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# taz.de -- Das liberale Warschau und die PiS: Die Spaltung geht durch die Fami…
> In Warschau zeigt sich die Weltoffenheit der Polen. Doch auch
> Auswirkungen des Kurses der rechtspopulistischen Regierung sind zu
> bemerken.
Bild: Das Bowie-Wandbild am Wilson-Platz
Am 21. April 1976 reiste David Bowie von Zürich nach Moskau. Den
Zwischenstopp in Warschau nutzte Bowie für einen Spaziergang. Am Platz der
Pariser Kommune kaufte er einen Stapel Platten, darunter ein Album der
polnischen Folkband Śląsk.
Offenbar gefiel ihm „Helokanie“, ein schlesisches Schäferlied in einem
Dialekt, den auch viele Polen nicht verstehen, am besten. Bowie sang Teile
davon nach, als er wenig später in Berlin den Song „Warszawa“ für sein
Album „Low“ aufnahm.
Auf den Tag genau 40 Jahre danach wird in Warschau unweit vom Platz der
Pariser Kommune, der heute wie vor dem Krieg Wilson-Platz heißt, ein
Bowie-Wandbild eingeweiht. Einige Hundert Warschauer haben sich auf einer
Kreuzung eingefunden, als „Warszawa“ ziemlich laut über die Straße schallt
und die klare Abendluft mit Melancholie erfüllt.
Als der Eiserne Vorhang noch hing, fuhren auch ostdeutsche Künstler nach
Polen, weil man dort freier atmen konnte. Weil die Polen cooler waren, ihre
Musik wilder und ihr Design eleganter und moderner. Außerdem konnte man
leichter an Platten und Klamotten aus dem Westen kommen.
## Sie ziehen sich besser an
Heute fährt der Express von Berlin nach Warschau fünfmal am Tag, man muss
sich nur reinsetzen. Dann kann man sehen, was für eine dynamische Stadt
Warschau geworden ist. Die Warschauer ziehen sich immer noch besser an als
die Berliner, aber die Richtung des Magnetismus hat sich umgekehrt. Für
junge polnische Künstler und DJs ist Berlin the place to be. Kulturell
rückt Warschau stetig weiter nach Westen. Dawid Celek lebt mit seiner
Freundin schon einige Jahre in Berlin-Mitte, am Rosenthaler Platz.
Er hat den Wettbewerb für das Wandbild gewonnen mit einer Kombination von
Bowies klassischem Ziggy-Stardust-Look und der Silhouette des
stalinistischen Kulturpalasts im Zentrum seiner Heimatstadt. Dort wird
abends die Einweihung des Wandbilds gefeiert. DJs spielen Bowie-Songs,
hinter ihnen werden Fotos und Zeitungsausschnitte an die Wand geworfen.
Darunter eine englische Zeitung, die sich darüber mokiert, dass dieser
Freak Frauenkleider trägt.
Schonbeim ersten Wodka wird über umstrittene Maßnahmen der neuen Regierung
von Jarosław Kaczyńskis nationalkonservativer Partei Recht und
Gerechtigkeit (PiS) gesprochen. Sie versucht das Verfassungsgericht
auszuhebeln und hat den staatlichen Rundfunk so auf Linie gebracht, dass
immer weniger Polen sich das freiwillig anschauen wollen. Was eine junge
Frau an der Bar erbittert, ist der Umstand, dass das ohnehin restriktive
Recht auf Abtreibung nun gänzlich zur Disposition steht.
„Ich will nicht in einem Land leben, in dem arme Frauen nach Slowakien und
reiche Frauen nach Schweden fahren müssen, weil eine Abtreibung zu Hause
nicht möglich ist“, sagt sie. Sie ist CEO bei einem Start-up, das Insekten
als Proteinliferanten züchtet. Die Mehrheit der Polen ist EU-freundlich und
gibt an, privat sehr glücklich zu sein.
## Modern und liberal
Viele Junge sind modern und liberal, aber es waren vor allem junge Wähler,
die den xenophoben Rockstar Paweł Kukiz gewählt haben. Kukiz warnte vor der
Wahl vor einer „Vernichtung des Polentums“, seine Bewegung wurde
drittstärkste Kraft. Dabei ist Polen heute ein homogenes Land ohne
nennenswerte ethnische und religiöse Minderheiten, auch wenn es in
gebildeten städtischen Milieus Mode geworden ist, sich an den jüdischen
oder deutschen Großvater zu erinnern. 88 Prozent sind römisch-katholisch,
die Schlesier gelten als größte Minderheit, offiziell leben heute 7.000
Juden in Polen, das über Jahrhunderte hinweg das größte jüdische Land der
Welt gewesen ist.
Zwei Tage später, am Samstag, feiert Krzysztof Warlikowskis Nowy Teatr nach
Renovierungsarbeiten schon sein zweites Einweihungswochenende. Durch
EU-Fördermittel verfügt das Theater in einem ehemaligen Depot der
Warschauer Müllabfuhr nun über Robotertribünen, die sich innerhalb weniger
Minuten zusammenfalten können. Heute stehen sie sich in zwei Paaren
gegenüber. Ab 11 Uhr morgens füllen sich langsam die Sitzreihen, der
Eintritt ist frei.
