# taz.de -- Aus „Le Monde diplomatique“: Kalte Regeln | |
> Die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union verhindert Solidarität. | |
> Dabei gibt es genug Lösungsansätze wie Botschaftsasyl und legale | |
> Migration. | |
Bild: Um Asyl in der EU zu bekommen, muss man zuerst illegal und gefährlich ei… | |
Mit einer einzigen Entscheidung hätte der Europäische Gerichtshof (EuGH) im | |
März 2017 die Flüchtlingspolitik der gesamten Europäischen Union | |
schlagartig ändern können. Eine syrische Flüchtlingsfamilie hatte in der | |
belgischen Botschaft in Beirut ein Einreisevisum in die EU beantragt und | |
gegen die anschließende Ablehnung ihres Antrags geklagt. Der Fall war | |
brisant: Wären die Familienmitglieder bei der Antragstellung bereits auf | |
belgischem Boden gewesen, wären sie wahrscheinlich als Flüchtlinge | |
anerkannt worden. So aber wurde ihnen, wie in solchen Fällen üblich, die | |
Möglichkeit auf ein humanitäres Visum verwehrt. Es stand viel auf dem Spiel | |
für Schutzsuchende aus der ganzen Welt. War die Ablehnung durch die | |
belgischen Behörden rechtswidrig? | |
Die EU-Richter zogen sich aus der Affäre. Obwohl sogar EU-Generalanwalt | |
Paolo Mengozzi sich in seinem Schlussantrag dafür aussprach, bestimmten | |
Flüchtlingen aus humanitären Gründen ein Visum auszustellen, erklärte sich | |
der EuGH für nicht zuständig. Um humanitäre Visa müssten sich, wenn es sie | |
denn geben sollte, die einzelnen Mitgliedstaaten selbst kümmern. Dabei war | |
der Gerichtshof bei anderen Asylfragen nicht so schüchtern, auch | |
weitreichende Urteile zu sprechen. | |
Mit dem Votum des obersten EU-Gerichts bleibt die Flüchtlingspolitik der EU | |
ein paradoxes Konstrukt: Um eine Chance auf Asyl zu haben, muss man sich | |
auf europäischem Territorium oder an der Grenze befinden. Ein Recht auf | |
Einreise gibt es aber nicht. Asyl können deswegen nur Menschen beantragen, | |
die mit dem illegalen Grenzübertritt automatisch zu Rechtsbrechern werden. | |
„Asyldarwinismus“ nennt das die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl: Nur | |
wer den Nato-Draht an den EU-Außengrenzen überwindet oder den Weg über das | |
Mittelmeer überlebt, darf Schutz erhalten. Alle anderen nicht. Dabei gibt | |
es Alternativen zur jetzigen Flüchtlingspolitik, die nicht nur | |
Schutzsuchenden, sondern auch anderen Migranten legale Zufluchtswege | |
garantieren können. | |
„Das Urteil des Gerichtshofs hat den Mitgliedstaaten zwar nicht den Weg | |
versperrt, einzelnen Flüchtlingen humanitäre Visa nach nationalem Recht zu | |
erteilen, damit sie in die EU einreisen können“, sagt die Völkerrechtlerin | |
Pauline Endres de Oliveira, die an der Universität Gießen zum europäischen | |
Asylrecht forscht. „Vermutlich werden sich die Mitgliedstaaten aber eher | |
auf dem Urteil ausruhen.“ | |
Würden sie sich stattdessen an dem Konzept orientieren, das das dänische | |
Menschenrechtszentrum bereits 2002 vorgeschlagen hat und das ins | |
Wahlprogramm der spanischen Linkspartei Podemos aufgenommen wurde, könnten | |
Menschen auf der ganzen Welt in ihrem Heimat- oder Nachbarland Asylanträge | |
stellen – und zwar in den Botschaften von EU-Mitgliedstaaten. Nach | |
verkürzter Prüfung könnten sie dann ein Einreisevisum erhalten, um | |
anschließend Asylstatus oder zumindest ein Bleiberecht zu erlangen. Wenn | |
etwa die deutsche Botschaft in Nigeria Asylanträge nach Deutschland | |
weiterleiten würde, müssten sich potenzielle Flüchtlinge aus | |
