# taz.de -- Fortschritt und Reaktion in der Slowakei: Von Ökokapseln und Kleri… | |
> Die Slowakei entwickelt sich gut. Bratislava zählt zu den reichsten | |
> Städten Europas. Gleichzeitig gedeiht ein harter Nationalismus. Eine | |
> Spurensuche. | |
Bild: Ein slowakisches Startup hat dieses Wohn-Ei entwickelt | |
Bratislava taz | In einem slowakischen Dorf liegt auf einer Wiese ein | |
graues Ei. Es wirkt wie ein Ufo in dem Dorf zwischen all seinen neuen, weiß | |
getünchten Villen. Dabei handelt es sich jedoch um kein Objekt aus dem | |
Weltall, sondern um so etwas wie eine sich selbst versorgende Minidatscha. | |
Auf dem Dach erzeugt ein Windrad Strom, Regenwasser wird zu Trinkwasser | |
aufbereitet und Solarzellen fangen die Wärme der Sonne ein. | |
„Ecocapsule“, auf Deutsch „Ökokapsel“, tauften es seine Erfinder, die … | |
architects“ aus der slowakischen Hauptstadt Bratislava. Zwei Menschen | |
können in der Kapsel schlafen, kochen, duschen. Besonders beleibt dürfen | |
die Bewohner nicht sein, auch wer größer als zwei Meter ist, bekommt | |
Probleme. Dafür jedoch ist das Ei mobil. Wer keine Lust mehr hat auf Wiese, | |
setzt es auf einen Autoanhänger und fährt davon. | |
Die „Nice architects“ gewannen schon mehrere Preise – für das Hochhaus �… | |
Hill“ im australischen Adelaide, das an einen schneebedeckten Gipfelgrat in | |
den Dolomiten erinnert. Oder für ein Hausboot, in dem man nicht über, | |
sondern unter der Wasseroberfläche lebt. Doch als das Öko-Ei im Mai 2015 | |
erstmals in Wien präsentiert wurde, begann etwas Neues. „Bis dahin hatten | |
wir nur so ab und zu an der Ecocapsule gearbeitet“, erzählt Tomáš Žáček. | |
„Es war Spaß, es reizte unsere Fantasie.“ Nach Wien jedoch erhielten die | |
Erfinder an die 20.000 E-Mails, gar nicht so sehr aus der Slowakei mit | |
ihren 5,4 Millionen Einwohnern, sondern aus der ganzen Welt. | |
Der 36-jährige Žáček hat in Bratislava studiert und in vier europäischen | |
Ländern gearbeitet. Er trägt T-Shirt, Jeans und Dreitagebart und seine | |
Haare sehen aus, als hätte er zu nahe am Windrad der Ökokapsel gestanden. | |
Wenn er von dem Start-up erzählt, das ihm und seinen Freunden schon bald zu | |
Millionären machen könnte, wirkt er ziemlich gelassen. Ab und zu jedoch | |
zeigt er seine Freude: „Die Interessenten kommen selbst aus den Arabischen | |
Emiraten und aus Afrika. Dort soll die Ökokapsel zur Wetterbeobachtung in | |
der Wüste eingesetzt werden. Aber auch auf dem Dach eines Hochhauses in New | |
York könnte man damit wohnen.“ | |
## Die Gegenwart der braunen Vergangenheit | |
Während das futuristische Ei in dem Dorf die Fantasie beflügelt, ist das | |
Parlamentsgebäude in Bratislava der Vergangenheit verhaftet. Hoch über der | |
Donau steht das Gebäude, dessen Äußeres an bundesdeutsche Sparkassen der | |
achtziger Jahre erinnert, im Inneren aber an einen Sitzungssaal des | |
kommunistischen Zentralkomitees. Dort wird das Programm der neu vereidigten | |
Regierung beraten. Ökokapseln oder Start-ups sind kein Thema, stattdessen | |
geht es um die slowakische Nationalhymne. Ob diese zu Beginn der | |
Plenarsitzungen erklingen soll, wie ein Redner fordert. Oder an ihrem Ende, | |
wie ein zweiter wünscht. | |
Vor allem aber geht es um die Forderung des neu gewählten Abgeordneten | |
Marian Kotleba. Er will, dass das Parlament am Jahrestag der Hinrichtung | |
des slowakischen Staatspräsidenten Jozef Tiso eine Schweigeminute einlegt. | |
