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# taz.de -- Essay Populismus: Schatten der Repräsentation
> Europa hadert schon lange mit der Volkssouveränität und versucht,
> tyrannische Mehrheiten zu zähmen. Kann es einen legitimen Populismus
> geben?
Bild: Eindeutig: Populismus von rechts
Ob Marine Le Pen oder Viktor Orbán, ob Donald Trump oder die AfD: der
Populismus ist auf dem Vormarsch. Über seine Ursachen wird dagegen heftig
gestritten. Einige Beobachter sehen diese in einer „Krise der politischen
Repräsentation“: Mit den Volksparteien verschwinde eine Institution, die
nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa viel für die Integration
verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen getan habe. Dabei waren
Volksparteien trotz des Namens eben gerade nicht populistisch: Man wollte
zwar möglichst viele Schichten und Wählergruppen erreichen, hatte aber
keinen moralischen Alleinvertretungsanspruch, wie dies bei Populisten immer
der Fall ist.
Nun ist der Umstand, dass die Volksparteien immer mehr Stimmenanteile
einbüßen, sicherlich kein Anzeichen für eine Krise der Repräsentation an
sich. Im Gegenteil: In stabilen liberalen Demokratien bedeutet eine
Ausdifferenzierung von Parteiensystemen, in denen idealerweise alle
Parteien einander als legitim anerkennen und zum Teil auch Bündnisse
schließen können, einen Zugewinn an Pluralismus, weil Interessen und
Identitäten differenzierter vertreten werden können. Insofern ist der
Aufstieg von sogenannten Programmparteien nicht automatisch ein
Warnzeichen, dass Berlin zu Weimar werden könnte.
Zudem gilt: Die Annahme, in der Vergangenheit seien die eindeutig
identifizierbaren Wünsche der Wähler von regierenden Parteien schnurstracks
umgesetzt worden, ist höchst fragwürdig. Die westeuropäischen Eliten, die
nach 1945 liberale Demokratien errichteten, setzten ihre Hoffnungen gerade
nicht auf mehr Bürgerbeteiligung. Man fürchtete sich sogar vor den
möglichen Auswirkungen parlamentarischer Souveränität. Hatte nicht der
Reichstag Hitler zum Reichskanzler gemacht?
Vor diesem Hintergrund lässt sich erklären, weshalb Institutionen, deren
Spitzen nicht direkt von den Bürgern gewählt werden – das
Bundesverfassungsgericht ist in diesem Zusammenhang das beste Beispiel –,
nach 1945 einen Siegeszug antraten. Den obersten Gerichten kam in den
fragilen Demokratien der Nachkriegszeit in erster Linie die Aufgabe zu,
Minderheiten vor tyrannischen Mehrheiten zu schützen. Der konstitutionelle
Rahmen der Politik nach 1945 ist ohne den ausgeprägten Antitotalitarismus
der Eliten nicht zu verstehen.
## „Policy without politics“
Die europäische Integration stand nie im Widerspruch zu diesem
Demokratieverständnis. Vielmehr war Europa eine Art supranationales Dach
der antitotalitären europäischen Nachkriegsarchitektur. Auch hier sollte
das Ideal der Volkssouveränität so weit wie möglich heruntergedimmt werden.
Bekanntlich geriet dieses relativ restriktive Demokratieverständnis in den
späten 1960er und 1970er Jahren unter Druck: Die 68er, vor allem aber die
Neuen Sozialen Bewegungen wollten nicht nur inhaltliche Ziele durchsetzen –
sie wollten auch eine offenere, weniger etatistische Politik.
Insofern lassen sich diese Bewegungen durchaus als eine plausible Antwort
auf eine seinerzeit tief empfundene „Krise der Repräsentation“ deuten:
Außerparlamentarische Opposition war notwendig, weil die Parteien in den
Volksvertretungen keine erkennbaren Alternativen anboten;
öffentlichkeitswirksamer Protest musste sein, weil patriarchalische
Führungsfiguren wie Kiesinger und de Gaulle nicht einsehen wollten, dass
ihre Zeit als Beschützer der fragilen Demokratien vorbei war.
In gewisser Weise war die westeuropäische Nachkriegsordnung also schon
immer anfällig für den auf den ersten Blick „populistischen“ Vorwurf, das
Volk bleibe eigentlich außen vor. Es ist vor diesem Hintergrund wenig
plausibel, mit Blick auf die Krise Europas pauschal von einer
präzedenzlosen Repräsentationskrise zu sprechen. Das soll aber nicht
heißen, in Europa stehe heute aus demokratischer Sicht alles zum Besten.
Der Versuch, Haushaltsdisziplin in einer europäischen Verfassung zu
verankern, wirkt auf den ersten Blick wie eine Weiterentwicklung der
Grundprinzipien der „eingehegten Volkssouveränität“ der Nachkriegszeit.
