# taz.de -- Debatte Alternative zur EU: Europäische Republik gesucht | |
> Viele wollen nach wie vor Europa, nur nicht diese EU. Wir brauchen eine | |
> Europäische Republik, in der alle BürgerInnen politisch gleich sind. | |
Bild: Jedem seine Leberwurst. Die Republik kümmert sich nur um das Große und … | |
Die EU hat ein ernstes Problem. Eines, das keine Öffentlichkeitskampagne | |
mehr lösen kann. Das Problem heißt Vertrauensverlust. Immer mehr Menschen | |
wenden sich von den EU-Institutionen ab. | |
Genervt vom Dauerkrisenmodus, frustriert von den strukturellen Defiziten | |
der EU, aufgestachelt durch erstarkende nationalistische und populistische | |
Bewegungen. Nur noch 28 Prozent der BürgerInnen in Deutschland vertrauen | |
der EU, 63 Prozent misstrauen ihr, wie eine aktuelle Studie verdeutlicht. | |
Das niederländische Votum gegen das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine | |
zeigt, dass es sich um einen europaweiten Trend handelt. Liest man das | |
Referendum als Abstimmung über die (Un-)Zufriedenheit mit der Politik der | |
EU, so sind 62 Prozent Neinstimmen niederschmetternd. Das Nee macht eine | |
der schwerwiegendsten strukturellen Schwächen der EU deutlich. Die | |
europäischen BürgerInnen sind nicht gleich vor dem Recht und bei Wahlen. | |
Die einen dürfen abstimmen, hier über die Ukraine, die anderen nicht. Wer | |
was innerhalb der EU darf, hängt immer noch davon ab, wessen Landes Kind | |
man ist. Eine politische Union kann so nie und nimmer funktionieren, ist | |
doch der Grundsatz der politischen Gleichheit die Conditio sine qua non für | |
jedes politische Gemeinwesen – das zu sein die EU ja vorgibt. | |
## Das uneingelöste Versprechen | |
Die politische Ungleichheit zeigt sich auch bei den Wahlen zum Europäischen | |
Parlament. Der komplizierte Schlüssel für die Sitzverteilung erzeugt eine | |
weitere Ungleichbehandlung. Was fehlt, ist die Verwirklichung des | |
Grundsatzes der politischen Gleichheit. Das heißt konkret: | |
Wahlrechtsgleichheit, steuerliche Gleichheit und gleicher Zugang zu | |
sozialen Rechten für alle. Die EU hat dieses Versprechen nie eingelöst. | |
Wie kann ein neues Europa aussehen, das diesem Anspruch gerecht wird? Die | |
ever closer union der Nationalstaaten hat als europäische Leitidee | |
ausgedient, das wird immer deutlicher. Die Nationalstaaten können ein | |
wirkliches europäisches Projekt nicht hervorbringen. Das politische Projekt | |
Europa kann letztlich in einer emanzipatorischen Bewegung nur von den | |
EuropäerInnen selbst konstituiert werden, denn sie sind der Souverän. | |
Wann immer sich BürgerInnen zu einem politischen Projekt | |
zusammengeschlossen haben, haben sie eine Republik gegründet. Die Republik | |
ist nicht ethnisch konturiert: Sie ist ein gemeinsamer, nachnationaler | |
Rechtsrahmen. Die Republik braucht dafür kein „Volk“, sondern Bürger; der | |
Nationalstaat ist weder das natürliche noch das einzige Gefäß für eine | |
Demokratie. | |
Es ist Zeit, dieses kulturhistorische Ideengut auf das europäische Projekt | |
selbst anzuwenden: Europa muss eine Republik werden, in der sich die | |
BürgerInnen auf der Grundlage von gemeinsamen Rechten zusammenfinden, | |
anstatt von ihren Nationalstaaten permanent gegeneinander ausgespielt zu | |
werden und innerhalb der EU ein nationales Wir gegen ein anderes nationales | |
