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# taz.de -- Antiimperialisten gegen Antideutsche: Linke Orte unter Druck
> Der Krieg zwischen Israel und der Hamas lässt alte Konflikte in der
> linken Szene wieder aufbrechen. Ein Dialog erscheint so gut wie
> unmöglich.
Bild: Die Rote Flora im Oktober 2023, nach dem Überfall der Hamas auf Israel
Auch so kann man mit dem Jahrestag des Überfalls der Hamas auf Israel
umgehen: „Diesen Oktober jährt sich der Tag, an dem unser Volk der Welt
gezeigt hat, dass der Widerstand lebt und die Befreiung naht.“ So
mobilisiert eine Gruppe namens Ahrar, die sich als „Hamburgs
Palästinensische Bewegung“ bezeichnet, zu einer Demo am 5. Oktober. Ahrar
setzt sich für eine „Einstaatenlösung“ im Nahen Osten ein – ohne einen
israelischen Staat. Der Account „Flora für alle“ schreibt unter den
Demoaufruf: „Wir kommen.“
„Flora für alle“ ist eine Kampagne, die dem seit 1989 besetzten autonomen
Zentrum eine antideutsche Vorherrschaft vorwirft und zum Ziel hat, die
Flora zu übernehmen. Aber warum? Und von wem überhaupt? Die Rote Flora
gehört immer denen, die sie mit Leben füllen. Aber was hat das mit dem
Nahostkonflikt zu tun?
Die Spaltung der linken Szene in auf pro Israel fokussierte antideutsche
und auf pro Palästina fokussierte antiimperialistische Gruppen begann
bundesweit Ende der 1980er Jahre und eskalierte an kaum an einem Ort so wie
in Hamburg. Die Auseinandersetzung hinterließ von Wandbildern an der
Hafenstraße über eine Schlägerei zwischen Redakteur*innen des linken
Radiosenders FSK bis zu einer von Antiimperialist*innen mit Gewalt
verhinderten Filmvorführung tiefe Gräben zwischen Linken.
Doch irgendwann liegt auch der letzte Grabenkampf so lange zurück, dass die
meisten heute Aktiven ihn unter „Opa erzählt vom Krieg“ verbuchen. Derweil
wurden andere Themen wichtiger und schufen Brücken zwischen den linken
Milieus: Queerfeminismus, Klimawandel und nicht zuletzt [1][der G20-Gipfel
in Hamburg sowie die Repression] traten in den Vordergrund. Die Frage „Wo
stehst du im Nahostkonflikt?“ wurde vom Haupt- zum Nebenwiderspruch.
Doch seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 und der darauffolgenden
vernichtenden Militäroffensive Israels in Gaza sind die Gräben wieder
präsent. Die Protagonist*innen des linksinternen Konflikts sind zwar
zum Teil ganz andere, zum Teil aber auch nicht. Letztere haben noch uralte
Rechnungen offen.
In Hamburg eskalierte die Neuauflage des Szenestreits am 14. Mai, als rund
50 Aktivist*innen aus dem Umfeld des Pro-Palästina-Camps an der
Hamburger Uni [2][symbolisch die Rote Flora besetzten]. Sie hängten
Transparente an den Balkon des Gebäudes, auf denen sie den Florist*innen
weiße Vorherrschaft und Rassismus vorwarfen, und skandierten „Free
Palestine“. Die Palästinaaktivist*innen drohten: „Das war erst der
Anfang, wir kommen wieder und werden dieses Haus übernehmen.“
Die Flora, die vielen als antideutsch gilt, sich selbst aber als
antiautoritär-autonom versteht, hatte kurz nach dem Massaker der Hamas am
7. Oktober eine Girlande mit den Worten „Free the world from Hamas“ über
ihren Balkon gespannt. Auf ihrer Plakatwand stand: „Killing Jews is not
fighting for freedom. Wir sind solidarisch mit allen Jüdinnen und Juden
weltweit.“ Palästinaaktivist*innen übermalten die Parole.
Die Flora verurteilte die symbolische Übernahme später als autoritär, das
Übermalen der Parole offenbare zudem ein antisemitisches Weltbild.