Subsahara-Afrika – darunter auch Frauen und Kinder – nicht mehr in die | |
Hände von Schmugglern begeben, den Weg übers Mittelmeer wagen und auch | |
nicht die Tenéré-Wüste in Niger durchqueren, wo jedes Jahr noch mehr | |
Flüchtlinge sterben als im Mittelmeer. | |
## Botschaftsasyle wären eine Lösung | |
Botschaftsasyle waren früher durchaus üblich und bis vor kurzem zum | |
Beispiel in Schweizer Auslandsvertretungen möglich. 2013 schaffte das Land | |
diese Möglichkeit aber ab. Frankreich stellt in Ausnahmefällen zumindest in | |
Auslandsvertretungen humanitäre Visa aus. Brasilien wies 2013 seine | |
Konsulate im Nahen Osten an, Einreisevisa für Asylsuchende aus Syrien | |
auszustellen. | |
Im Visakodex der EU könnten humanitäre Asylverfahren festgelegt werden. Das | |
wäre zwar aufwendig und teuer für auswärtige Dienste, könnte aber auch | |
unter Sicherheitsaspekten von Vorteil sein: Werden Asylanträge schon im | |
Herkunftsland bearbeitet, erspart man sich die Sicherheitsüberprüfung im | |
Zielland. Botschaftsasyle können schon jetzt von jedem EU-Staat individuell | |
eingeführt werden. Für eine EU-weite Lösung müsste sich die Union | |
allerdings auf ein gemeinsames Asylverfahren für den gesamten Raum einigen | |
statt wie bisher nur auf Mindeststandards. Der existiert allerdings trotz | |
vieler Konzepte bis heute nicht. | |
Damit müsste die Europäische Union nämlich akzeptieren, dass eine nicht | |
definierte Anzahl von Schutzsuchenden nach Europa kommt. Die EU-Politik | |
legt den Fokus stattdessen auf die Etablierung sogenannter Hotspots, die | |
die kontrollierte Einreise in die EU suggerieren. Nicht in den | |
Herkunftsländern von Flüchtlingen, sondern an den EU-Außengrenzen sollen | |
Aufnahmezentren oder „Auffanglager“ entstehen, in denen Flüchtlinge | |
Asylanträge stellen können. | |
Für ein solches Konzept hat sich seinerzeit schon SPD-Innenminister Otto | |
Schily starkgemacht, und heute treibt es Frankreichs Präsident Emmanuel | |
Macron auf Flüchtlingsgipfeln voran. Dabei ist zu befürchten, dass diese | |
Lager – besonders wenn sie in instabilen Staaten wie Libyen entstehen – | |
letztlich zu riesigen Flüchtlingslagern würden. Ob die Rechtsstaatlichkeit | |
der Asylverfahren abseits der europäischen Öffentlichkeit gesichert wäre | |
und dann tatsächlich alle Menschen nach Europa einreisen dürften, die einen | |
Anspruch auf Asyl haben, ist zu bezweifeln. | |
Es ist aber ohnehin sehr unwahrscheinlich, dass offizielle Auffanglager | |
außerhalb der EU tatsächlich entstehen. „Bei all diesen Plänen müsste neb… | |
der Beachtung menschenrechtlicher Verpflichtungen und Standards unter | |
anderem geklärt werden, nach welchem Verteilungsmechanismus die Flüchtlinge | |
in welche Länder weiterreisen dürften“, sagt Endres de Oliveira. | |
Für ein solidarisches Asylmodell müssten sich die EU-Staaten zunächst auf | |
eine Verantwortungsteilung einigen. Dass die Verteilung von Flüchtlingen | |
innerhalb der EU bisher nur äußerst stockend funktioniert, zeigt sich an | |
den laufenden Notprogrammen: Von September 2015 bis Juli 2017 bekamen | |
weniger als 25.000 Flüchtlinge, die in Italien und Griechenland registriert | |
wurden, Bleiberecht in einem anderen EU-Staat. Österreich, Polen und Ungarn | |
nahmen gar keine Flüchtlinge auf, Tschechien und die Slowakei gerade einmal | |
je ein Dutzend. Gegen feste Verteilungsquoten, die sich an Größe und | |
Wirtschaftskraft der Mitgliedstaaten orientieren, sperren sie sich. | |