Marian Kotleba ist Chef der faschistischen „Volkspartei Unsere Slowakei“, | |
die mit 8 Prozent im März erstmals ins Parlament einzog. Und Jozef Tiso | |
gilt als Klerikalfaschist, der die Slowakei nur mit Unterstützung Hitlers | |
in die Selbstständigkeit führen konnte. Doch in der Slowakei genießt er | |
weiterhin hohes Ansehen. | |
Bei der Parlamentswahl haben an die 50 Prozent für rechte und | |
rechtspopulistische Parteien gestimmt, die Namen tragen wie „Wir sind | |
Familie“ oder „Die normalen Leute“. Und so lässt der Parlamentspräsident | |
über den Antrag des Faschisten sicherheitshalber nicht abstimmen. Kotleba | |
könnte eine Mehrheit bekommen. | |
Im Parlament Faschisten, vor dem Parlament Erfinder, Start-ups. Die Szene | |
der Slowakei wird von einschlägigen Blättern als eine der innovativsten in | |
ganz Europa beschrieben. Zwar kein Start-up, aber eines der sicher | |
erfolgreichste Unternehmen der modernen Slowakei ist ESET: eine 1992 | |
gegründete Firma für Antivirensoftware mit inzwischen 900 Mitarbeitern. | |
Weltweit bekannt ist auch Sygic, deren GPS-Navigationssysteme von 130 | |
Millionen Autofahrern genutzt werden. | |
Ähnlich wie bei Skype, dessen Programm nicht in den USA, sondern im | |
estnischen Tallinn entwickelt wurde, wird kaum ein Nutzer diese Produkte | |
mit der Slowakei verbinden. Bratislava mit seinen barocken Gassen und | |
gotischen Kirchen vermittelt nicht den Eindruck einer Start-up-Metropole. | |
Und doch entstehen immer mehr Gründerzentren, die sich „Impact Hub“, „The | |
Spot“ oder „RubixLab“ nennen. | |
Auch das Büro der „Nice architects“ befindet sich hier. In einer vom Abriss | |
bedrohten ehemaligen Zwirnfabrik weist kein Schild, kein Briefkasten den | |
Weg zu den Ökokapsel-Erfindern, ebenso wenig wie zu den anderen 15 Malern, | |
Designern und Musikern, die hier arbeiten. Vorbei an einer Pförtnerloge | |
führt der Weg durch ein sparsam beleuchtetes Treppenhaus in einem grauen | |
Turm immer weiter nach oben. | |
## Wegen der Preise ziehen Slowaken nach Österreich | |
Außer einem langen Tisch mit Computern gibt es in dem Büro der Architekten | |
nicht viel. Auf einer Couch vor dem Fenster sitzt Matej Pospišil, | |
verantwortlich für das Design der Ökokapsel. Er erinnert ein wenig an | |
„Plague“, den genialen Hacker aus der Millennium-Trilogie des Schweden | |
Stieg Larsson. Pospišil spricht nicht viel und sein Körper scheint mit dem | |
Laptop verwachsen. | |
Von seinem Platz am Fenster kann der Designer verfolgen, wie um die alte | |
Zwirnfabrik das neue Bratislava entsteht. Hochhaustürme wachsen in den | |
Himmel und auch das Slowakische Nationaltheater hat einen futuristischen | |
Glaspalast bekommen. Mit seinen 420.000 Einwohnern zählt das frühere | |
Pressburg inzwischen zu den reichsten Städten Europas. Das | |
Bruttoinlandsprodukt der Region liegt bei 186 Prozent des EU-Durchschnitts | |
und ist damit höher als das von Wien. | |
Da die Mietpreise steigen, leben viele Slowaken inzwischen im | |
österreichischen Hainburg jenseits der Donau. Der Grund für diesen | |
schnellen Reichtum ist ebenso schnell erklärt. „In keinem anderen Land der | |
Welt werden pro Einwohner so viele Autos produziert wie in der Slowakei“, | |
sagt Architekt Tomáš Žáček. „Und die Autoindustrie ist von Innovationen | |
abhängig. Daher sind die Voraussetzungen für Start-ups bei uns so besonders | |
gut.“ | |
Bei den Parlamentswahlen im März holte in Bratislava eine neoliberale | |
Partei, die sich „Freiheit und Solidarität“ nennt, die meisten Stimmen. Ihr | |