„Menschen, die diese Haltung vertreten, fühlen sich in der Roten Flora zu
Recht nicht willkommen“, hieß es in einem Statement. Darüber hinaus lasse
man sich keine Diskussionen von außen aufzwingen, sondern werde weiter
autonom politische Auseinandersetzungen führen. „Es gibt unter den die
Flora nutzenden Gruppen keine einheitliche Haltung zum Nahostkonflikt“,
sagt ein Flora-Aktivist gegenüber der taz. Öffentliche Statements einzelner
Gruppen zum Thema würden kontrovers, aber auf Augenhöhe diskutiert. Die
Drohungen von außen würden intern als nervig, aber nicht wirklich
bedrohlich wahrgenommen.
Doch der Nahostkonflikt und der aggressive Positionierungsdruck in Teilen
der Szene habe durchaus zu Brüchen geführt. So sei es derzeit etwa schwer
vorstellbar, gemeinsam mit antiimperialistischen Gruppen auf die Straße zu
gehen – obwohl es angesichts von Rechtsruck und Repression dringend geboten
wäre, sagt der Aktivist. Zum Teil hätten sich internationalistische Gruppen
aus Bündnissen verabschiedet, weil sie die Flora zu nah an der Seite
Israels wähnten. Aus Sicht der Autonomen sei das ungerechtfertigt und
politisch falsch. „Es gäbe momentan so viel Wichtigeres, als sich mit
identitären Grabenkämpfen auseinanderzusetzen“, sagt der Flora-Nutzer.
Doch die auf Palästina fokussierten Aktivist*innen von Ahrar und der
Gruppe Thawra, die das [3][Palästina-Camp an der Uni Hamburg]
veranstaltete, schießen weiter mit scharfen Worten gegen das Kulturzentrum.
Nichts an dem Zentrum sei mehr links, kritisierte die ehemalige
Fridays-for-Future-Aktivistin und jetzige Thawra-Sprecherin Elisa Baş auf
einer Demo. Rot sei nur das Blut an den Händen der Nutzer*innen, die
staatstragend den Mord an der palästinensischen Zivilbevölkerung
unterstützten. Auf einer Hanau-Gedenkdemo im Februar war Thawra mit einem
„Flora, halt’s Maul“-Transparent erschienen, ebenso am 1. Mai. Die
Stimmungsmache ruft auch andere auf den Plan. Hinter dem
Instagram-Account „Flora für alle“ steckt nach taz-Recherchen ein kleiner
Personenkreis, der 2007 wegen Täterschutzvorwürfen aus der Flora und dem
linken Infoladen Schwarzmarkt rausgeflogen war.
Der Umgang mit dem Beschuldigten einer mutmaßlichen Vergewaltigung im Jahr
1997 war damals in Szenepublikationen und auf Plenen diskutiert worden.
Die antiimperialistisch ausgerichtete Gruppe Tierrechtsaktion Nord war in
den folgenden Jahren – so erzählt man es heute in der Szene – aggressiv
gegen das Umfeld der mutmaßlich betroffenen Frau vorgegangen. Der Konflikt,
zu dem auch linke Kneipen, Plattenläden und andere Treffpunkte Stellung
bezogen, hinterließ Wunden, die offenbar immer noch nicht verheilt sind.
Auf dem Schanzenfest am 7. September trat „Flora für alle“ erstmals
öffentlich mit einem Stand in Erscheinung und warb für die Übernahme des
autonomen Zentrums. Ältere Aktivist*innen erkannten unter den dort
Anwesenden die Protagonist*innen der Tierrechtsaktion Nord. Auf
Instagram hetzt „Flora für alle“ nicht nur gegen die Flora, sondern auch
gegen das Leipziger Conne Island und das Berliner About Blank.
## Berlin: rote Dreiecke, auf die Spitze gestellt
Berlin hat kein Zentrum, das mit einer Institution wie der Roten Flora in
Hamburg zu vergleichen wäre. Doch auch hier schlägt sich der Nahostkonflikt
in der linken Szene nieder – täglich und heftig. Ein Grund dafür ist, dass
in Berlin die europaweit größte Diaspora von Menschen mit
palästinensischem Hintergrund lebt. Geschätzt sollen es zwischen 35.000 und
45.000 Menschen sein. Das hat historische Gründe: Viele reisten in den
1970er Jahren aus dem Libanon über die DDR ein. Und: Berlin hat eine große
international geprägte, sich als links und queer verstehende Community, die
sich teils deutlich antiimperialistisch verortet.