Man blickt auf eine lange Tafel, an der über „Unterwerfung, Wut und
Freiheit“ diskutiert werden soll. Eingeladen wurden polnische Künstler und
Intellektuelle, aber auch Kollegen aus Westeuropa. Tatsächlich sind es dann
vor allem Franzosen, die mit am Tisch sitzen. Das deutsche Theater vertritt
Matthias Lilienthal per Skype-Schalte. Persönlich anwesend ist nur die
Berliner Schriftstellerin Katja Petrowskaja, was einmal mehr die
merkwürdige Indifferenz vieler Deutscher den Nachbarn gegenüber deutlich
macht.
## Fragwürdige Arroganz
Wenn Deutschen zu Polen etwas einfällt, ist es allzu oft von Arroganz
geprägt, eine Haltung, die in einer Stadt, die von deutschen Panzern dem
Erdboden gleichgemacht wurde, umso fragwürdiger erscheint. Sie hätte nie
gedacht, dass sie nach 1981, als Solidarnośćgegen die Regierung von General
Jaruzelski demonstrierte, noch einmal auf die Straße gehen müsse. Das hatte
eine Warschauerin tags zuvor erzählt. Die Spaltung der Gesellschaft gehe
durch die Familien. Alte Freunde fielen mit einem Mal auf Facebook durch
skandalöse Äußerungen auf, und dann sei man glücklich, nicht in derselben
Stadt zu wohnen, um peinliche Begegnungen zu vermeiden.
Im Nowy Teatr wird deutlich, dass viele einstige Dissidenten, die Wichtiges
für die Transformation des Landes geleistet haben und inzwischen selbst zum
kulturellen Establishment gehören, nicht nur überrascht und schockiert sind
über den neuerlichen Sieg von PiS. Sie scheinen sich persönlich angegriffen
zu fühlen, was nachvollziehbar ist, ganz so, als ob ihre eigene
Lebensleistung von einer jüngeren Generation in Zweifel gezogen würde, die
ihnen ein gemeinsames „Wir“ verweigere, wie eine Kunst-Professorin es
formuliert.
## Beliebte rechte Theorien
Zu den bei der Rechten beliebten Verschwörungstheorien gehört, dass Putin
und Merkel „Verbündete“ seien, wie auch der Titel eines Buchs lautet, das
in den Auslagen von Kiosken zu finden ist. Aber Merkel und Putin sind weit
weg. Die kulturellen Eliten Polens dagegen sind leichte Ziele für
populistische, antielitäre Propaganda gegen das „Abgehobene“ einer als zu
kompliziert und verwestlicht empfundenen Hochkultur, die sich abseitigen
„Gender“-Ideologien verschrieben habe – und mafiös nur einigen wenigen
Künstlern eine Plattform gebe, wie eine der Regierung nahestehende
Journalistin vor Kurzem schrieb. So diskutiert man im Theater darüber, ob
man nun mit ständigen Angriffen auf die Programmatik von
Kulturinstitutionen, Eingriffen in die Personalpolitik und vor allem mit
Budgetkürzungen zu rechnen habe.
Es sei nun mal Fakt, dass jede Regierung kuratorischen Ehrgeiz habe, sagt
Paweł Potoroczyn, Direktor des Adam-Mickiewicz-Instituts, dem polnischen
Pendant des Goethe-Instituts. Was die Jugend angeht, ist er optimistisch:
Screenager seien weltweit alles andere als unterwürfig. In Polen sei das
nicht anders. Nachts feiern junge Warschauer in einem Technoclub namens
1500m2. Es ist das Gelände einer alten Schule, die Turnhalle ist ein
Dancefloor.
Keine der linken Parteien hat es ins Parlament geschafft, sagt ein junger
Mann beim Rauchen im Hof, er fühle sich nicht repräsentiert. Viele junge
Leute seien mehr als unzufrieden mit der jüngsten Entwicklung, in
spätestens zwei Jahren werde es eine Revolution geben. Gefeiert wird
trotzdem, oder gerade deswegen. Im Hof ist man von neuen Hochhäusern
umringt, die dem stalinistischen Kulturpalast Konkurrenz machen.
Der Soziologe Aleksander Smolar erzählt am nächsten Morgen bei einer Tasse
Kaffee im Café Bristol, es sei schwierig, Strategien gegen die Behauptung
einer katholischen, traditionellen, heldenhaften Nation zu entwickeln, die
mit modernen Lebensweisen und liberalen Werten inkompatibel sei. Die
Absichten von PiS blieben abgesehen von dieser Rhetorik unklar. Kaczyński
habe die Wahlen auch gewonnen, weil er und seine Partei diesmal auf
radikale Rhetorik verzichtet habe.
## Guter Wandel
Ihr Programm des „guten Wandels“ klingt vage. PiS habe mit unrealistischen
Umverteilungsversprechen auch viele ehemalige Wähler der Linken erreicht.
Smolar hat lange im Ausland gelebt und pendelt heute zwischen Warschau und
Paris. Vielleicht blickt er deswegen unaufgeregt auf die Ereignisse. Er
beobachtet nicht nur in Polen ein Auseinanderfallen von Liberalismus und
Demokratie. Die Demokratie werde heute auch von Populisten repräsentiert,
die gegen den Liberalismus agitierten.
Künstler und Intellektuelle dagegen verteidigten oft die Freiheit gegen die
Demokratie. Er hält die Vorstellung vieler, PiS sei eine autokratische, gar
faschistische Partei, für Unsinn. Im Polen des 21. Jahrhunderts sei eine
solche Politik auch gar nicht mehr möglich. Internationale Investments
fließen in die Stadt, die europäischen Institutionen und Regeln geben den
Rahmen vor. Vor den Fenstern des Cafés laufen die Teilnehmer des
Warschau-Marathons vorbei.
25 Apr 2016
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
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