüchtlinge
jetzt wieder aus unserem Blickfeld verschwunden sind. Die Flüchtlinge, die
im Schlamm von Idomeni und in den vielen Lagern der Region ausharren, gehen
uns alle an. Ihr Los darf uns nicht egal sein. An ihnen entscheidet sich,
was die Rhetorik von „europäischen Werten“ wert ist.
13 Apr 2016
## LINKS
[1] /Essay-Fluechtlingspolitik/!5290251
[2] /Essay-Linke-und-Fluechtlingspolitik/!5291997
## AUTOREN
Daniel Bax
## TAGS
Schwerpunkt Flucht
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