## Wer hilft, muss zahlen | |
Auch Deutschland, das sich beim Thema Flüchtlinge gern als humanitäres | |
Gegenmodell präsentiert, tut wenig für eine solidarische Lösung: Gegen ein | |
verpflichtendes Verteilungsprogramm wehrte sich bei Verhandlungen zur | |
Dublin-III-Verordnung vor allem Berlin. Auch die Entwürfe zur | |
[1][Dublin-IV-Verordnung [1]] sehen keinen Verteilungsmechanismus, sondern | |
nur weitere Verschärfungen des Asylrechts vor. Flüchtlingsorganisationen | |
fordern deswegen bereits die Abschaffung der Dublin-Verordnung. | |
Einstweilen gilt auf den Fluchtrouten wie im Mittelmeer weiterhin das | |
Verursacherprinzip: Wer Flüchtlinge rettet, muss auch ihr Asylverfahren | |
garantieren. In anderen Bereichen wären derart unsolidarische Vorschriften | |
unvorstellbar. Müssten Nothelfer zum Beispiel bei Verkehrsunfällen | |
automatisch auch für die Krankenhausbehandlung aufkommen, würden | |
Unfallstellen vermutlich weiträumig umfahren werden. | |
Während über Auffanglager an EU-Außengrenzen noch diskutiert wird, | |
existieren auf der ganzen Welt längst tausende Mini-Hotspots, die kein | |
Mensch infrage stellt. An allen internationalen Flughäfen ist die | |
Grenzkontrolle nämlich vorgelagert – und teilweise privatisiert. | |
Fluggesellschaften prüfen ohne nennenswerte öffentliche Kontrolle und wenig | |
transparent, ob Fluggäste berechtigt sind, in die EU einzureisen. Dabei | |
macht es in der Regel keinen Unterschied, ob Menschen Asyl suchen oder | |
nicht – nur wer Einreisedokumente hat, darf einreisen, alle anderen nicht. | |
Das hält viele politisch Verfolgte von einer Einreise per Flugzeug ab, da | |
sie sich oft keine Reisedokumente beschaffen können. | |
Zu diesen Kontrollen sind Fluggesellschaften nach einer EU-Richtlinie | |
angehalten. Befördern sie Menschen in die EU, die nicht die erforderlichen | |
Dokumente besitzen, müssen sie für deren Rücktransport sorgen und riskieren | |
hohe Geldstrafen, sogenannte Carrier Sanctions. Die führen dazu, dass | |
Fluggesellschaften im Zweifel eher mehr Menschen von einem Flug abhalten. | |
Dabei erwähnt die Richtlinie auch, dass die Genfer Flüchtlingskonvention | |
nicht beeinträchtigt werden darf. Heißt: Flüchtlinge dürfen theoretisch | |
nicht vom Flug abgehalten werden. | |
Darauf machte 2015 die schwedische Initiative Refugee Air aufmerksam: Sie | |
kündigte an, ein eigenes Flugzeug zu chartern und damit Flüchtlinge in die | |
EU zu bringen. Statt Schmugglern tausende Euro zu geben, sollten sie sicher | |
nach Schweden einreisen können, um dort Asyl zu beantragen. Ein Jahr später | |
wollten auch die Künstler vom Zentrum für Politische Schönheit im Rahmen | |
der Aktion „Flüchtlinge fressen“ eine Chartermaschine mit Flüchtlingen an | |
Bord nach Deutschland bringen. Doch das Bundesinnenministerium machte Druck | |
auf den Betreiber Air Berlin, sodass der Flug abgesagt wurde. Refugee Air | |
war hingegen teilweise erfolgreich: Zwar wurde auch bei ihnen aus den | |
Charterflügen nichts, aber die schwedische Regierung kündigte zumindest an, | |
in einem Umsiedlungsverfahren 5000 Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen. | |
Sowohl einzelne Mitgliedstaaten als auch die EU insgesamt haben in den | |
vergangenen Jahren immer wieder befristete Umsiedlungsverfahren ins Leben | |
gerufen, die von der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR koordiniert werden. | |
Sie sollen bestimmten Flüchtlingen aus Syrien und anderen Krisenstaaten die | |