Wir zu stellen, bei dem letztlich alle in Europa um ihre Zukunft betrogen | |
werden. | |
## Nachnationale Demokratie | |
Eine Europäische Republik, die sich um das europäische Gemeinwohl kümmert, | |
ist die Alternative zu einer EU, die über einen Binnenmarkt und eine | |
gemeinsame Währung technokratisch in nationale Strukturen hineinregiert. | |
Denn die meisten Menschen wollen nach wie vor Europa, nur nicht diese EU. | |
Die Ausgestaltung einer veritablen, nachnationalen europäischen Demokratie | |
ist also das Gebot der Stunde – wenn nicht dauerhaft, siehe Niederlande, | |
europäische Lösungen durch nationalen, vermeintlich „demokratischen | |
Einspruch“ konterkariert werden sollen. | |
Wo die nach-nationale europäische Demokratie indes nicht im politischen | |
Angebot ist, gedeiht der nationale Populismus. Ein Binnenmarkt ohne | |
regulierenden Staat, eine Währungsunion ohne gemeinsame Fiskal- und | |
Sozialpolitik produzieren derzeit eine sich immer weiter verschärfende | |
soziale Krise. | |
Dass Markt und Staat nicht entkoppelt sein dürfen, lehren sogar die | |
VordenkerInnen der sozialen Marktwirtschaft. Aber mit dem Vertrag von | |
Maastricht von 1992 ist genau das geschehen. So wächst ohne staatliches | |
Korrektiv die soziale Ungleichheit in Europa und zersetzt die EU von innen. | |
Vor allem die Peripherie und die ländlichen Räume werden immer weiter | |
abgehängt; die dortigen Globalisierungsverlierer werden zur leichten Beute | |
von Populisten jeder Couleur. Die nationale Politik lässt sich wiederum | |
europaweit von diesem Rechtsruck treiben – obgleich rund zwei Drittel aller | |
BürgerInnen an der europäischen Idee festhalten. Aber diese Mehrheit kann | |
im EU-System nicht abgebildet werden, da in ihm der Europäische Rat, in dem | |
die Nationalstaaten ihr jeweiliges Süppchen kochen, das maßgebliche | |
politische Entscheidungsorgan ist. | |
Die Idee von einer Europäischen Republik wäre daher der überfällige Schritt | |
nach vorne: einer nachnationale Demokratie, basierend auf dem Grundsatz der | |
politischen Gleichheit und dem Prinzip der Gewaltenteilung, in der die | |
heutigen europäischen Regionen zu konstitutionellen Trägern einer | |
Europäischen Republik würden. | |
## Das Nationale ist eine Erzählung | |
Regionen sind Heimat, Nationen sind Fiktion, schreibt der bekannte | |
österreichische Schriftsteller Robert Menasse. Das Nationale ist meist nur | |
eine Erzählung. Das Regionale, das sind die Sprache, die Küche und die | |
Kultur. Würde man die Regionen im politischen System einer Europäischen | |
Republik aufwerten, bekäme man genau jene „Einheit in Vielheit“, ohne eine | |
verkrampfte und künstliche europäische Identität schaffen zu müssen, die es | |
so nicht gibt: Die kulturelle Identität bliebe im Gegenteil den Regionen | |
vorbehalten, die in Europa durch ihre Unterschiedlichkeit bestechen. Das | |
gemeinsame europäische Dach aber wäre das gleiche Recht, das die | |
Europäische Republik allen Bürgern Europas garantieren würde. | |
Normativ gleich, aber kulturell vielfältig, so könnte das europäische | |
Modell der Zukunft aussehen: Bayern und Venedig, Katalonien und Sachsen, | |
Mähren und Brabant, sie alle wären vereint in der Europäischen Republik, | |
bei gleichzeitiger politischer und kultureller Autonomie. VertreterInnen | |
der Regionen könnten in einer zweiten Kammer, ähnlich dem amerikanischen | |