Sichtbar ist der Nahostkonflikt etwa im Straßenbild: Mehr als 650
Demonstrationen mit „Bezug zur Situation in Israel und Gaza“ gab es in
Berlin laut Innenverwaltung seit dem 7. Oktober 2023. Rund 320 davon
ordnete die Polizei als „propalästinensisch“ ein, 170 als „proisraelisch…
weitere knapp 160 seien „nicht zuzuordnen“. Die Demonstrationen finden
weiterhin im Prinzip wöchentlich durchaus mit größerem Zulauf statt.
Demonstrant*innen prangern [4][Repressionen und Polizeigewalt] an.
Immer wieder meldet die Polizei, dass Teilnehmer*innen dort Terror
verherrlichten.
An viele Berliner Häuserwände sind palästinensische Fahnen gesprayt oder
Slogans wie „Free Gaza“, teils ergänzt mit „from Hamas“, oder auch „…
Palestine from German bombs“. Der Slogan „Free Palestine from German guilt�…
(„Befreit Palästina von der deutschen Schuld“) [5][löste im vergangenen
Oktober noch öffentliche Empörung] aus, inzwischen ist er ein häufiges
Graffito. Teils haben andere diese Slogans übermalt, neu kommentiert oder
unkenntlich gemacht.
Was auch vermehrt an Häuserwänden in der Hauptstadt auftaucht: das [6][auf
der Spitze stehende rote Dreieck], also das Zeichen, mit dem die Hamas in
Videos ihre Feinde markiert. Im April sprayten Unbekannte es an die
[7][Fassade des Clubs About Blank] in Berlin-Friedrichshain. Die
Betreiber*innen ergänzten das Dreieck kurzerhand zu einem roten Herzen
und äußerten sich zunächst nicht dazu. An Wänden in Neukölln tauchten erst
die Dreiecke auf, dann ergänzte sie jemand mit einem weiteren Dreieck zum
Davidstern und schrieb „Fuck Zionists“ daneben.
Doch obwohl der Konflikt allgegenwärtig zu sein scheint: Die
Demonstrationen haben es bisher nicht geschafft, übergreifend zu
mobilisieren, sie sind keine Orte, an denen das Leid und die Anliegen der
Palästinenser*innen wie auch das Leid und die Anliegen der Israelis
verhandelt würden. Räume, in denen ein Austausch stattfinden könnte, werden
rar und enger. Menschen, die als Jüdinnen und Juden oder Israelis zu
erkennen sind und sich nicht eindeutig als „antizionistisch“ positionieren,
werden angefeindet und ausgeschlossen. Und auch antimuslimischer Rassismus
nimmt zu.
Konkreten Angriffen ausgesetzt ist etwa die Kneipe Bajszel in Neukölln.
Dort lädt man regelmäßig zu antisemitismuskritischen Veranstaltungen ein.
Mehrmals wurde die Fassade mit dem roten Dreieck markiert, im September
dann auch zusammen mit dem Schriftzug „Glory to Al Quassam“ – ein Feiern
der Hamas-Brigaden, die das Massaker am 7. Oktober ausgeführt hatten.
In derselben Nacht, in der die Polizei die Schmierereien festgestellt
hatte, bemerkte ein Feuerwehrmann einen brennenden Papierkorb an der
Fassade, den er mit einem Eimer Wasser löschte. Die Rußspuren sind
deutlich an der Wand und am Fensterrahmen zu sehen; das Bajszel teilt mit,
dass sich zu dem Zeitpunkt noch ein Mitarbeiter in der Kneipe befunden
habe. Der Staatsschutz ermittelt nun zur Frage, ob ein Zusammenhang
zwischen Brand und Farbattacke besteht. Die Betreiber selbst sprechen von
einem „Mordversuch“.