Einreise in die EU ermöglichen und ihnen eine langfristige Perspektive in | |
der EU bieten. Insbesondere bei der deutschen Regierung sind solche | |
Resettlement-Programme beliebt, weil sie damit Tatkraft in humanitären | |
Notsituationen demonstrieren kann, ohne den im Grundgesetz verankerten | |
individuellen Asylanspruch prüfen zu müssen. Das hat für die Regierungen | |
den Vorteil, dass sie selbst entscheiden, in welcher Anzahl und nach | |
welchen Kriterien Menschen einreisen dürfen. Einen Anspruch auf Teilnahme | |
an den Programmen gibt es nicht – unabhängig davon, ob jemand als | |
Flüchtling anerkannt würde oder nicht. | |
Eine neue Resettlement-Verordnung könnte über die temporären Programme | |
hinaus jährliche Aufnahmequoten für die EU-Mitgliedstaaten festlegen. | |
Außerdem könnten Programme gefördert werden, innerhalb derer Privatpersonen | |
Bürgschaften für Flüchtlinge übernehmen. Die Resettlement-Programme zeigen, | |
dass kein EU-Mitglied auf andere warten muss, um zu handeln. Bislang liegt | |
die Entscheidung darüber, wer daran teilnehmen darf, beim UNHCR. In Zukunft | |
soll Resettlement jedoch zu einem Mittel der EU-Außenpolitik werden. | |
Theoretisch könnten über die Resettlement-Quoten auch Menschen einreisen, | |
die ohnehin Anspruch auf Asyl in der EU hätten, etwa im Rahmen der | |
Familienzusammenführung. Bisher können allerdings nur Ehepartner, | |
minderjährige Kinder oder die Eltern eines minderjährigen Flüchtlings – | |
nicht aber erwachsene Geschwister, Töchter und Söhne oder Großeltern – ein | |
Visum zum Familiennachzug beantragen. Da viele Asylsuchende auch aus Syrien | |
derzeit nur subsidiären Schutz erhalten, dürfen nach einer Sonderregelung | |
der Bundesregierung eigentlich keine Verwandten nachziehen. | |
Damit werden Familien auseinandergerissen, aber auch anerkannte | |
Migrationstheorien ignoriert. Netzwerktheorien gehen davon aus, dass | |
Familien eine zentrale Rolle beim Entschluss spielen, ein Land zu | |
verlassen, um woanders Schutz oder Arbeit zu finden. Auch die Entscheidung | |
für ein bestimmtes Zielland geht nicht allein auf die viel diskutierten | |
[2][„Push“- und „Pull“-Faktoren [2]] zurück. | |
Die Schweiz zeigte 2013, wie ein progressives Familiennachzugsmodell | |
aussehen kann: Sie ermöglichte es in der Schweiz lebenden Syrern zumindest | |
für einige Monate, auch Verwandte außerhalb der Kernfamilie (Großeltern, | |
Enkel oder Geschwister) aus dem Krisengebiet herauszuholen. Außerdem wurde | |
die Bürokratieschwelle gesenkt: Wenn jemand aus Kriegsgründen keine | |
Urkunden nachweisen konnte, reichte eine „glaubhafte Versicherung“ der | |
Verwandtschaft. 3749 Visa wurden auf diesem Weg ausgestellt. Das Programm | |
wurde allerdings schnell wieder eingestellt – aus Angst vor zu vielen neuen | |
Asylbewerbern. Auch in anderen Ländern stehen Notprogramme vor dem Aus. | |
Solange legale Fluchtwege fehlen, bleibt der Fokus auf der Notrettung, | |
zumal auf dem Mittelmeer. Anstatt dort zu helfen, geht die EU aber auf | |
Konfrontationskurs zur Zivilgesellschaft. Seit August 2017 bedroht die | |
EU-finanzierte libysche Küstenwache Helfer im Mittelmeer. Das Schiff von | |
Jugend Rettet wurde sogar von italienischen Strafbehörden festgesetzt. Die | |
zivilen Seenotretter ankern dicht gedrängt an den Kais der maltesischen | |
Hauptstadt Valetta: das Rettungsschiff der Migrant Offshore Aid Station, | |
ein paar hundert Meter weiter die „Seefuchs“ der Organisation Sea-Eye, kurz | |
dahinter die „Sea Watch 2“. | |