Vorsitzender Richard Sulík ist der in Deutschland wohl bekannteste | |
slowakische Politiker. Sulík, der elf Jahre in der Bundesrepublik | |
verbrachte, hat immer wieder in Talkshows und Interviews gegen Angela | |
Merkel und die Flüchtlingsquoten der EU polemisiert. Zweitstärkste Partei | |
wurde die Partei Smer von Ministerpräsident Robert Fico, die sich | |
sozialdemokratisch gibt, aber eine Politik wie die CSU vertritt. | |
„Zurück nach Europa“ – so lautete eines der Ziele der „Samtenen Revolu… | |
von 1989 in der damaligen Tschechoslowakei. Ein Vierteljahrhundert später | |
gibt es in der Slowakei eigentlich keine Partei mehr, die sich einer der | |
großen europäischen Parteifamilien zuordnen ließe. Linke und Grüne sucht | |
man vergeblich. | |
Martin Šimečka, Journalist und Schriftsteller, war schon zu kommunistischen | |
Zeiten politisch aktiv und ein Freund Václav Havels. Der 58-Jährige ist vom | |
Wahlergebnis immer noch geschockt. „Es scheint, dass bei uns eine Partei | |
nur dann Erfolg haben kann, wenn sie zugleich national, sozial und | |
christlich ist.“ Im Urban House, einem angesagten Café im Stadtzentrum, in | |
dem viele Besucher stundenlang aufs Tablet oder Laptop starren, nennt | |
Šimečka jedoch noch eine zweiten Grund: „Die jungen Slowaken lesen keine | |
Zeitung und schauen kein Fernsehen. In der Schule erfahren sie fast nichts | |
vom Holocaust. Sie leben allein in ihrer Internetbubble.“ | |
## Diebe, Bösewichte, politische Verbrecher | |
Šimečkas Befund bestätigt auch Architekt Tomáš Žáček. „Vor allem die … | |
bis 20-Jährigen haben die Faschisten gewählt“, sagt er. Tatsächlich hat die | |
Partei des Faschisten Marian Kotleba den besten Internetauftritt aller | |
Parteien. Gelegentlich wird auf der Homepage auch ein Gebet veröffentlicht. | |
Und doch gibt es noch eine dritte Erklärung für das Wahlergebnis vom März. | |
Eigentlich wolle er mit Politik nichts zu tun haben, gesteht Tomáš Žáček. | |
Wie 60 Prozent der Slowaken gehe er wählen und entscheide sich dabei für | |
das geringste Übel. Staatliche Unterstützung für sein Start-up erwarte er | |
jedoch nicht. Nicht mehr. Denn jeder Antrag verlief nach monatelangen | |
Verhandlungen im Nichts, erzählt er. | |
Zurück im Parlament: Die Debatte über die Regierungserklärung dauert | |
bereits 49 Stunden. 104 Redner traten bisher ans Pult, 545 Mal haben die | |
Abgeordneten darauf mit sogenannten Anmerkungen reagiert, die tatsächlich | |
weitere Reden waren. Als das Thema Nationalhymne abgehandelt ist, werfen | |
sich die Politiker – Politikerinnen gibt es nur wenige – gegenseitig vor, | |
„Diebe“, „Bösewichte“, „Verbrecher“ zu sein. „Politische Verbrec… | |
dem alleinigen Ziel, „das slowakische Volk zu bestehlen“. Dass es die | |
Slowakei in den vergangen 25 Jahren weit gebracht hat – wen interessiert | |
das schon? Im Unterschied zu anderen Parlamenten Osteuropas kommt es | |
immerhin nicht zu Schlägereien. | |
Während sich die Parlamentarier weiter beschimpfen, gehen die Verhandlungen | |
der „Nice architects“ in der alten Zwirnfabrik über einen Investor in die | |
letzte Runde. Noch in diesem Jahr soll die Produktion der ersten fünfzig | |
Öko-Eier beginnen. 79.000 Euro werden die 8-Quadratmeter-Häuschen kosten. | |
Doch Tomáš Žáček ist sicher, dass es schon bald noch viel mehr Ökokapseln | |
geben wird. | |
23 May 2016 | |
## AUTOREN | |
Sabine Herre | |
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