Im Juli zierten rote, auf der Spitze stehende Dreiecke den Instagram-Post,
mit dem der Dyke* March zu einer Soliveranstaltung in der queeren
Kreuzberger Szenekneipe Möbel Olfe mobilisierte. Besucher*innen
verteilten an dem Abend nach eigenen Angaben auf ihrem Tisch Zettel mit dem
Hinweis, dass dies ein sicherer Platz für Jüdinnen und Juden und Israelis
sein solle („Safe table for Jews and Israelis“), daneben auch
Regenbogenflaggen und einen Davidstern. Eine Beteiligte berichtete, wie sie
daraufhin eingekesselt und als „Zionistenschweine“ beschimpft worden seien.
Man forderte sie auf zu gehen, draußen habe „ein Mob gewartet“. Die
Veranstalter hatten offenbar kein Konzept, um die Szene zu befrieden oder
zu vermitteln, denn sie forderten die Besucher*innen des Tischs auf zu
gehen. Und sie [8][brachen den gesamten Soliabend vorzeitig] ab.
Das About Blank wandte sich [9][Ende September mit einem Statement] an die
Öffentlichkeit: Seit Monaten sähen sie sich Angriffen ausgesetzt, mit
Schmierereien, Fäkalien und Buttersäure hätten Unbekannte ihren Laden
physisch attackiert, außerdem in den sozialen Medien gegen sie gehetzt. Für
Veranstaltungen, die sich kritisch mit Antisemitismus auseinandersetzten,
bräuchte es erhöhte Sicherheitsbedingungen. Der Vorwurf: Der Club würde
sich im Israel-Palästina-Konflikt vermeintlich falsch positionieren. Das
About Blank lande seit Jahren auf Feindes- und Boykottlisten etwa [10][der
antiisraelischen Kampagne „DJs Against Apartheid“].
Mitarbeiter*innen und Besucher*innen würden bedroht und
beschimpft, unter Druck gesetzt und angefeindet. „In der Erkenntnis, dass
dieser Konflikt und seine Geschichte zu komplex sind, um eindeutig und
plakativ Partei zu ergreifen, haben wir es stets auch unterlassen, Israel
einseitig zu verurteilen“, schreibt das About-Blank-Kollektiv in dem
Statement. Sie würden deshalb als „proisraelisch“ oder als „zionistisch�…
gelabelt, ihnen würde eine Nähe zur Netanjahu-Regierung unterstellt. „Diese
Zuschreibungen sind falsch und entbehren jeglicher Grundlage“, schreibt das
Kollektiv. Auch innerhalb ihrer Gruppe herrsche keine einheitliche Haltung
zum Konflikt vor. Sie weisen darauf hin, dass der Ort Club- und
subkulturelle Szenen zusammenbringen wollte.
Doch der Druck wachse – und sie sehen ihn konkret gegen ihr Konzept
gerichtet. „Vielfach scheint eine gleichzeitige Zurückweisung und
Bekämpfung von antisemitischen und rassistischen Positionen undenkbar zu
werden – obwohl gerade das Kernbestandteil linker Politik sein müsste“,
schreibt das Kollektiv. „Handlungsfähige Linke und zivilgesellschaftliche
Bündnisse“ bräuchten Auseinandersetzungen und Diskussionen – und dazu eben
auch die entsprechenden Orte. Das Kollektiv lädt in seinem Statement dazu
ein, gemeinsam „nach Wegen aus der derzeitigen Dürftigkeit“ zu suchen.
Denn die Unversöhnlichkeit, die sich da inzwischen verfestigt, hat bereits
konkrete Auswirkungen. Jüdinnen, Juden und Israelis werden vielfach direkt
für die Politik und den Krieg der israelischen Regierung verantwortlich
gemacht. Dass sie sich an bestimmten Orten und in bestimmten Situationen
dann bedroht oder unwohl fühlen, wird abgetan, die Ansicht scheint
verbreitet, dass sie das „mal aushalten“ müssten. Wohnungssuchende stoßen
in Berlin inzwischen häufiger auf Angebote mit dem Zusatz „No Zionists“.
So agiert eine angebliche Linke, die die zersetzenden Wirkungsweisen von
Rassismus gut verstanden hat, die es allerdings bisher nicht schafft, sich
auch mit den Verheerungen und Konsequenzen von Antisemitismus
auseinanderzusetzen.