Die Nichtregierungsorganisationen haben in den vergangenen Jahren nicht nur | |
tausende Menschen vor dem Ertrinken bewahrt, sondern auch die | |
Öffentlichkeit wachgerüttelt und auf das Versagen der EU aufmerksam | |
gemacht. „Wir wollten zeigen, dass man auch mit wenigen Ressourcen das | |
Sterben stoppen kann“, sagt Pauline Schmidt von Jugend Rettet. „Wir haben | |
bewiesen, dass auch ein paar unerfahrene Jugendliche eine solche Mission | |
auf die Beine stellen können.“ | |
Statt ihnen für ihren Einsatz zu danken, erklärte die EU-Grenzschutzagentur | |
Frontex – unterstützt vom deutschen Innenminister – die NGOs zum | |
Sicherheitsrisiko, das Migranten anlocke. Inzwischen macht die EU in | |
Kooperation mit libyschen Milizen den Fluchtkorridor im Mittelmeer dicht. | |
Während die EU die zivilen Retter im Stich lässt, investiert sie in die | |
Aufrüstung der Grenze. So vergab Frontex zwischen 2012 und 2015 Aufträge | |
für die Grenzsicherung in Höhe von 29,2 Millionen Euro an private | |
Unternehmen. Und auch Staatsunternehmen wie die Bundesdruckerei verdienen | |
an den Flüchtlingen. Der Konzern mit Sitz in Bonn hat jüngst von Marokko | |
einen Auftrag zur Entwicklung und Umsetzung eines „nationalen | |
Grenzkontrollsystems“ erhalten. Im Gegenzug erklärt sich Marokko damit | |
einverstanden, dass die biometrischen Daten von den neuen Hightechgrenzen | |
mit Informationen über abgeschobene Flüchtlinge abgeglichen werden. | |
## Den größten Nutzen hat die Sicherheitsindustrie | |
Das steht in Einklang mit der Politik der EU-Kommission. Deren | |
Generaldirektion für Migration und Inneres, die auch für Asyl zuständig | |
ist, verfolgt das ausdrückliche Ziel, die Sicherheitsindustrie zu fördern. | |
Auf ihrer Website erklärt das Haus von EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos, | |
man wolle unter anderem durch Forschungsaufträge Maßnahmen ergreifen, „um | |
die marktführende Position der EU-Unternehmen in den kommenden Jahren zu | |
sichern“. Damit verliert die Asylpolitik ihre Autonomie, sie wird – wie | |
seit Bestehen der gemeinsamen europäischen Außengrenze erkennbar – fast | |
automatisch mit sicherheits- und wirtschaftspolitischen Aspekten vermengt. | |
Waren in den 1960er Jahren noch Arbeits- und Kultusminister für Migration | |
zuständig, übernahmen bis in die 1980er Jahre die Innenminister das | |
Themenfeld. Sie sorgten zusammen mit Bundeskanzler Helmut Kohl dafür, dass | |
der Vertrag von Maastricht 1993 eine effektive Zusammenarbeit der | |
EU-Staaten zur Migrationskontrolle vorsah. Mit den Dubliner Verordnungen | |
wurde in den darauffolgenden Jahren die Bearbeitung von Asylanträgen in | |
Europa fast ausschließlich auf die Grenzstaaten in Südeuropa abgewälzt. | |
Fortan wurden Migration, Terrorabwehr, Grenzschutz und Kampf gegen | |
organisierte Kriminalität in einem Atemzug genannt – und das politische | |
Asyl fiel dem Sicherheitsdenken zum Opfer. 1998 zog die österreichische | |
Ratspräsidentschaft eine Verbindung zwischen illegaler Immigration und | |
Asyl, um für das Fingerabdruckidentifizierungssystem Eurodac zu werben. So | |
hieß es in einem geleakten Regierungspapier: „In den vergangenen Jahren hat | |
der starke Anstieg der Zahlen illegaler Immigranten (und damit potenzieller | |
Asylbewerber) gezeigt, dass ihre Fingerabdrücke im System gespeichert | |
werden müssen.“ | |
Solange es kein Einwanderungsgesetz gibt, werden potenzielle | |
Arbeitsmigranten weiterhin versuchen, über ein Asylverfahren in die | |
