| # taz.de -- Syrische Flüchtlinge in Deutschland: Das Warten auf die Kinder | |
| > Syrische Flüchtlinge sollen ihre Familien auf sicherem Weg nach | |
| > Deutschland holen dürfen. In der Praxis sind die Hürden hoch und die | |
| > Folgen dramatisch. | |
| Bild: Idlib, Syrien, 19. März 2017 | |
| Berlin taz | Während die zuständige Berliner Ausländerbehörde den Antrag | |
| von Mahmoud Al Muhammad im November 2015 bearbeitet, wird seine Frau Amira | |
| in Aleppo festgenommen. Im Gefängnis wird die herzkranke Frau zwei Monate | |
| lang mit Schlägen und Stromstößen misshandelt – angeblich, um | |
| herauszufinden, wo ihr Mann ist. Heute sei Amira nicht mehr dieselbe. | |
| „Psycho“, sagt Al Muhammad auf Deutsch und tippt sich an die Stirn. | |
| Mahmoud Al Muhammad kam im Januar 2015 nach Deutschland. Fünf Monate später | |
| wurde er als Flüchtling anerkannt. Sein Haaransatz ist zurückgegangen, die | |
| Schläfen sind grau, Falten rahmen die matten braunen Augen ein. Dabei ist | |
| er erst 34 Jahre alt. | |
| Als Mahmoud Al Muhammad in der Türkei in ein wackeliges Boot kletterte, | |
| dachte er an seine Familie. Als er von Griechenland nach Deutschland lief, | |
| zu Fuß durch Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich, dachte er an seine | |
| sechs Jungs, der älteste neun Jahre alt. An seine Tochter Sidra. An seine | |
| Frau Amira und das achte Kind in ihrem Bauch, wieder ein Junge. Daran, dass | |
| seine Familie in Aleppo jeden Moment von einer Bombe getroffen werden | |
| könnte. Zwei Jahre ist Al Muhammads Flucht nun her. Seinen jüngsten Sohn | |
| hat er bis heute nicht gesehen. | |
| „Alles, was ich wollte, war, meine Familie zu retten. Ich brauche kein | |
| Geld, keine große Wohnung, nur Sicherheit für meine Kinder“, sagt er. Als | |
| anerkannter Flüchtling hat er Anspruch darauf, seine Familie nach | |
| Deutschland zu holen, die heute in einem Flüchtlingslager in Idlib, im | |
| Nordwesten Syriens, lebt und auf einen Termin bei der deutschen Botschaft | |
| wartet. | |
| ## Balkon zum Schalter umgebaut | |
| Die Gesetze zum Familiennachzug sollen verhindern, dass Kinder mit ihren | |
| Eltern auf gefährlichen Routen flüchten. Über Visa sollen sie legal in | |
| Deutschland einreisen können. Rund 40.000 syrische Angehörige kamen auf | |
| diese Weise im vergangenen Jahr nach Deutschland. | |
| „Es ist nicht ungewöhnlich, dass der Familiennachzug sehr lange dauert“, | |
| sagt Anna Schmitt. Sie berät Al Muhammad kostenlos bei der Sprechstunde des | |
| Beratungs- und Betreuungszentrums (BBZ) in Berlin. In Syrien kann kein | |
| Visum mehr beantragt werden, die deutsche Vertretung in Damaskus ist seit | |
| 2012 geschlossen. Viele fahren dazu ins Nachbarland Libanon. | |
| „Es besteht weiter eine sehr große Nachfrage nach Terminen für die | |
| Visumsbeantragung“, schreibt die Botschaft in Beirut auf ihrer Webseite. | |
| Wer um einen Termin bitte, werde erst zehn bis zwölf Monate später eine | |
| Antwort erhalten. „Die Botschaft bekommt monatlich 15.000 Mails“, sagt ein | |
| Sprecher des Auswärtigen Amtes. Er beschreibt, wie ein Balkon zum Schalter | |
| umgebaut wurde und wie das Personal im Schichtbetrieb an sieben Tagen pro | |
| Woche Anträge abarbeitet. Das Auswärtige Amt habe dazu rund 100 | |
| Mitarbeiter*innen zusätzlich eingestellt. Die Botschaft stehe „unter einer | |
| außerordentlichen Belastung“ wegen des „gigantischen Ausmaßes der | |
| humanitären Krise“. | |
| ## Verschleppung beim Familiennachzug politisch gewollt? | |
| Aiman Al Farwan wollte eigentlich nur kurz bei Anna Schmitt im Hilfsverein | |
| vorbeikommen und fragen, was die Botschaft zu seinem Attest gesagt hat, das | |
| er vor einigen Wochen abgeschickt hatte. Als er hört, dass noch keine | |
| Antwort da ist, fängt er an zu schreien. „Meine Familie wird gerade | |