## Leipzig: Kufijaverbote und fliegende Steine
In Leipzig ist die antideutsche Szene noch stärker als in anderen
Großstädten Deutschlands. Gehört im linken Milieu Berlins ein
antiimperialistischer Gestus irgendwie dazu, geht die Tendenz in Leipzig in
die andere Richtung. An den Häuserwänden im Stadtteil Connewitz prangen
kaum propalästinensische Schriftzüge. Kufija zu tragen gilt hier nicht als
chic – sondern wird eher misstrauisch beäugt.
Auch in Leipzig sah es lange so aus, als würde sich der alte Streit über
Antiimperialisti*innen und Antideutsche beruhigen. Doch nun sei er
wieder voll da, sagt Jule Nagel, Linke-Politikerin aus Connewitz, der taz.
„Seit etwa drei Jahren gibt es ein Wiedererstarken autoritärer
kommunistischer Gruppen, die das Thema stärker in den Fokus rücken“, sagt
sie. Der 7. Oktober habe das nur noch beschleunigt.
Wie in anderen Städten versuchen Palästinaaktivist*innen seither,
der Szene eine Komplizenschaft mit israelischen Kriegsverbrechern
anzukreiden – und Antideutsche versuchen, die hinter jeder Israelkritik
vermuteten antisemitischen Motive zu entlarven. Der Gegenseite
zugeschriebene Veranstaltungen werden gestört, ihre Hausprojekte mit
Parolen beschmiert. Laut dem Hausprojekt B12, das sich als
israelsolidarisch beschreibt, [11][tauchten dort kürzlich Briefe mit
Propagandamaterial auf, addressiert an Klarnamen von Bewohner:innen] –
was das Hausprojekt als Feindmarkierung wertet.
Auf der anderen Seite flogen im Oktober 2023 Steine auf die Fensterscheiben
des Ladenprojekts Ganze Bäckerei im migrantisch geprägten Hausprojekt La
Casa, wo viele antiimperialistische Gruppen Plenen abhalten. Im Inneren
wurde ein Behälter gefunden, [12][der vermutlich Schweinefett enthält] –
klar eine islamfeindliche Message. Auf Indymedia tauchte ein inzwischen
wieder gelöschtes Bekennerschreiben einer sich Antifa nennenden Gruppe auf.
Ob das Schreiben authentisch ist, lässt sich nicht sagen.
Völlig unrealistisch ist es aber leider wohl nicht. Es wäre nicht der erste
islamfeindliche Ausrutscher der Szene. Bereits 2021 wurde aus einer
polizeifeindlichen Demo heraus eine Moschee des Erdoğan-nahen
Moscheedachverband Ditib mit Steinen beworfen. Was wohl als mit Kurdistan
solidarische Islamismuskritik gedacht war, löste eine Debatte darüber aus,
wie wenig Teile der Szene offenbar für antimuslimischen Rassismus
sensibilisiert sind.
Auch Jule Nagel sagt: „Wir haben das Problem, dass sich linke
Aktivist:innen mit Flucht- oder Migrationshintergrund in linken Räumen
manchmal nicht zugehörig fühlen.“ Ihre Beobachtung: Aus dem
antiimperialistischen Spektrum seien es überwiegend weiße Menschen, die
die Debatte vergifteten – und auf der anderen Seite gebe es in Teilen der
antideutschen Szene ein Problem mit islamfeindlichen Tendenzen.
Samira Sonnenschein hat diese bereits erleben müssen. Die Aktivistin, die
ihren echten Namen nicht in der Zeitung lesen will, ist Mitglied von
Palestine Campus, einer Gruppe, die im Frühling die Uni Leipzig besetzt
hat. Sonnenschein sagt, sie habe sich lange nicht getraut, in Connewitz mit
Kufija herumzulaufen. „Ich hatte Angst, verprügelt zu werden“, sagt sie. Es
sei schon passiert, dass Leuten das Tuch auf der Straße vom Kopf gerissen
wurde.