Senat, die regionalen Interessen vertreten, während die erste Kammer nach | |
dem Grundsatz „Eine Person, eine Stimme“, also bei gleichem und direktem | |
Wahlrecht, von allen gewählt würde. An der Spitze der Republik stünde eine | |
direkt von den Bürgern gewählte Präsidentin oder ein Präsident. | |
Die Republik kümmert sich um das Große und Ganze – Außenpolitik, Cyber, | |
Energie, Klima – und die Rolle Europas in der Welt; der Rest bliebe den | |
Regionen vorbehalten. Jedem seine Leberwurst, aber eine gemeinsame | |
Ukrainepolitik: Gegen so ein Europa hätten bestimmt auch die meisten | |
Niederländer nichts! | |
## Vom Kopf auf die Füße | |
Neben einer politischen und territorialen Neuordnung ist auch eine | |
wirtschaftliche Neuordnung Europas vonnöten. Die europäische | |
Postdemokratie, die dem Markt das Primat über politische Entscheidungen | |
gegeben hat, muss beendet werden. Die großen Konzerne agieren schon längst | |
transnational, auch die Wertschöpfungsketten sind schon lange nicht mehr | |
national. Dies bedarf dringend einer europäischen Einbettung durch | |
gemeinsame soziale, steuer- und tarifrechtliche Strukturen – wenn nicht | |
permanent europäische BürgerInnen gegeneinander ausgespielt werden sollen, | |
während europäische Unternehmen innerhalb des Binnenmarktes auf Steuer- und | |
Lohnshoppingtour gehen. Wettbewerb ist für Unternehmen, nicht für | |
BürgerInnen. Europa muss hier vom Kopf auf die Füße gestellt werden und | |
bürgerliche Gleichheit, nicht nur Gleichheit für Marktakteure zulasten der | |
Bürger garantieren. | |
Die meisten europäischen BürgerInnen haben, wie sozialwissenschaftliche | |
Studien belegen, den Grundsatz der politischen Gleichheit längst | |
akzeptiert. Sie finden indes kaum mutige nationale PolitikerInnen, die sich | |
dafür einsetzen. Das ist der nationale Verrat an der europäischen Idee, den | |
wir augenblicklich überall erleben – und vielleicht bald bereuen müssen. | |
Raus aus dem Krisenmodus, weg mit dem Zukunftspessimismus. Und hinein in | |
eine Geisteshaltung, in der wir uns wieder das Bekenntnis zur Schönheit des | |
europäischen Projektes erlauben: Die nachnationale Emanzipation der | |
europäischen BürgerInnen bereitet den Weg zur Europäischen Republik! | |
Mitarbeit: Yannic Bellino, Martin Speer. | |
1 May 2016 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Guérot | |
## TAGS | |
Europa | |
Europäische Union | |
Nationalität | |
Robert Menasse | |
Rechter Populismus | |
Barack Obama | |
Rechtsradikale | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Deutscher Buchpreis für „Die Hauptstadt“: Die richtige Wahl | |
Robert Menasse erhält den Deutschen Buchpreis für seinen literarisch wie | |
politisch versierten Roman „Die Hauptstadt“. Ein mutiges „Geschichtsbuch�… | |
zur EU. | |
Essay Populismus: Schatten der Repräsentation | |
Europa hadert schon lange mit der Volkssouveränität und versucht, | |
tyrannische Mehrheiten zu zähmen. Kann es einen legitimen Populismus geben? | |
Rede in Hannover: Obama beschwört das vereinte Europa | |
Der US-Präsident lobt die europäische Einheit als „einen der größten | |
politischen Erfolge der Moderne“. Aber er hat auch Forderungen im Gepäck. | |
Aus Le Monde diplomatique: Reaktionäre unter sich | |
Der Erfolg der Rechten in Europa beruht auf ihren Antworten zu Migration | |
und Sparpolitik. Es braucht eine solidarische Internationale. |