| totgebombt“, brüllt er, „und das ist hier allen egal!“ | |
| Nachdem er sich wieder beruhigt hat, zeigt Al Farwan ein Video auf seinem | |
| Handy. Ein kleines Mädchen wälzt sich in einem Klinikbett und wimmert. Ihr | |
| T-Shirt ist hochgerutscht. Darunter schaut ein Teil des Mullverbands | |
| hervor, der den ganzen Oberkörper bedeckt. „Das ist meine Tochter Sara“, | |
| sagt Al Farwan. Er erzählt, dass sie fünf Jahre alt ist. Dass sie eine | |
| Splitterverletzung hat. Dass sie in einem Keller operiert wurde, weil in | |
| seiner Heimatstadt Daraa im Osten Syriens kein einziges Krankenhaus mehr | |
| steht. Dass die Schmerzmittel knapp sind. | |
| Während Al Farwan spricht, zieht er mit der Hand immer wieder eine | |
| senkrechte Linie von seinem Brustkorb zum Hosenbund. Als er davon erfuhr, | |
| erlitt er einen Nervenzusammenbruch, sagt er. Er zeigt den Arztbrief der | |
| Berliner Charité: „Bei Erstvorstellung war der Patient versteinert, | |
| unterbrochen von heftigen Weinkrämpfen“. Er nimmt jetzt Medikamente und ist | |
| in Therapie. | |
| „Das Auswärtige Amt und das Innenministerium müssen auf den Vorwurf | |
| reagieren, dass diese Verschleppung beim Familiennachzug politisch gewollt | |
| ist“, sagt Günter Burkhardt. Er ist Geschäftsführer von ProAsyl und fordert | |
| schnellere Verfahren. Das Geld sei da, andere Behörden würden schließlich | |
| auch aufgestockt. | |
| ## „Papa, wann kommst du uns holen?“ | |
| Mustafa Al Hababi kam zur selben Zeit in Deutschland an wie Aiman Al | |
| Farwan, im Juli 2015. Doch Al Hababis Antrag wurde erst später bearbeitet. | |
| Er bekam deshalb nur den subsidiären Schutzstatus zuerkannt, seit dem | |
| Sommer 2016 ist das für syrische Flüchtlinge zur Regel geworden. Wer nicht | |
| persönlich verfolgt, sondern vor Krieg oder Bürgerkrieg geflohen ist, | |
| bekommt diese Aufenthaltserlaubnis, die nur ein Jahr lang gilt. „Also | |
| danke. Aber ich fühle mich unwillkommen“, sagt Al Hababi. Der schmächtige | |
| Mann presst die Lippen zusammen und hebt in einer Geste der Machtlosigkeit | |
| seine Hände. Am linken Ringfinger trägt er einen silbernen Ehering. | |
| Im März 2016 hat die Bundesregierung entschieden, den Familiennachzug für | |
| subsidiär Schutzberechtigte für zwei Jahre ganz auszusetzen. Das heißt: | |
| Betroffene wie Al Hababi dürfen ihre Angehörigen nicht mehr nachholen. Erst | |
| ab März 2018 dürfen sie Anträge stellen und Termine ausmachen, um dann | |
| monatelang auf eine Entscheidung zu warten. | |
| Auch Amira Al Muhammad wird in Idlib noch einige Monate auf ihren Termin in | |
| Beirut warten. Es hat lange gedauert, aber die zuständige Berliner | |
| Ausländerbehörde Labo, das Landesamt für Bürger und | |
| Ordnungsangelegenheiten, hat nun zugestimmt, dass die Familie prinzipiell | |
| nachkommen darf. Mahmoud Al Muhammad ist froh, wenn er nicht mehr zu der | |
| Behörde muss, sagt er. Die Sachbearbeiter*innen hätten ihm immer das Gefühl | |
| gegeben, etwas falsch gemacht zu haben. Als er zuletzt ohne Termin dort | |
| war, um das Attest seiner Frau abzugeben, habe ihn der Sicherheitsdienst | |
| gar nicht ins Gebäude gelassen. Anna Schmitt sagt, das sei „nicht | |
| unüblich“. Die für das Amt zuständige Senatsverwaltung für Inneres und | |
| Sport bestreitet das, sie weist auch zurück, aus Personalmangel überfordert | |
| zu sein. | |
| Wenn Mahmoud Al Muhammad mit seiner Familie in Idlib telefoniert, fragen | |
| die Kinder: „Papa, wann kommst du uns holen?“. Auf die Frage, was er ihnen | |
| dann antwortet, räuspert er sich, blickt eine Weile auf seine Hände. Dann | |
| fängt er an zu weinen. | |
| 30 Mar 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Jana Anzlinger | |
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