EU-Länder zu gelangen. Bisher können nur Höchstqualifizierte ein | |
Arbeitsvisum für die EU erhalten. Doch die Agrarpolitik der EU, die | |
unterschiedlichen Probleme in den Herkunftsländern und die globale | |
Erderwärmung werden weiter dafür sorgen, dass vor allem auch weniger | |
qualifizierte Menschen in die EU einreisen wollen. | |
Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) hat den | |
EU-Staatschefs umfassende Vorschläge für temporäre Arbeitserlaubnisse | |
unterbreitet. Ein Modell könnten die Verträge für Saisonarbeiter aus | |
Lateinamerika sein, die regelmäßig zur Ernte nach Spanien einreisen, oder | |
die befristete Aufenthaltserlaubnis für Reisen zur medizinischen | |
Behandlung. Zahlreiche Hochschulen setzen sich dafür ein, dass mehr Visa | |
für Studierende und Wissenschaftler vergeben werden. | |
Nach den offiziellen Positionen der EU zu urteilen, müsste es möglich sein, | |
derartige Regelungen zu treffen. Schließlich will sie nach eigener Aussage | |
langfristig neue Regeln für legale Migration etablieren und eine auf | |
Solidarität ausgerichtete Asylpolitik aller Mitgliedstaaten schaffen. Doch | |
das sind wohl alles nur Lippenbekenntnisse, wie die Debatten über die | |
Dublin-Verordnung zeigen. Bei deren Weiterentwicklung geht es zuerst und | |
vor allem darum, möglichst wenige Menschen nach Europa einreisen zu lassen. | |
Einige europäische Linke setzen sich hingegen bereits für einen anderen | |
Ansatz ein. Im Februar 2017 mobilisierte Ada Colau, die Bürgermeisterin von | |
Barcelona, 160 000 Menschen, die unter dem Motto „Wir wollen sie willkommen | |
heißen“ für eine humanitäre Flüchtlingspolitik auf die Straße gingen. Die | |
Kundgebung endete am Strand von Barcelona vor der „Anzeige der Schande“, | |
einem Denkmal für die Menschen, die in den vergangenen Jahren im Mittelmeer | |
ertrunken sind. Eine Anzeigetafel zeigt die aktuelle Zahl der Flüchtlinge, | |
die seit Jahresbeginn beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, gestorben | |
sind, darunter steht: „Es ist nicht nur eine Zahl“. | |
Während in anderen Ländern fremdenfeindliche Parteien und Bewegungen | |
Stimmung gegen Zuwanderer machen, will Barcelona die Asyldebatte von | |
Sicherheitsfragen loslösen und einen Diskurs über Menschenrechte und | |
Solidarität anstoßen. Konzepte und Gesetzesinitiativen für Botschaftsasyle | |
und humanitäre Visa, geteilte Verantwortung, Resettlement-Programme, | |
erleichterte Arbeitsmigration und Bekämpfung von Fluchtursachen liegen seit | |
Jahren oder sogar Jahrzehnten vor. Sie müssten nur beschlossen und | |
umgesetzt werden. | |
## Fußnoten | |
[1] | |
Die Dublin-Verordnungen regeln die Zuständigkeit der EU-Mitgliedstaaten für | |
die Durchführung von Asylverfahren. Die Vorschläge der EU-Kommission zu | |
Dublin IV vom Mai 2016 halten am Prinzip fest, dass die Ersteinreisestaaten | |
zuständig sind, und sehen erstmalig sogar eine verstärkte Auslagerung in | |
Länder außerhalb der EU vor. | |
[2] | |
„Push“-Faktoren sind beispielsweise Hunger und Krieg im Herkunftsland, | |
„Pull“-Faktoren Aussicht auf Arbeit und Chancen auf Anerkennung von Asyl im | |
Zielland. Tatsächlich sind etablierte Migrationskorridore etwa zu früheren | |
Kolonien genauso mitentscheidend für eine Migration wie die wahrgenommenen | |
Migrationskulturen. | |
12 Oct 2017 | |
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Arne Semsrott | |
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