Ihr selbst sei einmal der Einlass zu einer Szeneveranstaltung verwehrt
worden, bis sie die Kufija abgenommen habe. „Leute wie dich wollen wir
nicht haben, verpiss dich“, habe man ihr gesagt. Inzwischen trage sie die
Kufija offen – trotz böser Blicke und Kommentare. In Szeneorte wie das
Conne Island gehe sie aber nicht. „Ich fühle mich an diesen Orten einfach
unwohl, weil ich dort sehr stark meinen Migrationshintergrund spüre“, sagt
sie.
Zweifellos ist das Conne Island ein wichtiger Sozialisierungsort für linke
Menschen, die aus dem braun geprägten sächsischen Umland nach Leipzig
fliehen. Doch es sind eben auch solche Erfahrungen, derentwegen
Palästinaaktivist*innen zum Boykott des Conne Islands aufrufen. Und das
offenbar nicht ohne Erfolg: Das Kulturzentrum [13][vermeldete kürzlich],
der Boykott habe zu zahlreichen Künstler*innenabsagen geführt, sodass
man inzwischen „nicht nur in finanzielle Schwierigkeiten“ geraten sei.
Die Vorwürfe des Rassismus wehrt das Zentrum ab. Minimalkonsens sei
lediglich die Anerkennung des Existenzrechts Israels, ansonsten wolle man
Ort für Diskussionen sein. Praktisch scheitert der Meinungsaustausch aber
schon an der Tür, wenn Menschen Kufija tragen. Wie auch andere Szeneorte
verbietet das Conne Island die „Pali-Tücher“, weil das Tuch für Jüd:innen
mit „Ausgrenzung, Gewalt und Diskriminierung“ verbunden sei. Nur so könne
das Conne Island ein Safe Space für jüdische Menschen sein.
Samira Sonnenschein entgegnet: „Die Kufija ist ein kulturelles Symbol des
Widerstands gegen die israelische Besatzung – aber doch nicht gegen das
jüdische Volk.“ Sie verstehe nicht, warum die Gefühle zweier
stigmatisierter Gruppen gegeneinander ausgespielt werden.
Im Oktober vergangenen Jahres hat der Technoclub Institut für Zukunft
(IfZ), der ebenfalls aus der antideutschen Szene stammt und sich als
Schwesterprojekt des Berliner About Blank sieht, das auch dort jahrelang
gültige Verbot gekippt. Die Kufija werde „auch von Menschen mit
antisemitischer Agenda getragen, aber Kufija tragende Menschen sind nicht
per se antisemitisch“, heißt es [14][in einem Statement]. Eine
undifferenzierte Türpolitik sei da fehl am Platz. Der Club entschuldigt
sich schließlich, spricht davon, „ganze Personenkreise ausgeschlossen und
pauschal politisch verurteilt“ zu haben.
Zu einem neuen Ort des Austauschs wird aber auch das IfZ nicht werden. Der
Club muss Ende des Jahres seine Pforten schließen, vorrangig aus
finanziellen Gründen, nicht wegen eines Boykotts. Sonnenschein sagt, sie
würde auch trotz Kufija-Erlaubnis nicht wieder anfangen, ins IfZ zu gehen.
„Allein dass es dieses Verbot einmal gab, heißt ja, dass es nie ein Safe
Space für Palästinenser:innen sein sollte“, sagt sie. Auch sie sei
für eine geeinte Linke gegen den Faschismus. Doch an ihrem
Sich-unwohl-Fühlen ändere das nichts. „Wenn diese Orte verschwinden, weil
auch viele andere sich dort nicht wohlfühlen – dann freue ich mich
trotzdem.“
6 Oct 2024
## LINKS
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[8] /Queere-Szene-und-Nahost/!6019494
[9] https://aboutblank.li/statement2024/
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[11] https://www.instagram.com/p/C-GM_V3s-m1/?hl=de&img_index=3
[12] https://www.instagram.com/p/CyyjtdGs_gF/?img_index=1
[13] https://conne-island.de/news/285.html
[14] https://www.instagram.com/institutfuerzukunft/p/C3aTp0EMgFx/?img_index=2
## AUTOREN
Katharina Schipkowski
Uta Schleiermacher
Timm Kühn
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