Diese Einhegungen ließen sich in der Vergangenheit immer damit
rechtfertigen, dass letztlich die Demokratie als solche gestärkt werde. Das
gilt jedoch kaum für heutige Einschränkungen aufgrund von Zahlen wie 3
Prozent oder 60 Prozent Defizit, die auch Wirtschaftswissenschaftler
letztlich als willkürlich betrachten.
## Identitätspolitik ohne politische Ideen
Als fatal erweist sich, dass diese vermeintlichen Lösungen für die
Eurokrise stets als alternativlos präsentiert wurden. Beobachter haben an
dieser Stelle von „policy without politics“ (also von technischen Maßnahmen
ohne inhaltliche Auseinandersetzung) gesprochen, auf welche die Populisten
nun mit so etwas wie Identitätspolitik ohne politische Ideen antworten.
Weder Technokraten noch Populisten brauchen Parlamente, in denen über
unterschiedliche Optionen diskutiert und Entscheidungen getroffen werden –
denn die richtige Antwort steht ja ohnehin bereits fest: Für die
Technokraten ist es die objektiv richtige technische Lösung mit Blick auf
den vermeintlich unverhandelbaren Sachzwang; für die Populisten ist es der
angeblich einzig authentische Volkswille.
Es geht heute nicht darum, politische Institutionen radikal umzugestalten,
sondern darum, illegitime Macht – vor allem Marktmacht – unter Kontrolle zu
bringen. Ohne Druck von unten wird dies kaum möglich sein. Ist hier
vielleicht doch Platz für einen legitimen Populismus, für einen Populismus
von links? Man könne den ausschließenden, de facto rassistischen Populismus
ablehnen, so die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe, und doch
gleichzeitig „die populistische Dimension der Demokratie, die den Entwurf
eines Volkes einfordert“, würdigen. Die Linke solle einen fundamentalen
Antagonismus in der Gesellschaft deutlich machen – aber nicht den zwischen
Volk und Migranten, sondern den zwischen dem Volk und dem, was Mouffe etwas
blass „die politischen und ökonomischen Kräfte des Neoliberalismus“ nennt.
Populismus wird so vom vermeintlichen „Schmuddelkind“ zur politischen
Operation par excellence. Aber: Wieviel Demokratie steckt darin noch? „Wir
– und nur wir – repräsentieren das wahre Volk.“ Dieser moralische
Alleinvertretungsanspruch ist das Kernanliegen aller Populisten. Demokratie
ist dagegen immer pluralistisch und konflikthaft. Gleichzeitig sind
Konflikte in der Demokratie stets institutionell eingehegt; die
Kontrahenten betrachten sich als legitime Gegner, anstatt einander als
Feinde zu bekriegen, die es möglicherweise gar zu vernichten gilt.
## Emotionalisierungseffekte
Genau das ist jedoch das Selbstbild der real existierenden Populisten. Wenn
Mouffe selbst die Gegner des aus einer linken Perspektive konstruierten
Volkes abstrakt als anonyme „Kräfte des Neoliberalismus“ bezeichnet (als
handele es sich dabei um physikalische Kräfte), deutet dies darauf hin,
dass die Theoretiker des linken Populismus eine Personalisierung des
„Volksfeindes“ bewusst vermeiden wollen.
Worin besteht dann aber noch die „Konstruktion“ eines Volkes? Was bedeutet
es, wenn ein Volk gegen abstrakte „Kräfte“ kämpft? Möchte man mit dem
„P-Wort“ lediglich die Stimmung anheizen? Oder besteht der Gedanke darin,
dass die Leidenschaften der Bürger, die sich angesichts des neoliberalen
Konsenses nicht richtig austoben können, besser nach links als nach rechts
gelenkt werden sollten?
Es ist nicht evident, wodurch eine Linke sich besser stellt, die nicht nur
Kritik am – verkürzt gesagt – Neoliberalismus formuliert, sondern neben
einem ökonomisch-politischen Gegenprogramm auch noch „ein Volk entwirft“,
wie Mouffe es fordert. Würde es da nicht reichen, wenn sich eine
wiederbelebte Sozialdemokratie ein neues, überzeugendes Programm für mehr
Gleichheit auf seine Fahne schriebe? Oder erhofft man sich von dem Begriff
„Volk“ zusätzliche Emotionalisierungseffekte? Politik ist Konflikt, aber
was ist durch diese volkshaften – ich sage bewusst nicht: völkischen –
Umschreibungen gewonnen?
Fest steht: Ein Europa, in dem sich Rechts- und Linkspopulisten, bewaffnet
mit ihrem jeweiligen „Volks“-Entwurf, gegenüberstehen und sich gegenseitig
die politische Legitimität absprechen, ist eine Horrorvision. Stattdessen
brauchen wir eine Auseinandersetzung über grundlegende politische
Richtungsentscheidungen. Fest steht aber auch: Solange wir in
repräsentativen Demokratien leben, wird es auch ihren Schatten, also
Populismus, geben.
29 May 2016
## AUTOREN
jan-werner Müller
Jan-Werner Müller
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